Wenn es nur auf kulinarische Qualität ankommt. Das Buch von Franck Giovannini

Franck Giovannini: 5 Saisons chez nous. Favre, Lausanne 2021. 276 S., geb., Großformat. 77 Euro (in französischer Sprache)

 

Dieses Buch ist aus verschiedenen Gründen ein ganz besonderes Buch, das vor allem sehr gute Köche interessieren wird. Franck Giovannini ist formal erst einmal Drei Sterne-Koch und arbeitet im Restaurant „Hôtel de Ville“ in Crissier. Das wiederum muss man eventuell kurz erläutern. Das mitten in Crissier gelegene und eigentlich nicht unbedingt protzig aussehende Restaurant ist eine der wichtigsten Adressen der modernen Spitzenküche, und das schon seit Jahrzehnten. Giovannini ist der vierte Küchenchef in Folge, der hier mit drei Sternen ausgezeichnet wurde. Der erste in dieser Reihe, die einige Besonderheiten aufweist, war Frédy Girardet (geb. 1936), der vor allem mit seiner in der Präzision an Joel Robuchon erinnernden Kochtechnik glänzte. Es folgte Philippe Rochat (1953 – 2015), der als begeisterter Radsportler bei einer Ausfahrt plötzlich einen Schwächeanfall hatte und starb. Sein Nachfolger Benoît Violier (1971 – 2016) nahm sich das Leben. Franck Giovannini (geb. 1974) ist – wie seine Kollegen – lange Jahre durch die unglaublich professionelle Schule dieses Restaurants gegangen und war vor Guy Savoy schon einmal Nummer 1 von „La Liste“, des alle anderen Rankings einbeziehenden französischen Rankings.

Warum die Küche im „Hotel de Ville“ so besonders ist, liegt vor allem an der Konsequenz, mit der hier gearbeitet wird. In dieser Küche wird gemacht, was man machen will – ohne irgendwelche erkennbaren Grenzen beim Aufwand für Produkte und Personal. Man hat hier rund 60 Mitarbeiter in Küche und Service, und schon zu Zeiten von Philippe Rochat war das typische Bild der Küche ein Küchenchef mit Mikrofon-Headset und eine unüberschaubare Menge von Köchen, die unglaubliche Dinge produzierten. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine prall gefüllte, oben glatt abgeschnittene Geflügelkeule, deren Anschnitt eine Art Schachbrett aus Unmengen von kleinen, absolut gleich großen Quadraten zeigte… Die riesigen Langustinen, die ich hier mit einem ganz und gar auffallend frischem und präzisen Geschmack bekommen habe, habe ich kaum jemals in dieser Qualität erlebt. Man kauft anscheinend alle Exemplare, die am Markt sind, und ist bereit, jeden Preis zu bezahlen…Man scheint hier allgemein so zu arbeiten, dass keine Idee, und sei sie noch so komplex, verworfen wird, sondern zusammen mit einer Brigade, in der vermutlich alle Postenchefs und ihre Stellvertreter das Zeug zum Spitzenkoch haben, die Umsetzung realisiert wird. Insofern erinnert diese Küche von der Größe und „Schlagkraft“ der Brigade stark an Ferran Adrià und seine Küchenstruktur.

 

 

Auch bei diesem Buch kommt man angesichts der Gerichte kaum aus dem Schmunzeln heraus. Es gibt immer wieder Leute, die bei ihrer Küche von der großen kulinarischen Oper geredet haben. Hier nun ist sie tatsächlich anzutreffen. Die Preise sind im Moment: Degustationsmenü 390 CHF, Vorspeisen 80 – 120, Fisch 90 – 120, Fleisch 85 – 120, div. große Stücke für 2 Personen (z.B. Bresse, Morcheln, Vin Jaune 220 für 2 Personen). Das ist – verglichen mit dem ein oder anderen Pariser Restaurant (Guy Savoy 570 Euro für das Degustationsmenü), noch nicht einmal besonders teuer. Aber: das Restaurant ist groß und immer voll. Mittags bietet man sogar für 215 CHF ein Menü an, dass man innerhalb von 2 Stunden realisiert.

Und nun das Buch dazu.

 

Das Buch

Zu Beginn und am Ende gibt es etwas zum Restaurant, seiner Geschichte, der Geschichte der vier Drei Sterne-Köche und mehrere beeindruckende Bilder der riesigen Küchen- und Servicebrigade. Die Gliederung der Rezepte nach Frühling, sommerlich, Sommer, Herbst und Winter ist nicht wirklich zwingend, und auch das Drumherum wie Lieferanten und Grundrezepte sind Standardthemen. Bei den auf zwei Seiten eher kompakt dargestellten Rezepten gibt es eine Besonderheit. Das große Bild links zeigt die Gerichte wie sie im Restaurant präsentiert werden. Rechts steht der Text, dazu noch ein Bild einer Art vereinfachten Anrichteform, wie man sie anwenden kann, wenn man das Rezept optisch nicht so aufwändig präsentieren will. Diese Bilder unterscheiden sich manchmal beträchtlich und manchmal weiß man auch nicht so ganz genau, was denn unter sensorischen Aspekten eigentlich die bessere Wahl wäre. Dass für den Rezepttext immer eine halbe Seite ausreicht, hat auch etwas damit zu tun, dass sich Giovannini nicht wirklich mit allen Einzelheiten aufhält. Oft sieht man – zum Beispiel bei einem Steinbutt-Gericht – ein Stück Schnitte, das in dieser unglaublich rechteckigen und durch und durch knapp gegarten Form im Text nicht wirklich komplett beschrieben wird. Profis werden solche „Tücken“ schnell erkennen. Man hat hier eben nicht für Hobbyköche geschrieben, sondern seine Arbeit eher im großen und ganzen dokumentiert. Sehr genau sind dafür die Garzeiten/Ofentemperaturen/Kerntemperaturen. Und – sie sind oft sehr knapp gehalten. Ich habe in meiner Küche zu Hause immer noch ein Blatt mit Kerntemperaturen von Philippe Rochat hängen, weil sie sehr genau sind und weil sie die Übergarung als eines der größten Übel für gute Küche ansehen. Das ist also auf alle Fälle auch bei Giovannini der Fall.

 

 

Die Stilistik ist die einer fortgeschriebenen Kreativität, also Gerichte, die weitgehend aus dem klassischen Fundus des Hauses an Kochtechniken/an Materialbehandlung kommen und sich dann zu neuen – oder besser: variierten – Aromen vorarbeiten. Die Titel sind in der Regel beste französische Speisekarten-Lyrik. „Effilochée de beau dormeur parfumé à l’anis, fenouils et courgettes de nos champs déglacés au Calamin“. Oder: „Sole caramélisée facon meunière à la chair de citron, jus délicat, soigneusement acidulé”. Oder : “Jeune volaille du bout du lac aux inflorescences de Noville, cuisses fondant facon salmis”. Wer sich dann durch diese Gedichte arbeiten will, braucht schnell einmal ein Lexikon… Wichtig scheint mir eher zu sein, die Geschmacksbilder und die Auswirkungen der Garungen einmal auszuprobieren. Dazu kommt auch ein wichtiger Hotel-de-Ville-Aspekt, nämlich einerseits das nie endende Spiel mit Butter, andererseits die häufige Verwendung von Säure – vor allem in Form von Zitrusfrüchten. Insofern sollte man mit der französischen Sprache schon ein wenig zurechtkommen. Das sonst auch von mir immer wieder empfohlene „Überlesen“ von Rezepten in anderen Sprachen, um eine Art Orientierung zu bekommen, bringt hier nicht so viel.

 

Fazit

Ein sehr schönes, sehr anregendes, angesichts manch karger Rezepte in manch kargen Büchern geradezu anarchistisches Buch von einem Restaurant, dass sich in einem Land befindet, wo man so etwas machen kann und über viele Jahre darin eine große Kontinuität entwickelt hat. Für Spezialisten gehört dieses Buch – trotz aller Einschränkungen und der Orientierung an sehr guten Köchen als Leser – zu den schönsten und besten der letzten Zeit – Immer vorausgesetzt, man mag die Kochkunst in allen ihren Facetten.

Das Buch bekommt zwischen 2 und 3 grünen B, weil die Kreativität in diesem Umfeld die einzige Bremse ist, auf die man manchmal tritt.

Fotos: Pierre-Michel Delessert

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