Jim Heimann (Hrsg.): Menu Design in Europe. A visual and culinary History of graphic Styles and Design 1800 – 2000. Taschen Verlag, Köln 2022, 448 S., geb., Großformat, 50 Euro (dreisprachig: englisch, deutsch, französisch)
Ein ebenso wunderbares wie gigantisches Buch über europäische Speisekarten wie dieses aus dem Taschen-Verlag löst schon vor der Begeisterung darüber, dass man diese Arbeit ermöglicht hat, eine Reihe von Gedanken aus.
Die Speisekarte heute
Man sitzt heute – was die Speisekarten angeht – fast nur noch in zweierlei Restaurants. Die einen haben irgendwelche Karten, die schon länger im Gebrauch sind und aus denen man manchmal – salopp gesprochen – eine Suppe kochen könnte. Sie sind irgendwann einmal entworfen worden und für den Massengebrauch gedacht. In die gleiche Abteilung fallen auch jene Karten, die in handelsüblichen Menükarten-Ordnern aus Plastik mit Klarsichthüllen präsentiert werden. Man ist zweckmäßig, will nicht ständig Neues drucken und hat sich in der Regel nicht viel Mühe mit der Gestaltung gemacht. Ausnahmen bestätigen die Regel.
In Gourmetrestaurants ist leider eine sehr, sehr nüchterne Entwicklung in Gang gekommen. Blicken wir einmal kurz zurück, und zwar etwa in die Zeit zwischen 1980 und 2010. Irgendwo dort liegt eine Entwicklung hin zu immer größeren und immer opulenteren Karten, über die man manchmal wegen ihrer schieren Größe Witze machte. Viele von diesen Karten waren allerdings wirklich wertig gestaltete Kunstwerke, die heute längst Sammelobjekte mit teilweise erstaunlich hohen Preisen sind – vor allem dann, wenn sie auch noch signiert und/oder mit einer Widmung versehen sind. Als Künstler habe ich auf so etwas natürlich immer reagiert und früh angefangen, solche Karten zu erfragen oder notfalls auch zu kaufen. Auf alle Fälle waren diese Speisekarten dieser Zeit ein echtes Thema und im übrigen auch noch oft so, dass sie immer neu gedruckt werden mussten, weil man natürlich nicht hinging und irgendwelche Zettel im Innern austauschte, sondern jede neue Karte auch komplett neu druckte oder sogar neu oder mit Änderungen entwerfen ließ.
Heute sieht die Sache – bis auf wenige Ausnahmen – oft ausgesprochen nüchtern aus. Man bekommt ein gefaltetes Blatt auf dickerem Papier, auf dem dann das Menü ausgedruckt ist. Die Mitnahme durch die Gäste ist quasi vorgesehen, und das nicht erst seit Corona. Der Gestaltungsaspekt ist weitestgehend zurückgefahren, und Künstler, die vielleicht sogar noch auf so etwas spezialisiert sind, scheint es so gut wie gar nicht mehr zu geben. Alles ist nüchtern, ohne Witz, ohne eigene Speisekarten-Kultur (die es eben durchaus einmal gab), und übrigens auch ohne einen merkantilen Nutzen, den ich in einer entsprechenden Zusammenstellung hier schon einmal empfohlen hatte: warum also hat man nicht prächtige Karten, die man dann mit Widmung erwerben kann? Warum gibt es nicht das Angebot, ein personalisiertes Menü auch mit entsprechend personalisierter Speisekarte zu bekommen? Meine Sammlung ist mir jedenfalls immer eine große Freude.
Die Speisekarte als kulturhistorische Quelle
Dass die persönliche Erinnerung oder auch wirkliche Wertschätzung bei Speisekarten eine große Rolle spielen, sollte komplett klar sein und die Gastronomen vielleicht doch noch dazu bewegen, in dieser Richtung wieder aktiv zu werden. Was aber meist vergessen wird, ist die enorme kulturhistorische Bedeutung der Speisekarten. Die Speisekarten/Menükarten sind – man muss es so deutlich sagen – eine der wichtigsten (oder vielleicht sogar die wichtigste) Quelle für Informationen darüber, was wo angeboten wurde, wie sich die Gastronomie entwickelt hat, wie sich die Arbeit einzelner Köche entwickelt hat usw. usf. Manchmal gibt es über ganze historische Epochen (von denen die Kochkunst ihre ganz eigenen Epochen hat) kaum andere Informationen über das, was in der Gastronomie gegessen wurde, als in Speisekarten. Der kulturhistorische Aspekt stellt sich übrigens nicht nur bei Karten ein, die aus lange zurückliegenden Jahrzehnten stammen. Wenn man die oft nur eine begrenzte Anzahl von Jahren dauernden Zyklen der kulinarischen Arbeit sieht, wird sofort und ohne große Erläuterungen sichtbar, wie umfangreich Erkenntnisse und Aussagen sein können. – Insofern wird ganz klar, dass ein Buch wie dieses nicht nur ein äußerst unterhaltsames Coffeetable-Book ist, sondern auch eine enorme kulturhistorische Quelle – mit großen gastronomischen Schwerpunkten, die – siehe oben – eine ganz eigene Rolle spielen können.
Das Buch
Der Autor hat selber eine große Sammlung und dazu noch Bestände verschiedener Institutionen nutzen können. Dass es „nur“ bis ins Jahr 2000 geht, ist etwas unglücklich, weil das Ende der Sammlung quasi mitten in einer sehr fruchtbaren Spitzenküchen-Speisekarten-Phase liegt. Aber – das fällt im Buch gar nicht ins Gewicht. Es gibt zuerst eine kleine Einleitung zum Thema, die sich aber in Grenzen hält. Weitere Informationen erhält man dann im Text bei der Beschriftung der jeweiligen Karten. Die Aufgliederung geht erst von 1800 – 1899, danach dann nach Jahrzehnten, was in vielerlei Hinsicht etwas willkürlich erscheint, letztlich für dieses Buch aber nicht so wichtig ist. Natürlich entdeckt man den Zeitbezug, der aber oft nicht so wesentlich ist wie der Zusammenhang der Gestaltung mit anderen Aspekten wie etwa der Art der Veranstaltung oder der Bezug zur künstlerischen Epoche u.ä.
Ein anderes Problem spielt dann schon eine größere Rolle. Viele Speisekarten hatten die gestalterischen Aspekte auf einem Umschlag. Dieser Umschlag ist dann abgebildet, in vielen Fällen nicht aber das, was in dem jeweiligen Restaurant/zu dem jeweiligen Anlass angeboten wurde. Insofern ist der Untertitel des Buches dann schon ernst zu nehmen: es geht um die visuelle und kulinarische Geschichtsschreibung der Grafik/des Designs. Dieser Aspekt überwiegt. „Der Rest ist Genießen“, möchte man sagen, weil man das Buch automatisch als ein üppiges Bilderbuch ansieht, das einfach überwältigt. Mit der Zeit ist man dann vor allem beeindruckt, in welcher Funktion große Essen früher gesehen wurden und welchen Aufwand man rund um große Essen betrieben hat. Das hängt natürlich damit zusammen, dass es die große Zahl von Gourmetrestaurants wie heute erst seit einer begrenzten Zeit gibt und der Ereignischarakter großer Menüs durch die Privatisierung und „Verbürgerlichung“ abgenommen hat. Insofern wird es für den kulinarisch (im engeren Sinne) Interessierten immer dann am interessantesten, wenn er sich in die Auflistungen der Speisen vergraben kann, das üppige Angebot bewundert und sich zum Beispiel fragt, wie man das früher rein küchentechnisch gelöst hat.
FAZIT
Wie dem auch sei: das Buch ist ein Faß ohne Boden, in dem man über viel Stunden versinken kann und das nicht nur eine Anregung bietet, Sammlungen zu bilden, sondern auch, es wieder besser zu machen mit der engen Verbindung von künstlerischer Grafik und dem Essen. Die Faszination von gutem Essen sollte einfach wieder viel üppiger und größer gesehen und genutzt werden. Vielleicht schafft erst diese Dichte an Informationen wieder einen solchen Blick. Ein wunderbares Buch, ein wunderbares Geschenk, eine wunderbare Unterhaltung, mit der man lange und immer wieder zu tun haben kann – und sollte. Wenn ich mal wieder vor einer der prosaischen Karten der aktuellen Szene sitze, werde ich an diesen Band denken.
Das Buch bekommt drei grüne BBB
Noch ein P.S.
In der sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek in Dresden ist neulich das „Deutsche Archiv für Kulinarik“ gegründet worden, u.a. mit der größten deutschen Speisekarten-Sammlung (ca. 30.000 Exemplare). Ich rege an, das zu unterstützen und vielleicht dafür zu sorgen, dass größere Bestände und/oder solche von Rang dort ihren Platz finden.
Natürlich sind graphisch schön gestaltete Speisekarten als Sammelobjekt interessanter als simple Menüzettel, und sie wurden daher wohl oft (oder meist?) nicht wegen der in ihnen enthalten Information gesammelt. Was den kulturhistorischen Wert betrifft sind aber auch die einfachsten Zettel mit dem Speisenangebot oder der Speisenfolge als Dokument der Zeit genauso aussagekräftig.
Übrigens: früher gab es auch manchmal ähnlich gestaltete Weinkarten, die –eng angeordnet– ein großes Angebot an Flaschen übersichtlich auflisteten, und wesentlich angenehmer zu handhaben waren als die großen und schweren Alben, die heute oft an den Tisch gebracht werden.