„Ich bin Koch und kein Arzt“, hat Paul Bocuse einmal auf die Frage gesagt, was er denn von Diäten hält. Mit seiner „Diät“ ist er nun 91 Jahre alt geworden und bis zu seinem Tod ein nie schwächelndes Monument der französischen Küche geblieben. Ob er „Jahrhundertkoch“ oder der „beste Koch der Welt“ war, ist eigentlich nicht das Thema. Manche Begriffe werden eben immer wieder auch von Leuten verwendet, die nicht viel über ihn wissen und sich die Fakten im Internet zusammensuchen. Seine deutsche Wikipedia-Seite jedenfalls ist angesichts seiner Bedeutung eher karg und insgesamt nicht besonders erhellend.
Ich habe ihn mehrfach in verschiedenen Zusammenhängen getroffen und unterschiedliche Erinnerungen. Der letzte Versuch, mit ihm ein Interview zu führen, liegt schon ein paar Jahre zurück und war nicht besonders ersprießlich. Nach Tausenden von Interviews schien Bocuse seine Formeln von den guten, marktfrischen Produkten und der saisonalen Küche nur noch abzuspulen. Er war – um es einmal asiatisch zu sehen – nicht nur eine Legende, sondern schon fast so etwas wie ein lebender Gott. In Deutschland haben sehr viele Köche ein Bild mit Eckart Witzigmann an der Wand. In Frankreich haben vermutlich fast alle Franzosen ein Foto mit Paul Bocuse in der Küche oder im Wohnzimmer. Hier zuerst einmal zwei Impressionen aus seinen letzten Jahren.
Bocuse und die Kochwelt
Paul Bocuse war eine Identifikationsfigur von unglaublichen Ausmaßen, mehr als ein Popstar, es sei denn, man hätte einen Popstar, der nicht nur seine eigene Musik repräsentiert, sondern gleich die ganze Musik. Ich war vor Jahren in Paris bei der Feiern zu 100 Jahren Guide Michelin und konnte einen hochinteressanten Blick auf Funktion und Wichtigkeit internationaler Kochgrößen werfen. Es wimmelte von Spitzenköchen aus aller Welt, Ex-Michelin-Chefs, ausgewählten Fachjournalisten und ein paar sonstigen Prominenten, für die sich hier aber kaum jemand interessierte. Alain Ducasse kam während der Veranstaltung mit seiner Entourage kurz vorbeigerauscht, Joel Robuchon gab Interviews zur Größe und Bedeutung des Guide Michelin und der französischen Küche insgesamt. An einer Stelle aber konzentrierte sich alles. Es war der Platz, wie in gleißendem Scheinwerferlicht Paul Bocuse in einem Sessel saß und ununterbrochen zusammen mit immer wieder neuen Leuten fotografiert wurde. Ihn eine „lebende Legende“ zu nennen, ist eben glatt untertrieben.
Bocuse und ein klein wenig Einfluss
Es war ein Mittag in Saint-Bonnet-Le-Froid bei Régis Marcon. Das Restaurant war nicht besonders voll, und trotzdem hatten wir den Eindruck, als ob hier irgendetwas nicht so richtig konzentriert ablaufe. Das Menü nahm seinen Gang, und irgendwann musste ich auch einmal zur Toilette. Es ging in einen eher dunklen Gang und da stand er plötzlich: Paul Bocuse, just prächtig beleuchtet unter dem Schein einer der Lampen. „Ah, Monsieur Bocuse, schön Sie hier zu treffen, Sie erinnern sich vielleicht, Jürgen Dollase, Frankfurter Allgemeine Zeitung.“ Natürlich erinnerte er sich nicht, sagte aber – genau so natürlich – das Gegenteil. Es gab ein paar Worte, aber auch Bocuse wirkte nicht so richtig konzentriert und ging bald weiter. Auf dem Rückweg von der Toilette konnte ich einen Blick in einen Nebenraum werfen und sah eine kleine Runde um einen großen Tisch. Bocuse, weitere Drei Sterne-Köche, den aktuellen Michelin-Chef und einen ehemaligen Michelin-Chef, dazu ein aufgeregter Régis Marcon, der gerade ein serviertes Gericht erläuterte. Der Sinn der Veranstaltung wurde mir wenig später klar. In der nächsten Ausgabe des Guide Michelin bekam Marcon seinen dritten Stern.
Bocuse und die Schnittstelle
Die kulinarischen Qualitäten von Paul Bocuse haben weniger etwas mit einem bestimmten Gericht als mit einem bestimmten Geschmacksbild zu tun. Dass immer wieder seine Trüffelsuppe genannt wird, ist eine Frage der medialen Verkürzung der Wahrnehmung seiner Arbeit. Bocuse hat nicht besonders viel Gerichte erfunden. Selbst die berühmte, immer wieder genannte Trüffelsuppe besitzt eine große Ähnlichkeit mit der „Truffe Souvaroff“ von Paul Haeberlin, die dieser schon deutlich früher im Programm hatte – ganz zu schweigen von den diversen Varianten der getrüffelten Bressepoularde mit oder ohne Morcheln, mit und ohne Schweinsblase, die natürlich auf seine Lehrerin, die Mère Brazier zurückgehen. Bocuse stand an einer ganz wichtigen Schnittstelle zwischen Tradition und Moderne. Er war derjenige, der wie kein zweiter Koch die traditionsverbundene französische Hochküche durch die Zeiten transportiert hat und für Klarheit und geschmackliche Präzision sorgte, als sie zu sehr in Richtung von großen Schautellern und unendlich viel Bastelei abdriftete. Dass er mit seiner Rückbesinnung zur Marktküche und klaren Produkten gleichzeitig auch den Ideen der entstehenden Nouvelle Cuisine Unterstützung gab, sollte nicht missverstanden werden. Er selber hat sich immer wieder von der Zuordnung zur Nouvelle Cuisine distanziert und wurde in der folgenden Zeit mehr und mehr das Gewissen einer Art purifizierten französischen Küchentradition.
Der Bocuse-Geschmack
Man sollte in den Unmengen von Rezepten, die unter dem Namen „Bocuse“ auf den Markt gekommen sind, immer nach denjenigen suchen, die klare traditionelle Wurzeln haben. Sie sind es, die überdauern werden und sie sind es, die überdauern müssen. Jeder Koch der Welt, der irgendwie auf sich hält und sein Metier kennen will, sollte sich diese enorm ausgereiften, sensationell süffigen und von einem riesigen Publikum akzeptierten Geschmacksbilder einprägen und aus ihnen lernen. Seine Hummersuppe mag ein Ausbund an Sahnigkeit und Schwere sein: Wer sie isst, versteht sofort, was all die anderen Restaurants, die auch so etwas Ähnliches wie eine klassische Hummersuppe anbieten, falsch machen. Er versteht sofort, dass es ein Unterschied ist, ob man ein Rezept realisiert, oder ob man ein Geschmacksbild in allen Nuancen wirklich verstanden hat. Dieser Effekt ergibt sich bei allen seinen klassisch fundierten Rezepturen, und er kann sich in vielen Rezepturen auch dort entfalten, wo nicht Berge von Trüffeln oder Foie gras beteiligt sind. In der kulinarischen Welt haben sich in den letzten Jahrzehnten unterschiedliche Strömungen entwickelt, darunter auch solche, die mit der jahrhundertelang vor allem in Europa dominanten französischen Küchentradition wenig zu tun haben. Dieser Lauf der Dinge war und ist nicht aufzuhalten. Aber es gilt unbedingt, dass das Verständnis für eine so hoch entwickelte Küche erhalten werden muss. Von ihr und von Paul Bocuse ist immer zu lernen, kulinarisch und nicht zuletzt auch gastronomisch. Das als Weltkulturerbe klassifizierte französische Menü ist in allen Ausprägungen, ob leicht oder schwer, ob mit oder ohne sahnig-buttrige Schwere immer auch ein Synonym für sein nun wahrlich nicht asketische Küchenverständnis.
Aufforderung zum Kopieren
Und deshalb möchte ich alle Köche auffordern, einmal darüber nachzudenken, ob sie nicht zu Ehren von Paul Bocuse ein oder mehrere Gerichte als Hommage in ihr Programm aufnehmen können. Wer es sich zutraut, mag ihn kopieren, aber es ist natürlich auch denkbar, bestimmte Techniken oder Akkorde zu interpretieren. Die Schweinsblase zum Beispiel sähe auch heute noch ziemlich abgefahren aus…
Lieber Herr Richtsfeld,
Eines scheint mir sicher zu sein: Sie werden die gleiche Qualität bekommen, wie dies in den letzten Jahren der Fall war. Falls Sie sich noch nicht dort auskennen und sich vorbereiten wollen: verzichten Sie bei einem Mittagessen auf ein kräftiges Abendessen am Tag zuvor und trinken Sie zum Frühstück nur einen Kaffee mit einem einzelnen Bissen Croissant. Im Falle eines Abendessens sollte man auf jegliches Mittagessen verzichten. Nur so…Sie werden sehen, daß es Ihnen dann viel besser ergeht.
Vielen Dank, lieber Herr Dolasse, für diesen interessanten, lehrreichen und trotzdem sensibel geschriebenen Nachruf.
Ich bin mit meinem Sohn im März in Lyon in der L’Auberge du Pont de Collonges und freue mich natürlich sehr – einerseits.
Dass dieser Restaurantbesuch mit einem Besuch im Friedhof gekoppelt wird – ich habe einen Kloß im Hals.