Warum Minister Schmidt in eine gute Richtung gehen will, aber noch nicht mit dem richtigen Bewusstsein
Die Meldung, dass der Bundeminister für Ernährung und Landwirtschaft die Nahrungsmittelindustrie dazu bringen will, den Anteil an Salz, Zucker und Fetten in Fertigprodukten abzusenken, klingt sehr sinnvoll. Noch überzeugender und nach viel Einsicht klingt, dass die Absenkung Stück für Stück erfolgen soll, damit die Konsumenten sozusagen langsam entwöhnt werden, es ihnen also eines Tages auch dann noch schmeckt, wenn sie – salopp gesprochen – nicht mehr die volle Dröhnung bekommen. Ist dies ein Schritt zu mehr Selbstbestimmung des Konsumenten, die eines Tages zu mehr Sensibilität gegenüber den Naturprodukten führt, die nun einmal bei weitem nicht „richtig gut gewürzt“ schmecken, wie es Kaiser Franz Beckenbauer einmal in der Knorr-Werbung sagte?
Es gibt zwei Probleme, nicht nur eines
Eine der großen Verdrehtheiten in Deutschland ist die Neigung, Essen vor allem unter technisch-gesundheitlichen Aspekten zu sehen und die gewaltigen individuellen wie gesellschaftlichen Vorteile einer Orientierung an kulinarischer Qualität und Genuss zu missachten. Vor lauter medizinischer Sensibilisierung sieht man den Wald nicht mehr, obwohl längst klar sein sollte, dass die kulinarisch glücklicheren Länder dieser Welt – oh Wunder – fast alle auch mit besseren Gesundheitswerten aufwarten können. Der Schuss des Ministers geht in eine einseitige Ecke, dorthin, wo schlechtes Essen schlechtes anrichtet, was man nun durch Reduktion vor allem der bösen Dinge verhindern will.
Richtig ist, dass die industrielle Überwürzung geeignet ist, den Menschen wie eine Droge an industrielle Geschmacksbilder zu gewöhnen. Der natürliche Geschmack der Produkte ist dagegen oft wenig ausgeprägt, – erst recht dann, wenn man – nose to tail und Blatt bis Wurzel – viele, heute noch wenig bekannte und entsprechend wenig populäre Teile nutzt. Das Problem ist also nicht nur ein medizinisches, sondern eines unserer kulinarischen Kultur insgesamt, der Oberbegriff ist die Entwöhnung von industrieller Überwürzung, um den Konsumenten von diesem Diktat zu befreien, um ihm eine Art kulinarischer Emanzipation möglich zu machen.
Aber Vorsicht! Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen
Ob medizinisch oder wesentlich komplexer motiviert: Der Vorschlag von Minister Schmidt findet selbstverständlich sofort viele Freunde. Aber – das Phänomen ist nicht nur eines der Nahrungsmittelindustrie. Die industrielle Würze hat einen Vetter, der in einem viel besseren Ruf steht, aber doch ganz ähnlich funktioniert. Es ist die ausschließliche Vorliebe für intensiv gewürztes Essen, der Wunsch nach „guter Würze“, nach kräftigen Aromen, die im Gegensatz z.B. zu „schlecht gewürztem Essen“ stehen. Plakativ gesprochen: Wer nur noch mit asiatischer Schärfe, Mengen von Umami, kräftiger italienischer oder südamerikanischer Würze leben kann, wer sein Dry-Aged-Steak mit Massen von Würzmischungen mariniert und am Ende auch noch ganze Salz- und Pfefferschichten darüber streut, ist nicht weit von den Effekten der industriellen Würzung entfernt. Ich weiß, es fällt schwer, diesen Zusammenhang zu sehen und zu akzeptieren. Aber es ist für uns alle besser, unsere Sinne vor Verkleisterung zu bewahren und sensibel zu bleiben oder wieder sensibel zu werden. Wie sollen wir sonst gute von schlechten Produkten unterscheiden können? Wie sollen wir sonst auch Produkte gut finden, die nicht „kräftig“ schmecken?
Die industrielle Überwürzung und das einseitige Favorisieren eines „kräftigen“ Geschmacksbildes sind Merkmale des Typs von Esser, den ich den genussreduzierten Esser nenne. Er hält die „volle Dröhnung“ und immer wieder die „volle Dröhnung“ für Genuss. Mono statt Stereo, schwarz-weiß statt farbig, nur laut statt differenziert, nur Großbuchstaben, nur die kulinarische Missionarsstellung.