Ich weiß nicht, warum mir dieses Buch in die Hände gefallen ist und vor allem weiß ich nicht, wie ich ausgerechnet dieses Zitat gefunden habe. Ich glaube, ich habe das kleine Bändchen bei uns in der Gegend in einer „Bücherkirche“ gefunden, wo es Tausende von Büchern zu extrem günstigen Preisen gibt. Ich durchforste die kulinarische Abteilung dort immer gründlich, um meine Bibliothek zu ergänzen. Hier erst einmal die Daten:
Ulrich Gehre/Ernst-August Gehrke: Kochen mit Wilhelm Busch. Ein literarisches Kochbuch. Schnell-Verlag, Warendorf, 3. Auflage 2007. Geb., Hardcover, 160 S.
Co-Autor des Buches ist Ernst-August Gehrke vom Schmiedegasthaus Gehrke in Bad Nenndorf, der die diversen Ausschnitte aus dem Werk von Wilhelm Busch mit traditionell-regionalen Rezepten ergänzt hat.
Ich bin über eine Passage in einem Kapitel über die berühmte Witwe Bolte gestolpert, deren Ausspruch über das Sauerkraut selbst Leute kennen, die kaum jemals Gedichte auswendig lernen:
Eben geht mit einem Teller
Witwe Bolte in den Keller
Daß sie von dem Sauerkohle
Eine Portion sich hole.
Wofür sie besonders schwärmt,
Wenn er wieder aufgewärmt.
Und dann kommt die Passage, die mich sofort fasziniert hat. Sie ist ein Zitat aus „Eduards Traum“, einer Novelle, die Busch 1891 geschrieben hat:
„Was nun aber das Kunstwerk betrifft, meine Lieben, so meine ich, es sei damit ungefähr so wie mit dem Sauerkraut. Ein Kunstwerk, möchte ich sagen, müßte gekocht sein am Feuer der Natur, dann hingestellt in den Vorratsschrank der Erinnerung, dann dreimal aufgewärmt im goldenen Topfe der Phantasie, dann serviert von wohlgeformten Händen, und schließlich müßte es dankbar genossen werden mit gutem Appetit.“
Wilhelm Busch sagt hier scheinbar etwas über das Kunstwerk an sich und benutzt dafür eine kulinarische Zubereitung als Beispiel. Das lässt sich logisch natürlich problemlos umkehren: den Begriff „Kunstwerk“ kann man ohne weiteres als „kulinarisches Kunstwerk“ verstehen. Und da müssten bei dieser Beschreibung bei allen guten, zeitgenössischen Köchen die Glocken klingeln – sozusagen.
Der Beginn „am Feuer der Natur“ verweist auf beste, möglichst natürlich erzeugte Produkte, die den ganzen Glanz, das „Feuer“ der Natürlichkeit haben. So etwas würde jeder gute Koch unterschreiben – allerdings vermutlich auch jene Köche, die die Warenauswahl an einen Großhandel delegiert haben und sich vorzugsweise von den Ladeflächen der anliefernden Fahrzeuge bedienen. Dann wird es etwas schillernder. Der „Vorratsschrank der Erinnerung“ bezieht sich auf die Nutzung der Emotionen, der guten Erinnerungen, der Küche der Kindheit, der Gerichte von Mutter und Großmutter usw. Der Begriff ist hier offensichtlich einseitig positiv besetzt, weshalb ich in meinen Theorien ja hingegangen bin und von „assoziativem Kontext“ rede, weil eben die Erinnerungen Alles sein können: von Dingen, die uns positiv prägen bis zu jenen, die uns unter Umständen ein Leben lang von Positivem abhalten, weil wir entsprechende Blockaden haben. Die Bedeutung jedenfalls ist immer so hoch, dass man einen Fehler macht, wenn man sie nicht im Auge behält. Köche, die bewußt mit dem assoziativen Kontext arbeiten, können in ihren Arbeiten oft einen ganz besonderen Erlebnischarakter erreichen.
„Dreimal aufgewärmt im goldenen Topf der Phantasie“ ist in jedem Falle eine Aufforderung zur Kreativität und in gewisser Weise auch eine Aufforderung, den kreativen Prozess nicht allzu schnell zu beenden. In der Kochkunst ist das „erste Aufwärmen im Topf der Phantasie“ oft nicht mehr als eine mehr oder weniger individualisierte Kopie dessen, was gerade en vogue ist. Man sollte den Prozess mehrmals durchlaufen, unbedingt selbstkritisch reflektieren und noch weitere Idee reifen lassen, um am Ende nicht nur irgendeinen Schnellschuss zu produzieren, sondern etwas, das Substanz und Niveau hat und eine gute Wirkung erzielt. Das „Servieren von wohlgeformten Händen“ klingt banal, ist aber ein erster, deutlich Hinweis darauf, dass die Vollendung eines Essens nicht am Pass des Restaurants endet, sondern dass weitere Dinge hinzukommen müssen. Hier also als erstes eine Parallele zur Gastlichkeit, der dann gleich der nächste Schritt folgt, ein Schritt, der mich unbedingt an die Kommunikationstheorie und die Modelle von Sender, Botschaft und Empfänger erinnert, die ich schon oft im Zusammenhang mit dem Kulinarischen bemüht und analysiert hat: „Und schließlich müsste es dankbar genossen werden mit gutem Appetit“, heißt es da, und hier würde ich noch ergänzen, dass die Seite der Rezeption bei weitem nicht nur daraus besteht, dass vielleicht der Koch registriert, das seine Gerichte „gut ankommen“. Das kann jeder Mist. Die großen Erlebnisse sind ein anderes Kaliber.
Wir lernen von Wilhelm Busch, dass sich gutes Essen in einem sehr komplexen Feld nicht nur entfaltet, sondern nur dann vollendet, wenn das Feld auch tatsächlich so komplex gesehen wird, wie es ist. Das Alles hat nicht mit dem Verkomplizieren von Essen zu tun, sondern ist eine Realität, die sich überall und jederzeit abspielt. Sie findet in Gourmetrestaurants ebenso statt wie in Brauhäusern oder bei Fast Food-Ketten. Es geht auch nicht darum, ob man mit seinen Bemühungen Erfolg hat, und Erfolg ist überhaupt in diesen Zusammenhängen bestenfalls ein Indikator für partielles Funktionieren, nicht aber für eine Vollendung, für den Kunstgenuss, von dem Wilhelm Busch redet.
Mit Wilhelm Busch kochen heißt, die ganz großen kulinarischen Erlebnisse produzieren, die das erreichen, was andere Erlebnisse nicht erreichen. Mainstream etwa ist das Gegenteil.