Am 23. April verstarb der niederländische Drei Sterne-Koch Jonnie Boer (geb. 9.1.1965) wohl für alle völlig unerwartet an einer Lungenembolie auf der Karibik-Insel Bonaire, eine der „Besonderen Gemeinden“ der Niederlande. Boer hinterlässt seine Frau Thérèse und die Kinder Jimmie (24) und Isabelle (21), denen er erst zu Beginn des Jahres zusammen mit seinem Küchenchef die Verantwortung über Hotel und Restaurant „De Librije“ in Zwolle übergeben hatte. Mit Boer verliert die niederländische und europäische Spitzenküche eine ihrer markantesten Persönlichkeiten – und das nicht nur in kulinarischer Hinsicht. Sein Tod verursacht bei Kollegen und Freunden und nicht nur in der Welt der Gastronomie Fassungslosigkeit. – Boer begann in „De Librije“, einer umgebauten alten Bibliothek unter Eigentümer Ed Meijers im Jahr 1986. 1989 wurde er dort Küchenchef. 1990 kam seine spätere Ehefrau Thérèse als Gastgeberein und Sommelière dazu. 1993 übernahmen die beiden das Restaurant, das 1992 den ersten, 1999 den zweiten und 2004 den dritten Michelin-Stern bekam. Im Jahr 2008 wechselten die Beiden in die Räumlichkeiten eines unweit der alten „Librije“ gelegenen ehemaligen Frauengefängnisses und bauten es zu einem sehr individuell gestalteten Hotel und dem neuen Gourmetrestaurant „De Librije“ um. Im Laufe der Jahre gab es weitere gastronomische Aktivitäten in Zwolle, Amsterdam und eben auch auf Bonaire.
Ich kenne Jonnie Boer seit mehr als 20 Jahren und konnte im Laufe der Jahre eine ganze Reihe von größeren Features u.a. in der FAZ, der FAS und Port Culinaire über ihn und seine Küche schreiben. Im Jahre 2015 war Jonnie Boer mein „Koch des Jahres international“ bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und kochte bei der FAS-Gala im Januar 2016 zusammen mit u.a. Joachim Wissler, Tim Raue, Andre Köthe und Sebastian Frank (siehe das Bild). Einen besonderen Schub bekam die Verbindung nach Deutschland auch über Carola und Thomas Ruhl und den „Chefsache“ – Kongress, bei dem Thérèse und Jonnie Boer mehrfach auftraten. Das Format wurde dann als „Chefs Evolution“ auch erfolgreich nach Zwolle exportiert.
Ich möchte meinen Nachruf in verschiedenen Bildern schreiben.
Jonnie Boer, fotografiert von Thomas Ruhl für Port Culinaire
Jonnie und Thérèse
Als meine Frau und ich die Meldung bekamen, war einer der erste Gedanken: „Mein Gott, was macht denn jetzt Thérèse“. Jonnie Boer und Thérèse waren nicht einfach nur ein Paar und schon gar nicht eines der Art, die im Laufe ihres Lebens zwar noch zusammenarbeiten, aber ansonsten ihre eigenen Wege gehen. Jonnie und Thérèse waren eine Symbiose, sie war Eins, sie waren der gleiche Schlag von Mensch mit den gleichen Vorlieben, der gleichen Sicht auf die Welt und den gleichen Ergebnisse bei ihrer Arbeit. Und das, was sie gemeinsam repräsentierten und präsentierten, war so, dass es doch eine ganze Reihe von Leuten – sagen wir: irritieren konnte. Sie waren eine Mischung aus Barock, Punk und Rock’n’Roll, immer auch mit einem Hauch von Nähe zu dem Teil von Gesellschaft, wo sich Künstlerisches und sehr Individuelles findet, wo es nicht ganz so zugeht, wie bei vielen ihrer Kollegen, die sehr häufig vor allem von ihrer Arbeit geprägt waren und sind und für Anderes kaum Zeit haben. Das, was sie machten, das, was sie repräsentierten war gleichzeitig individuell, modern und vor allem eigenwillig. Und vor allem: es schien zu 100% von Beiden zu kommen. Sie waren zwei ungewöhnliche Persönlichkeiten, die sich zusammen noch zu potenzieren schienen. Die Eine ohne den Anderen? Schwer vorstellbar.
Rock’n’Roll – Küche, Rock’n’Roll – Leben
Viele Köche – gerade aus dem TV-Bereich – geben gerne die wilden Rock’n’Roller. Aber – was sind sie gegen Jonnie und Thérèse Boer? Die Beiden schienen immer nach der Devise zu leben, dass nur richtig feiern kann, wer auch richtig arbeiten kann oder umgekehrt. Ihre Feste – auch mit ihrem Personal – waren legendär und hatten immer die echte Rock’n’Roll-Färbung, also – das ist wichtig zu wissen – weit weg von Schickimicki, denen solche Feste viel zu unmittelbar, zu sehr von echter, immer auch ein wenig wilder Lebensfreude oder Lebenslust geprägt wäre. Ich habe da aus meiner eigenen Biographie besonders viel Verständnis und eine kleine Extra-Erinnerung: einer der von ihm sehr bewunderten Freunde war der eigentlich wesentlich ältere Herman Brood, der auch mit vielen Illustrationen in den Büchern von Jonnie Boer zu finden ist. Die Freundschaft mit diesem Rock’n’Roll – Exzentriker und bekennendem Drogenkonsumenten (der sich in Amsterdam von einem Hochaus zu Tode gestürzt hat, weil er ohne Drogen – wozu man ihm dringend geraten hatte – nicht mehr leben wollte) war für Jonnie Boer sehr wichtig – und darf nicht falsch verstanden werden. Es ging nie um eine Lifestyle-Kopie oder Ähnliches, es ging um ein radikales Verständnis von persönlicher Freiheit und Kreativität. Ich habe Herman Brood 1969 kennengelernt, als ich nach dem Militär einige Male in der „Kaisermühle“ in Viersen bei Konzerten ausgeholfen habe. Er war damals Pianist bei „Cuby and the Blizzards“, die mich – ähnlich wie Jonnie Boer – vor allem wegen ihrer sehr professionellen Performance sehr beeindruckt haben.
Ein zentrales Bild, im Zusammenhang mit einem berühmten Dessert in Lippenform, „Der Kuss von Thérèse“ genannt
Jonnie persönlich
Und dann muss nach dem Verweis auf Rock’n’Roll unbedingt der Eindruck kommen, den ich von Jonnie Boer ansonsten hatte – vor allem auch im fachlichen Bereich. Ich kenne das von einigen ganz Großen der Zunft (u.a. von Ferran Adrià): ein unruhiger Geist, der bei allen Aktivitäten und Ablenkungen, auch bei der Fähigkeit, Ablenkung zu suchen und zu finden, so wirkt, als ob trotzdem im Hintergrund immer eine konzentrierte Persönlichkeit am Werke ist. Wenn man länger mit Jonnie Boer über seine Arbeit sprach, zeigte er sich immer als ein Suchender, als Jemand, der ständig eine Unmenge von Ideen hat, die ihn unablässig umtreiben. Er konnte da unsicher wirken, aber nicht in Form von Unsicherheit als Ausdruck von Schwäche, sondern als Ausdruck von Jemandem, der in einer Überfülle den richtigen Weg ahnt und versucht, ihn zu finden. Dass er auf der anderen Seite – wie man bei uns sagt – nun wirklich kein Freund von Traurigkeit ist, ist kein Gegensatz, sondern für ihn und Thérèse gleichzeitig eine notwendige Form, etwas Dampf aus dem Kessel zu lassen wie eine Form der Energiequelle.
Jonnie und Thérèse persönlich: ein ganz kurzer Nachtrag
Die Beiden machten immer wieder einen ganz speziellen Eindruck: wenn man solche Freunde hat, kann man sich glücklich schätzen. Es gibt diese Kombination: unruhige, extrem aktive Menschen mit sehr vollem Lebensplan, die dann menschlich ein Ausbund an Zuverlässigkeit, Herzlichkeit, Einfühlungsvermögen und Empathie sind und manchmal alles liegen lassen, um Freunden zu helfen – wenn ihre Freunde es denn wirklich brauchen.
Abendstimmung in „De Librije“
Natürlich: die Küche
Das Werk von Jonnie Boer hat im Laufe der Jahre enorm viel an Substanz bekommen. Natürlich hat er in den 80er und 90er Jahren mit einer zeitgenössisch-modernen Küche begonnen, die sich aus heutiger Sicht nicht viel von Kollegen unterscheidet, die ein wenig weiter waren, aber noch nicht da angekommen waren, wo sie hin wollten. Man muss auch in diesem Zusammenhang an Ferran Adrià erinnern, dessen Anfänge die eines französisch orientierten, modernen Kochs waren, der damals schon. auffiel (wie Jonnie Boer auch), aber längst nicht angekommen war. Bei Jonnie Boer spielte immer eine sehr große Rolle, dass er in seiner Region fest verwurzelt war. Irgendwann schrieb er einmal, dass er nach drei Jahren Amsterdam (also der Ausbildung) unbedingt zurück in seine Heimat wollte. Boer war einer der ersten Köche, die ihre Produkte ausschließlich aus der nahen Umgebung bekamen, die für Alles und Jedes ihre Lieferanten hatten, die er natürlich alle persönlich kannte und wertschätzte. In einem seiner Rezepte hat er Tulpenzwiebeln verarbeitet. Das war ganz neu, aber kein irgendwie gearteter demonstrativer Akt, sondern eine logische Konsequenz. Ich erinnere mich, dass er mir einmal einen freundlichen älteren Herren in sportlicher Kleidung vorstellte. Das sei der größte Tulpenproduzent der Niederlande, war seine Erläuterung (was dort bedeutet, dass er einer der größten Wirtschaftsbosse überhaupt war). Die eingelegten Schalen von Tulpenzwiebeln sind ein gutes Beispiel dafür, wie er sich nicht zu weit von den Werten der klassischen Küche entfernte, dabei dann aber eine enorme Individualität und Moderne entfaltete.
Die Stilistik wurde im Laufe der Zeit und ganz konsequent immer moderner. Bereits 2011 haben ich in meiner Avantgarde-Serie in „Port Culinaire“ etwas zu „Umami“ bei Boer geschrieben. Er war da immer sehr früh und sehr konsequent, aber nie nur plakativ, sondern immer bestens kulinarisch eingebunden. – Natürlich gab es auch immer wieder Gerichte mit einer spektakulären Optik oder solche, die um einen besonderen „Gag“ aufgebaut waren – etwa dünne Fleischscheiben, die dann über einer Blechdose mit Glut auf einem verbeulten Drahtgitter am Tisch gegart wurden…
Ich war vor allem einmal besonders von einer Art Strandszene angetan, die er auf dem Teller servierte, weil sie in ihrer ganzen Sensorik genial aufgebaut war (siehe das Bild), Boer hat die ganze Frische eines Wintermorgens am Meer eingefangen, wenn Eis und niedrige Temperaturen für einen ganz besonderen Aspekt der Frische sorgen. Dann bekommt man dazu beste Produkte, die – natürlich – sehr kalt sind und vielleicht sensorisch gesehen vielleicht auch eigentlich etwas zu kalt. Aber – gerade die Sensorik sorgt dann dafür, dass der assoziative Kontext die Regie übernimmt, und es nicht mehr allein darum geht, ein paar Meeresfrüchte mit einem besonderen Frische-Effekt zu essen. Es geht um eine hochkomplexe Erfahrung um ein Erlebnis, dass man am Stand im Winter haben kann und dem man plötzlich auf dem Teller in Jonnie Boers Librije wiederbegegnet – real, direkt, komplex, einfach mehr Sinne erfassend als ein „normales“ Gericht. Elena Arzak hat ein iPad unter die Muscheln gelegt, mit Meereswellen und – rauschen. Gut. Bei Heston Blumenthal legte man eine Muschel ans Ohr und hörte das Rauschen. Gut. Hier ist es noch viel besser, weil es noch viel konkreter ist.
Mit Blick auf die „Librije“
Eines Tages standen wir vor der damals gerade eröffneten, neuen „Librije“. Im Vordergrund standen die beiden Harley-Davidson-Maschinen von Thérèse und Jonnie Boer – klar, sie hatten beide eine und das gehörte unbedingt zu ihrem Leben und ihrer Art zu leben. Wir sprachen über den Schritt von der kleinen „alten“ Librije zu dem großen Gebäude der neuen. „Wissen Sie“, sagte Jonnie Boer, „ich habe Thérèse und die Kinder und die beiden Harleys. Der Rest gehört der Bank.“ Irgendwie haben wir diesen Satz nie vergessen – mit dieser ganzen Offenheit und Ehrlichkeit, die typisch für Jonnie Boer war.
Jonnie und die Joints
An den Schluss muss ich einfach die Geschichte mit den Joints setzen, die „Stickjes“, wie er sie nannte, mit Hanf realisiert, aber eben kein Marihuana darin. Es gab eine Szene in der alten Librije, die ich vorher noch nie irgendwo gesehen hatte. Wir saßen in dem nicht sehr großen Raum, und das Publikum bestand an diesem Abend ganz auffällig aus den typisch besseren Kreisen, facon Niederlande. Gut gekleidet, mit einem dezenten Verhalten, die Stützen der Gesellschaft. Dann kam das Dessert, und nach dem Desserts wurden tatsächlich Joints serviert, also geradezu das Symbol der niederländischen Hippie-Kultur, die sich bei unseren Nachbarn so enorm ausgebreitet hatte. Und dann sah man in den Raum und entdeckte überall im Bild die weißen Joints. Wunderbar und ein wunderbar „anarchistischer“ Akt. – Das hat mir keine Ruhe gelassen. Als Jonnie Boer Koch des Jahres/Ausland bei der FAS war (siehe oben) habe ich ihn gefragt, ob er das vielleicht auch im Ballsaal von Schloß Bensberg realisieren könne. Er überlegte kurz und sagte zu. Tatsächlich hat er eigens eine größere Menge von kleinen Pappbehältern anfertigen lassen, die dann dem Publikum nach dem Dessert überreicht wurden. Und dann sah man in die Runde, ein Murmeln wurde bis zu einem Sturm von befreitem Lachen und Applaus und alle 150 Gäste hatten einen Joint in der Hand. Es war wunderbar. Es war genau Jonnie Boer.
Es bleibt nun der Familie zu wünschen, dass sie es bei aller Trauer schaffen, sein Werk und seine Individualität zu erhalten und seine nie ausbleibenden Visionen fortzuführen.
Meine Frau und ich bedauern den Tod von Jonnie Boer ganz außerordentlich.
Een kunstenaar en zijn vrouw zijn van ons weg geaan.