In den letzten Tagen wurde in verschiedenen Portalen aus einem Interview zitiert, das Tim Raue dem FOCUS gegeben hat. Neben diversen Anmerkungen zur aktuellen Situation hieß es dort, dass es – auf die Zukunft bezogen – auch um „mehr Nachhaltigkeit und mehr soziale Verantwortung“ gehen müsse. Raue: „Die Gäste möchten nicht mehr einfach nur gut essen. Sie wollen ein gastronomisches Produkt, mit dem sie sich identifizieren können.“
Der Klang solcher Worte mag vertraut und positiv sein. Man hört in letzter Zeit eine Menge von Stimmen in dieser Richtung. Ihnen ist allerdings gemeinsam, dass sie ausgesprochen unkonkret sind und eher irgendeine atmosphärische Mutmaßung wiedergeben, als ein wirklich konkret geändertes Verhalten anzuregen. Geredet wird viel. Aber Verhaltensänderungen im kulinarischen Bereich sind eine der schwierigsten Dinge überhaupt. Das haben uns viele Krisen, zum Beispiel rund um das Fleisch, gezeigt. Und – der seit Jahren ständig in allen Medien überproportional begleitete Trend zu Bio, Vegetarischem und Veganem ist immer noch eher ein sehr kleines Pflänzchen aus der überschaubaren Abteilung „jung, weiblich, gebildet“ – wie das gerade noch der Ernährungspsychologe und Psychotherapeut Christoph Klotter in der Süddeutschen Zeitung anmerkte.
Das Problem bei der Aussage von Tim Raue ist, dass er einerseits von Nachhaltigkeit und sozialer Verantwortung redet, andererseits von gastronomischen Produkten, mit denen man sich identifizieren kann. Die Beziehung dieser Punkte zueinander ist sehr komplex und bedarf der Analyse. So etwas muss man aufdröseln, weil sich hier Machbares und sehr Unwahrscheinliches begegnen. Ich möchte dazu in der gegebenen Kompaktform ein paar Anmerkungen machen.
Gibt es wirklich eine „nachhaltige“ Küche?
Sagen wir es so: es gibt sie oft vorwiegend auf dem Papier, und das schon lange. In der Spitzenküche werden hier und da schon seit vielen Jahren oft nur lokale Produkte aus handwerklicher Erzeugung eingesetzt. Das auffälligste Beispiel ist vielleicht der ehemalige bretonische Drei-Sterne-Koch Olivier Roellinger, der schon zu Beginn der 90er Jahre – bis auf seine Gewürze – ausschließlich Produkte aus der Nahumgebung verarbeitet hat. Heute gibt es in allen Restaurantformaten Unmengen von Beispielen für ein ähnliches Verhalten. Allerdings gibt es auch bei den Discountern schon viele Angebote in dieser Richtung, und spätestens in diesem Zusammenhang muss man sich fragen, ob der schonende Umgang mit den Ressourcen allein schon für die Zuschreibung „nachhaltig“ ausreicht.
Es ist längst klar, dass „Nachhaltigkeit“ nicht nur bei den Produkten, sondern auch kulinarisch ein Umdenken bedeutet, um dann schließlich auch jene Ressourcen/Produkte wieder einzusetzen, die im Laufe der Zeit immer weiter verdrängt wurden. Man braucht also eine Verschiebung hin zu mehr vegetarischer Küche, bestem Fleisch statt Massenprodukten usw. usf., zu Gerichten, die viele Leute in ihrem Leben bisher nie gegessen haben usw. usf. Insofern würde man eine nachhaltige Küche wirklich erkennen müssen: die gleichen Gerichte zu kochen wie immer, nur eben mit Bio-Produkten, reicht nicht aus. Insofern sehe ich noch lange keinen Durchbruch für eine nachhaltige Küche, weil der Begriff „Nachhaltigkeit“ immer noch viel zu eng und zu banal verstanden wird.
Welche soziale Verantwortung entsteht im kulinarischen Bereich?
Im kulinarischen Bereich wird schon immer die individuelle Freiheit der Wahl geradezu fetischisiert. Der wirklich dümmliche Ausdruck, etwas sei „Geschmackssache“ im Sinne von „ausschließlich meine eigene Entscheidung“ ist nach wie vor weit verbreitet. Seine Verwendung ist ein sicherer Hinweis darauf, dass man es nicht mit besonders reflektierend denkenden Personen zu tun hat – um es einmal milde zu formulieren. Das individuelle Verhalten beim Essen ist in fast allen Teilen bedingt, also durch vielfältige Einflüsse entstanden. Viel freier Wille bleibt da nicht übrig, und wenn, dann üblicherweise nur nach starken Veränderungen in der eigenen Biographie. Ich selber bin da ein ganz typisches und ganz extremes Beispiel.
Insofern muss auch jedem Menschen klar sein, dass sein kulinarisches Handeln Auswirkungen auf die Gesellschaft hat. Und das gilt sowohl für das Einkaufsverhalten wie für die Affinität zu Gastronomiebesuchen wie für das Verhalten gegenüber kulinarisch Neuartigem etc. Die Dominanz der Discounter mit all ihren negativen Nebenwirkungen ist vor allem ein Produkt des Konsumverhaltens. Dass mit der Sucht nach Sparen beim kulinarischen Konsum zugunsten eines Konsums bei z.B. oft relativ zum Einkommen viel zu aufwändigen Autos und Immobilien gleichzeitig auch eine ökologische Zerstörung in großem Umfang produziert wird, scheint zwar weitgehend bekannt zu sein, bleibt aber immer noch für den privaten Konsum weitgehend folgenlos.
Insofern geht es – in einem engen Zusammenhang mit der Nachhaltigkeit – immer und jederzeit im kulinarischen Bereich bei allen Beteiligten um soziale Verantwortung. Die konkreten Auswirkungen findet man zum Beispiel bei im vorigen Abschnitt beschriebenen Verhaltensweisen.
Was sind gastronomische Produkte, mit denen man sich identifizieren kann?
Ein solcher Satz ist schillernd und kann sehr unterschiedliche Inhalte haben. Im oben genannten Sinne wären Produkte, mit denen man sich identifizieren kann zum Beispiel solche, die der eigenen Meinung über gewünschte Produkte entsprechen. Wer etwa strikt auf die Verwendung von Bio-Produkten achtet, wird mit Wohlgefallen in Ergänzung einer Speisekarte die Liste der Bio-Erzeuger lesen, deren Produkte in diesem Restaurant Verwendung finden. So etwas gibt es häufig.
Wer darüber hinaus zum Beispiel auf den „Nose-to-Tail-Grundsatz“ achtet, wird sich mit einem Angebot identifizieren können, bei dem alle möglichen Teile und Innereien von Tieren verwendet werden.
Dieser Ansatz hat allerdings oft eine Schwäche: er ist sozusagen politisch korrekt, kulinarisch damit aber nicht zwangsläufig gut oder interessant. Gegebenenfalls – im es einmal pointiert zu illustrieren –. Isst dann irgendwo nur der Kopf mit politischen Gedanken, nicht aber der kulinarische Teil der Seele.
Sehr interessant und von großer Bedeutung gerade für die gehobene deutsche Küche wäre eine Füllung des Begriffes „Identifikation“ mit Gerichten (also gastronomischen Produkten im weiteren Sinne), die viel mit dem assoziativen Kontext zu tun haben. Wenn der Gast etwas isst, zu dem er eine intensive emotionale Verbindung hat, werden komplett andere Bereiche in seinem Kopf in Bewegung gesetzt als bei Gerichten, bei denen das nicht der Fall ist. Ein echter Gourmet, der vor allem an kreativen Dingen interessiert ist und vieles „strukturell“ isst (also zum Beispiel auf bestimmte sensorische Ereignisse und Verläufe achtet), wird sich oft so sehr auf die Materie konzentrieren, dass irgendwelche emotionale Verbindungen zu seiner Kindheit o.ä. kaum eine Rolle spielen. Vielleicht erlebt er eine besonders innovative Küche sogar als Befreiung von allzu viel diversen Erinnerungen und Bezügen.
Für den Erfolg von Küchen und einen intensiven Zusammenhang zwischen Gast und Essen kann es aber entscheidend sein, dass sich über einen intensiven assoziativen Kontext eine vertiefte Identifikation mit dem Essen ergibt. Wer Traditionelles liebt und in einem modernen Gericht wiedererkennt, das mit diesen Traditionen „spielt“, wird zu einer intensivierten Identifikation mit diesen gastronomischen Produkten kommen. Insofern kann man den Satz auch als eine Aufforderung verstehen, endlich vermehrt eine Küche anzubieten, die eine hohe emotionale Bindung, eine intensive assoziative Aufladung besitzt. Ich habe immer wieder plakativ davon geredet, dass uns in Deutschland die Drei-Sterne-Schweinshaxe fehlt, eine Schweinshaxe, die exzellent gemacht ist und sofort restlos überzeugt und dennoch geschmacklich unverkennbar eine Schweinshaxe bleibt. Wäre unsere gastronomische Spitze eher auf diesem Gebiet aktiv als z.B. bei diversen asiatischen Einflüssen, wäre das zum Beispiel für eine intensivere Identifikation des Publikums mit der deutschen Spitzenküche (und ev. auch zur Steigerung von deren gesellschaftlicher Position) wichtig. Vieles, was heute angeboten wird, hat da Schwächen – auch wenn die ein oder andere Küche kreativ-handwerklich vollkommen überzeugt.
Tim Raue hat in seinem Programm Beides: seine Hauptküche spielt mit den erweiterten kreativen Möglichkeiten durch eine Adaption asiatischer Elemente. Seine Brasserie-Küche geht in die klassisch-französischen Traditionen mit einem strammen Anteil an Identifikationsmöglichkeiten für eine bestimmte Gästeschicht. Einen hohen Anteil an assoziativem Kontext findet man vor allem bei seinen sehr guten Bearbeitungen traditioneller deutscher Küche. Seine Version der Königsberger Klopse etwa ist ein genialer Weg aus glasklar traditioneller Aromatik und einem Maximum an Optimierung durch die Mittel der Kochkunst. Das wird jeder Gast sofort merken und es wird zu einem Maximum an Aktivierung des assoziativen Kontextes kommen. Eine Küche, die den Gast besonders gut erreicht, verstärkt die Bindung. So etwas möchte man immer essen. Anderes mag sehr interessant sein, trifft aber eben vielleicht nicht alle Bereiche des Gehirns …
ein schwieriges thema- weil immer zwischen selbst-und aussenwahrnehmung des gastes unterschieden werden muss: wenn sich der gast im lokal nicht wohlfühlt (zu recht oder zu unrecht) , kann sich der chef auf dem teller noch so anstrengen, er wird den gast nicht abholen. viele “ neue“ konzepte findet der gast zwar theoretisch gut wie nose to tail, gemüseküche etc., praktisch kann er damit oft wenig anfangen, weil ihm zu viele fimmel im kopf rumgehen oder er sich übervorteilt sieht: beispielsweise ist er anteil an innereien bei fleischgerichten in der schwarzwaldstube mit ihrem ach so spiessigen alten publikum ungleich höher ( und natürlich ungleich delikater umgesetzt) als in hipsterlokalen mit ihrem jungen ach so aufgeschlossenem publikum; wer auf meinungsplattformen in den sozialen medien nachliest, wie advangardelokale mit gemüseküche so bewertet werden von ottonormalesser, so entsteht schnell der eindruck, dass da mit einem haufen unkraut auf dem teller den gästen das geld aus der tasche gezogen werden soll. alles zerrbilder natürlich, aber letztlich fehlt es an instanzen, die da korrigierend eingreifen und verschiedenes ins recht licht rücken könnten. aber woher soll dieses korrektiv kommen? die eigene erfahrung, offenheit, bereitschaft zur auseinandersetzung ist bei vielen zeitgenossen schlicht nicht da, die sog. gastrokritik hat ihre inhaltlichen schwächen und personellen knalltüten und köche erreichen den gast erst, wenn er vor ihnen sitzt. sehr schwierig, das ganze.
Mit dem richtigen strategischen Angang eigentlich kein schwieriges Thema. Biete fünf ambitionierten Köchinnen und Köchen an, dafür gemeinsam den Beweis zu erbingen. Bewerbungen willkommen!
Das klingt doch alles schön und gut und ja, mein Lunch bei Herrn Raue war äußerlich vielleicht cool, doch sein Signature Dish – Ente – welches zweistellig am Tag raus geht, ging im Hauptgang leider daneben. Was fehlt – und da bin ich mir nicht so sicher, ob wir bei Herrn Raue an der richtigen Adresse sind – ist das Thema des Nachwuchses im Ausbildungsberuf Köchin/Koch.
Alle Diskussion, Mutmassungen und „schau in mich rein“ Kugeln zeigen, dass seltenst hier angesetzt wird. Ohne den Nachwuchs wird es in den nächsten Jahren eine Veränderung zum negativen hin geben. Es werden Handwerk, Wissen, Know-how und Kunst „step by step“ verloren gehen und die stetig wachsende Fertig-Produkt-Lobby noch mehr an Land gewinnen.
Ich selber habe in einem Artikel mit der Überschrift „ES HAT SICH AUSGEFRESSEN“ überspitzt darauf hingewiesen, worauf es in den nächsten Jahren ankommen wird. Man hat viel verschlafen und falsch gemacht (auf menschlicher Ebene), doch ist es „noch“ nicht zu spät, dass Ruder herumzureißen.
Kurzum wird es auf das GROSSE GANZE ankommen. Angefangen bei der Geburt und Herkunft der Produkte, bis hin zu den Arbeitsbedingungen in Küche und Saal. Wenn ich da von einem Hobbyblogger lese (Besuch in einem 3 Sterne Restaurant), dass er geherzt war und man möge ne Stunde früher aufmachen und eine Stunde später schließen, so zeigt es auch, dass GÄSTE noch ganz viel – in unseren Breitengraden – zu lernen haben.
Die zukünftigen und teils alteingesessene Chefs – auch da bin ich mir sicher – werden mehr und mehr in sich hineingehen und das Mindset etwas, oder sogar stark ändern. Weg von Guides & Co., hin zum austarierten Handeln bei sozialen, menschliche und tierischen Fragen.
In einem 2*-Restaurant stehen natürlich wichtigere Dinge auf der Agenda, Herr Tunys. Ich denke, in dieser Sache sollte man Herrn Raue nicht noch rein reden. In Deutschland gibt es genügend sehr gute Ausbildungsbetriebe, die händeringend nach Nachwuchs suchen. Hier sollte angesetzt werden.
Das Publikum wartet nicht auf die Steilvorlagen der Köche!
Wird sich das Publikum wirklich ändern? – Insbesondere mit Blick auf die Spitzengastronomie ist diese Eingangsfrage des Artikels nur mit einem uneingeschränkten „Ja“ zu beantworten. Denn durch den Wechsel der Generationen verändert sich zwangsläufig auch das Publikum. Und mit den jüngeren Gästen werden Köchinnen und Köche auch mit neuen (zeitgemäßen) Wünschen und Erwartungen konfrontiert. Anbieter, die im Anpassungsprozess zu langsam sind, werden vom Markt verschwinden. Die Corona-Pandemie mit ihren vielfältigen Herausforderungen wirkt da wahrscheinlich als Beschleuniger.
Wer vor diesem Hintergrund über die sich abzeichnenden Zukunft der Gastronomie nachdenkt, sollte besonders die nach dem Jahr 1980 geborenen Millennials in seinen Überlegungen berücksichtigen. In Kürze dominieren sie Arbeitsmarkt und Restaurants. Und Untersuchungen der vergangenen Jahre zeigen bereits, dass diese Generation den Themen Essen und Genuss viel aufgeschlossener, begeisterungsfähiger, aber gleichzeitig auch kritischer gegenübersteht als vorangegangene. Denn die Millennials definieren sich in großen Teilen auch durch ihre Ernährung: Du bist, was Du isst!
Zumindest mittelbar dürfte Nachhaltigkeit dabei eine wesentliche Rolle spielen. Denn die Millennials sind mit dem Thema quasi aufgewachsen, nachdem dazu im Jahr 1987 der Brundtland-Bericht veröffentlicht wurde. Gleichzeitig ist ihre Generation in Anbetracht einer rasant wachsenden Weltbevölkerung wie niemals zuvor mit der darin aufgeworfenen Kernfrage konfrontiert: Wie lassen sich aktuelle Bedürfnisse befriedigen, ohne die Zukunft der Kinder und weiterer Generationen zu gefährden?
Pauschale Antworten sind – insbesondere in diesem Beitrag – nicht zu formulieren. Denn letztlich geht es auch um Megathemen wie Klima, Globalisierung und Mobilität sowie einen gigantischen Innovationsprozess. Wenn Köche wie Tim Raue sich damit medial auseinandersetzen, dann bieten sie ihren Gästen zunächst „Ähnlichkeit“ und Zusatznutzen. Dies sollte natürlich auch im Leistungsangebot erlebbar sein und muss vor allem professionell kommuniziert werden. Tendenziell werden sich auch in der (Spitzen-) Gastronomie die Konzepte durchsetzen, die optimal im Spannungsfeld ökonomischer, gesellschaftlicher und ökologischer Ziele positioniert sind.
Im Übrigen dürfte dieses Angebotsverhalten zunehmend alternativlos sein. Beispielsweise sind bei einer wachsenden Weltbevölkerung und global steigendem Wohlstand Tiere nicht mehr nur auf ihre „Edelteile“ zu reduzieren. Denn die für die Aufzucht erforderlichen Ressourcen wie Futter und Wasser werden immer schwerer zu organisieren sein. Klimatische Belastungen durch die Tierhaltung dürften steigen. Davon unabhängig stellt sich für immer mehr Menschen die ethische Frage nach dem erforderlichen Respekt gegenüber dem Mitgeschöpf Tier und seinem Züchter. Konzepte wie „Nose to Tail“ sind generell gefragt, auch wenn vielleicht der kulinarische Durchbruch noch nicht ganz geschafft ist. Vegetarisch und Vegan sind für viele Gäste inzwischen Alternativen, obwohl sie auf das gute Stück Fleisch oder Fisch nicht generell verzichten.
Im Ergebnis werden es nicht die „Steilvorlagen der Köche“ sein, die das Publikum verändern. Vielmehr müssen die Gastronomen ihr gesamtes Leistungsangebot an die sich wandelnden (oftmals noch nicht artikulierten) Wünsche und Erwartungen ihrer Gäste anpassen. Dies wird sicherlich unterschiedlich gut gelingen, denn es fordert Aufmerksamkeit, Kreativität und Veränderungskraft. Aber letztlich ist nur so ein wirtschaftliches Überleben gesichert. Denn niemand kann sich den allgemeinen Entwicklungen entziehen. Schon vor 2000 Jahren wussten die Römer: Den Willigen führt das Schicksal, den Unwilligen zerrt es.
Ihre Analyse, der Generationenwechsel allein wird die Spitzengastronomie massiv verändern, teile ich leider nicht. Wäre dies so, müssten wir in unseren Großstädten jetzt annähernd schon Zustände haben wie in Kopenhagen. Davon sind wir allerdings weit entfernt. In Kopenhagen zeichnet sich bereits die Gastrolandschaft der Zukunft ab, nicht nur im Noma sondern auch in der Breite – und die Revolution kam hier nicht von der Straße sondern von oben. Hier kann man mit Fug und Recht von einer Steilvorlage der Köche reden.
Meine Analyse sagt: Durch den Generationswechsel bzw. die Millennials ändert sich das Nachfrageverhalten der Gäste. Aktuell stellen die Millennials etwa 20% aller Privathaushalte in Deutschland und verantworten etwa 25% der gesamten Konsumausgaben. Tendenz steigend!
Mit den Millennials ist eine in jeder Beziehung anspruchsvolle, global denkende und zugleich mitteilsame Generation („Meinungsführer“) herangewachsen. Sie kochen häufiger und mit größerer Begeisterung als ältere Generationen. Dabei sind sie auch bereit, für besondere Angebote sowie Produkte aus artgerechter Tierhaltung und handwerklicher Fertigung mehr zu bezahlen, um damit ihre Vorstellungen von Konsum, Genuss und Leben zu verwirklichen.
Köchinnen und Köche werden darauf zwangsläufig neue, die Zielgruppe begeisternde Antworten finden müssen und auch finden. Dabei handelt es sich auch um einen Wettbewerb der Ideen. Dieser könnte in Richtung einer neuen Regionalküche nach Vorbild des Noma gehen. Im Zweifel dürfte aber nur die dahinterstehende Philosophie auf Deutschland übertragbar sein.
Ich habe das gesamte Interview leider nicht gelesen und kenne nur diese Zitate, aber ich habe den Eindruck, dass Raue nicht von „gastronomischen Produkten, mit denen sie sich identifizieren können“ im Sinne von Lebensmitteln spricht, sondern vielmehr gastronomische Konzepte meint. Und hier würde er einen enorm wichtigen Punkt ansprechen. Insbesondere in Deutschland spielt soziale Distinktion und Identifikation eine enorme Rolle für die gesamte Gastronomie. Salopp gesprochen ist das Sternerestaurant für den älteren Statusesser das, was für den jungen Studenten der Club ist: Man kann einen angenehmen Abend verbringen – vor allem in der Gewissheit mehr oder weniger unter sich zu bleiben. Die Vorurteile gegenüber dem „Fine dining“ resultieren dann auch weniger aus der Abneigung gegen gehobene Küche als solche, als vielmehr gegen eine soziale Schicht, mit der man sich nicht gemein machen möchte. Nun wäre dies weiter kein Problem, wenn dies nicht signifikante Auswirkungen auf die Gourmetküche insbesondere in Deutschland hätte. Gerade in Großstädten erproben junge Köche moderne Konzepte der gehobenen Gastronomie. Kommt allerdings der erste Stern, folgt der Statusesser auf dem Fuße. Und der ist eben weniger an modernen Konzepten und noch weniger an Avantgardeküche interessiert, er will schlicht für sein Geld was geboten bekommen, was in der Regel aufwändiger Service und Küche heißt (aber bitte nicht zu modern!). Der Kommentar von Herrn Brosko, dass man den Gästen quasi Daumenschrauben anlegen musste, um sie an ein paar harmlose ungewohnte Produkte zu gewöhnen, spricht hier Bände. Eine neue urbane zahlungskräftige Hipsterelite hingegen, die größeren Wert auf innovative Ideen legt, findet so nur beschränkt Zugang zur Gourmetküche. Mir sind in Deutschland nur sehr wenige Sternerestaurants mit einem höheren Anteil jüngerer Gäste begegnet. Darunter das Nobelhart & Schmutzig, welches offenbar durch ein ausgefeiltes und äußerst stimmiges Gesamtkonzept ein hohes Identifikationspotential gerade bei dieser Klientel erzeugt, gewissermaßen als Gegenentwurf zur herkömmlichen Sternegastronomie. Und da wäre ich ganz bei Tim Raue, dass solche identifikationsstiftenden Produkte, die sozusagen zu verschiedenen Lebensentwürfen passen und diese spiegeln, eine wachsende Bedeutung zukommt. Sie könnten maßgeblich dazu beitragen, kreative Elemente in der deutschen Küche zu stärken und dadurch auch internationale Aufmerksamkeit zu wecken. Eine „3-Sterne-Schweisnshaxe“ bewirkt ähnliches, fürchte ich, nicht.
das Problem ist, dass wenig Menschen bereit sind das „Schmecken “ zu lernen und zu optimieren und dafür mehr Geld auszugeben. Für mich und meinen Mann ist es enorm wichtig in jeder Hinsicht bewußt zu essen, daher geben wir den Großteil unseres nicht besonders üppigen Einkommens für gutes Essen aus und freuen uns jeden Tag darauf und darüber. Da mein Sohn Restaurantleiter und Sommelier in der 2Sterne Gastronomie ist, haben wir das Glück immer wieder mal eingeladen zu werden und zu geniessen und zu lernen. Ich koche gut und gerne, bin immer neugierig auf neue Geschmäcker und Konsistenzen.
Beatus est qui habet Filium
Geschätzter Jürgen Dollase,
mal wieder sprechen Sie mir aus der Seele. Über den Begriff der Nachhaltigkeit lässt sich tatsächlich viel sagen. Noch wichtiger aber ist der von Ihnen angesprochene Begriff der „sozialen Verantwortung“, der aus meiner Sicht Nachhaltigkeit einschließt. Hier müssen die Gastronomen einfach noch mutiger werden. Seit Jahren versuchen wir unseren Gästen klar zu machen, dass sie im Grunde nicht wissen, wie was zu schmecken hat – von Ausnahmen mal abgesehen. Wenn wir, wie im Moment, frische bretonische Artischocken auf der Karte haben, oder bretonische Sandmöhren sous vide gegart, bedarf es viel Überzeugungskraft und eines souveränen Auftretens den Gast zum probieren zu „zwingen“. Noch dramatischer gIng es zu, wenn wir Demeter-Gerstengraupen als Risotto mit Blutwurst vom Bunten-Bentheimer und mariniertem, roten Spitzkohl angeboten haben. Allmählich haben unsere Gäste begriffen, dass sie sich uns bedenkenlos anvertrauen können. Unsere Standhaftigkeit hat hier den Ausschlag gegeben. Natürlich haben wir das eine oder andere Geschäft nicht gemacht. Das war es uns aber wert. Wir ziehen die Daumenschrauben immer weiter an…