Wie Sensorik funktioniert. Eine Seezunge und ein amüsanter Vergleich bei Steinheuer an der Ahr
Sensorische Aspekte gehören genauso zur Beschreibung von Gerichten wie zum Beispiel die Aromatik. Ihre Wirkung kann ganz ähnlich schwerwiegend sein – in guter wie in nicht so guter Richtung. Manchmal sind die Auswirkungen sogar sehr ähnlich: ein Gericht, das so erheblich überwürzt ist, dass man die Produkte nicht mehr schmecken kann, ist in von der Komposition her ähnlich sinnlos, wie ein Gericht, bei dem einige Texturen oder Temperaturen so dominant werden, dass man ebenfalls kaum etwas von den eigentlichen Elementen mitbekommt. Andererseits gilt das, was ich seit Beginn der Sensorik-Diskussion immer wieder gesagt habe: „Die Textur inszeniert das Aroma“. Die Textur (oder Temperatur) eines Elements sorgt dafür, wann und wie sich die Aromen aufschließen. Ist etwas zum Beispiel sehr fest oder sehr kalt, beschäftigt sich der Mund erst einmal mit der Wahrnehmung von Textur oder Temperatur, nicht aber den Aromen. Kompositionen, bei denen das perfekt funktioniert, sind dann für echte Hinschmecker ein Hochgenuß. Aber auch genussreduzierte Esser der üblichen Art profitieren in solchen Fällen von einer guten sensorischen Struktur. Für sie entwickelt sich dann oft alles in einer unerklärlichen Perfektion und Selbstverständlichkeit. Insofern nützt eine gute Sensorik allen Gästen. Leider spielt eine ausgeweitete Sensorik in den Ausbildungsplänen und Kochschulen (egal, ob Buch oder als Kursus) kaum jemals die Rolle, die sie angesichts ihrer Wirkung eigentlich spielen müsste. Es ist denkbar, dass jemand exzellent kochen kann (…was die Garungen etc. betrifft), dann aber Gerichte produziert, die sensorisch komplett unsinnig sind. Da müsste man also dringend etwas tun.
Es geht heute an die Ahr zu Senior-Chef Hans-Stefan Steinheuer und Schwiegersohn Christian Binder. Ich habe da zwei Beispiele, die jedes auf seine Art demonstrieren, welche Bedeutung die Sensorik hat.
Seezunge mit Blumenkohl, Saiblingskaviar und Ei-Vinaigrette
Das Gericht stammt aus dem Menü „Wurzeln“, in dem sich Klassiker des Hauses finden, die für die Entwicklung des Stils wegweisend und/oder typisch waren und sind. Das Gericht wirkt schon von der Anrichteform her allerdings absolut zeitgenössisch und verrät schon über den ersten Eindruck von den Proportionen, dass man sich hier genau bewußt ist, um was es geht und wie eine gute Sensorik funktioniert. Gerade bei Fisch, der ja von Natur aus nicht über ein intensives Aroma verfügt, spielt eine ausgefeilte Sensorik eine enorm wichtige Rolle. Bei Steinheuer hat man das aber im Griff und setzt auf einen gesteuerten zeitlichen Verlauf, der die würzigen Blumenkohlaromen, die gut zur Seezunge passen, so inszeniert, dass sich alles zusammenfügt. Die „Hilfe“ kommt vom zeitlichen Verlauf. Das Aroma der Seezunge wird erst nach einigen Sekunden wirksam, weil man das Fischfleisch erst zerkauen muss. Wenn man ihn mit anderen Aromen/Elementen kombiniert, die sich schneller oder langsamer aufschließen, bekommt er seinen Platz, wird bemerkbar und statt überlagert eingebettet. Genau das funktioniert hier – auf eine noch weiter differenzierte Weise. Die Seezunge wird durch ihre Aromatisierung durch die Ei-Vinaigrette erst einmal als Element verstärkt. Die Ei-Vinaigrette sorgt für ein ebenso feines wie kräftig-bodenständiges Aroma, das sich nahtlos an das Aroma des Fisches anschließt und ihn zu einem sensorisch deutlich prägnanteren Auftritt verhilft. Die Variationen vom Blumenkohl sind so gestaltet, dass man sowohl früh wirksame Begleitungen als auch eher spät wirksame Begleitungen bekommt. Insofern kann man das Gericht in ganz verschiedenen Zusammenstellungen essen und wird immer einen guten Akkord bekommen. Damit man – unabhängig von den einzelnen Elementen, ihren Aromen und Texturen – keine ungünstigen Proportionen bekommt, sind die einzelnen Elemente in ihrer Größe so eingestellt, dass sich schlechte Proportionen auch beim „ganz normalen Essen“ nicht ergeben. Ein Teelöffel voller Butterbrösel oder eine dickes Stück Strunk wären andererseits sicherlich ein Problem. Wenn man hier primär den Fisch isst und jeweils ein wenig von den Variationen (egal, ob einzelne Elemente oder mehrere Elemente) dazunimmt, wird sich immer das Bild eines sehr schön gewürzten Fisches mit Blumenkohl-Umspielungen ergeben.
Ein amüsanter Vergleich zwischen zwei Fassungen:
- Flußkrebse mit Gurke, Rettich, Kürbis, Sauerampfer und Reissud
- Gebeizte und geflämmte Lachsforelle mit Sauerampfercreme, eingelegtem Rettich, Gurke und Kürbis
Es hatte sich bei meinem Besuch so ergeben, dass ich dieses Gericht in zwei Fassungen probieren konnte. Fassung zwei ist eine Variante von Fassung 1, von den beiden Köchen für das Weihnachtsmenü der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung modifiziert. Die Modifizierung hatte etwas damit zu tun, dass ich die Flußkrebse als Hauptprodukt abgelehnt hatte, weil die Beschaffung von Flußkrebsen, die gut genug sind, um in diesem Rezept ihre Wirkung zu entfalten, für die Leser der FAS zu schwierig ist. Was man – wenn überhaupt – als Flußkrebs im normalen Handel bekommt, ist ja oft TK und eine ziemliche, sehr aromenfreie Katastrophe. Ich habe nachmittags die Fassung mit dem Lachs gegessen und am Abend dann innerhalb des Menüs die Originalversion. Beide basieren auf einem dezent würzigen Reissud auf dem Tellerboden, der die Elemente dezent zusammenhält. Man nimmt – auch weil er nur leicht gebunden ist – immer eine kleine Dosis von diesem Sud automatisch mit auf. Die marinierten Gemüse entfalten sich mit einer schönen, dezenten Säure und haben sehr gute Proportionen. Sie sehen zwar recht groß aus, sind aber dünn geschnitten und bleiben so leicht und immer gut akkordfähig. Bei der Stammversion gibt es dann auch noch Blüten dazu. Soweit die Basis. Der „Rest“ war es dann, der mich sehr zügig zu der Erkenntnis brachte, dass die scheinbar abgespeckte Version für das Weihnachtsmenü die bessere ist.
Und das kommt so. Im FAS-Menü haben wir ein Lachsforellentatar, das in dünne Scheiben von Lachs eingewickelt und eine Art große Praline ist. Dazu gibt es kleine Stückchen, die ganz kurz mit dem Brenner angeflämmt werde. Der Geschmack der Praline ist sehr schön präsent und durchaus kräftig. Der der angeflämmten Stücke ist die eigentlich große Überraschung, weil man einen wunderbar jodig-frischen Fisch plus klar definierter Noten vom Flämmen bekommt. Das Alles schmeckt im Zusammenhang des Gerichtes sehr gut und viel feiner, als man es sich vorstellen könnte. Grund dafür ist, dass die Lachselemente genügend eigene Kraft haben, um gegenüber dem säuerlich marinierten Gemüse und der Sauerampfercreme zu bestehen. Sie sind sozusagen voll akkordfähig und schaffen dadurch, dass sie mit all diesen Elementen gut funktionieren ein ausgesprochen vielfältiges, sehr gut und professionell wirkendes Bild. Das werden auch diejenigen Leser der FAS, die dieses Gericht nachkochen, ohne weiteres mitbekommen und als große Finesse erleben (vorausgesetzt natürlich, dass sie eine gute Lachsforelle haben).
Die Flußkrebse schaffen das nicht. Sie sind gut, aber natürlich nicht so kräftig und auch in der sensorischen Ansprache und Länge nicht so wirksam. Sie werden zu einem Element unter anderen, sind aber nicht in der Lage, wesentliche Akkorde zu bilden. Man kann sie isoliert essen und wird sein Vergnügen haben, aber eben nicht wirklich im Zusammenhang.
Und so ist die „abgespeckte“ Version des Rezeptes mehr oder weniger zufällig zur besseren geworden. Der Grund ist exakt das, was ich oben beschrieben habe, nämlich die sensorische Struktur.
Lieber Herr Dollase, ich lese ihre Wahrnehmungen mit grossem Vergnügen und sie sind für mich der perfekte Sensoriker. Ich möchte nur anmerken dass diese Form der Küchenphilosophie hundert Prozentig auch auf den Wein ummünzbar ist. LG und frohes Fest, Franz Schafelner