Emily Takoudes (Commissioning Editor): Todays Special. 20 Leading Chefs Choose 100 Emerging Chefs. Phaidon Press, New York und London 2021. 440 D., geb., Hardcover, ca. 35–42 Euro (in englischer Sprache)
Ich muss einmal wieder etwas aus dem Hintergrund berichten. Vor einigen Jahren war ich einmal mit Überlegungen befasst, wie man die besten und interessantesten Restaurants der Welt in einem Buch oder in einer Serie zusammenbringen könnte. Ich fand die Idee faszinierend, weil mehr und mehr deutlich wurde, dass eine neue Zeit angebrochen war. Früher gab es die „lokalen“ Restaurants mit ihren lokalen Traditionen und Eigenarten. Dazu kamen mehr oder weniger typische, auf jeden Fall sehr französisch beeinflusste Restaurants, die dann gegen Ende des letzten Jahrhunderts auch noch explizit weltweit von berühmten französischen Köchen (wie Ducasse und Robuchon, aber auch viele andere) eröffnet wurden. Das ging dann einige Jahre so, bis – nicht zuletzt unter dem Einfluss der neuen Regionalität wie sie aus den nordischen Ländern kam – auch zunehmend eine internationale Moderne sichtbar wurde, die erkennbar ähnlich dachte, für ihre kulinarischen Gedanken aber eine spezifische, regional verwurzelte Sprache fand. Könnte man das irgendwie in ein Buch bringen?
Die Überlegungen gingen in Richtung regionaler „Kommissare“, die nach einem sorgfältig diskutierten und festgelegten System Vorschläge machen sollten. Niemand kann alle wichtigen Restaurants zeitnah besuchen. Insofern schien die Lösung mit den Kommissaren eine gute und realisierbare. Wie immer scheiterte die Umsetzung an den Kosten – obwohl ich immer noch daran glaube, dass man eines Tages den Markt für solche Bücher groß genug findet, vor allem dann, wenn man sie weltweit verkaufen kann. Wie dem auch sei: das hier heute vorgestellte Buch „Todays Special“ bringt uns etwas Ähnliches und nutzt für die Zusammenstellung weltweiter Kochkünstler das Know How bereits bekannter Köche. 20 „führende Köche“ benennen insgesamt 100 weitere, die sie für besonders interessant und zukunftsträchtig halten. Das klingt gut und verspricht ein farbiges Programm mit vielen neuen Namen, von denen man normalerweise nicht so ohne weiteres hören würde.
Worüber man allerdings sofort ein wenig stolpert, ist die Liste dieser 20 „Leading Chefs“. Wer hier die bekanntesten und wichtigsten Namen der Welt erwartet, wird erst einmal wenige davon finden, und manchmal ist zwar der Name bekannt, aber niemand käme auf die Idee, den Koch/die Köchin zu den führenden Köchen der Welt zu zählen. Dabei sind zum Beispiel Daniel Boulud, Dominique Crenn, Virgilio Martinez, Yotam Ottolenghi, Yoshihiro Narasawa, Ana Ros, David Kinch oder Marcus Samuelsson. Wer jetzt schon bei dem ein oder anderen Namen ins Grübeln gerät, wird sich noch mehr über Daniela Soto-Innes, Eyal Shani, David McMillan oder Raquel Carena wundern. Letztere etwa kocht im „Le Baratin“ in Paris, ein Kult-Bistro, dessen Küche mir aber qualitativ immer irgendwie etwas zu denken gegeben hat.
Ist diese Auswahl nun ein Makel? Nicht unbedingt. Erst einmal sind die besten Köche nicht zwangsläufig die besten Kenner der Szene, zweitens ergibt sich auf diese Weise ein Spektrum an Restaurants, das aus ganz verschiedenen Küchen besteht. Und drittens beweist dieses Buch mit seiner ungeheuren Vielfalt, dass der „Versuchsaufbau“ vielleicht unterschiedlich gesehen werden kann, das Ergebnis aber hochinteressant ist. Das Buch ist übrigens so etwas wie der Nachfolger von „Coco“ aus dem Jahr 2009 und vom gleichen Verlag, ebenfalls einer der seltenen, weltweit aufgestellten Übersichten.
Das Buch
Nach lediglich einer Seite Vorwort der Herausgeberin kommt man hier gleich zur Sache. Jeder vorgeschlagene Koch/Köchin bekommt 4 Seiten. Unter dem jeweiligen Namen steht der des empfehlenden Kochs und ein einführender Text, in dem der empfohlene Koch/Köchin kurz vorgestellt und die Gründe für die Auswahl genannt werden. Die vorgestellten Gerichte stammen jeweils aus unterschiedlich großen Menüs, die Rezepte sind – platzbedingt – nur teilweise abgedruckt. Es gibt eine unterschiedlich große Anzahl von Bildern der Gerichte und jeweils auch ein paar Bilder, die die Protagonisten und meist auch die Restaurants zeigen. Am Schluß des Bandes gibt es Kurzbiographien der empfehlenden und der empfohlenen Köche. Es ist also alles getan, um angesichts der großen Zahl der Empfohlenen ein Maximum an kompakten Impression zu bekommen.
Zuerst zu den Bildern. Sie zeigen naturgemäß kaum Luxusrestaurants mit Auffahrten und Car-Service, sondern „ganz normale“ bis ziemlich kleine Etablissements, Räume, in denen sich die Talente entfalten können, kreative Orte, die im Schnitt eher an die besten Sushi-Bars in Japan als an europäische Spitzenrestaurants erinnern. Weiße Tischdecken sieht man jedenfalls so gut wie nie. Das Ganze hat optisch eine Art Werkstattcharakter mit einem deutlichen Schwerpunkt beim Essen und nicht bei den Impressionen. Wenn man – selten – Bilder mit Gästen sieht, sind diese meist jünger und nicht formell gekleidet. Wenn man so will sieht man hier ein wenig die Folgen, die Joel Robuchon mit seinen „Atelier“ – Restaurants begonnen hat: gute Küche ohne allzu viel Formalitäten. Und was dann bei Robuchon noch wie Luxus aussah, erfährt mittlerweile eine weitere Entspannung durch ein Ambiente, das quasi ausschließlich in Richtung eines modernen Bistro-Typus geht.
Während also die Bilder der Restaurants in allen Ländern eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit haben, geht es beim Essen ausgesprochen bunt zu. Nein, es geht nicht nur um Avantgarde im engsten Sinne, um Höher, Tiefer, Weiter. Die stilistisch sehr unterschiedlich arbeitenden „Leading Chefs“ haben auch sehr unterschiedliche KöchInnen empfohlen. Ein kleiner Focus liegt immerhin auf Nachhaltigkeit, Bio und lokalen Produkten, ohne dabei aber allzu sehr in Theorie zu verfallen. Starke regionale Züge zeigt etwa Pamela Brunton vom „Inver“ in Cairndow/Schottland oder – deutlich avantgardistischer – Manoella Buffara vom „Manu“ in Curitiba/Brasilien. Zu den über die ganze Welt verteilten, sehr kreativen und präzise arbeitenden Asiaten gehört Alex Chen vom „Boulevard Kitchen & Oyster Bar“ in Vancouver/Kanada. Schon bekannter ist Maca de Castro aus Mallorca mit einer typisch spanisch reduzierten und regional verankerten Küche. Es geht auch nach Afrika zu Michael Elégbèdé von der „Itan Test Kitchen“ in Lagos/Nigeria (so etwas möchte man sofort probieren…) oder zu jungen japanischen Köchen wie Takashi Endo vom „Restaurant Zan“ in Kanazawa/Japan. Narisawa empfiehlt zum Beispiel auch einen jungen Sushi-Meister namens Izumi Kimura vom „Sushijin“ in Toyama/Japan wegen seiner „überragenden Kenntnis von Fisch“. Den süffig-weltstädtischen Trend vertritt zum Beispiel Yuval Leshem vom „Hasalon“ in New York, und längst gibt es auch in China Beachtliches, zum Beispiel von Rosetta Lin vom „Voisin Organique“ in Shenzhen/China, die längst minimalistisch-avantgardistisch arbeitet und auch in anderen Metropolen reüssieren würde. Dies sind nur ein paar Beispiele, man könnte sehr viele Namen nennen. Bis auf wenige Ausnahmen beeindrucken alle Genannten mit Ideen, die gerade aus mitteleuropäischer Sicht sehr interessant sind.
Fazit
Das Buch ist für echte Foodies (hier scheint mir der Begriff gut zu passen) ein absolutes Muss. Es gibt kaum eine andere Möglichkeit, in so kompakter Form soviel Neues und Individuelles zu entdecken wie in diesem Buch. Und weil für echte Gourmets auch Informationen quasi „essbar“ sind, muss man dieses Buch lesen. Auch ich bin nach Jahrzehnten der Arbeit in diesem Gewerbe und als Besitzer einer großen kulinarischen Bibliothek immer noch elektrisiert von Büchern, in denen einfach eine enorme Menge von neuen Informationen zu finden ist. Und hier geht es eben wohltuend sachlich und konzentriert zu, hier hat man nie den Eindruck, als ob Irgendetwas in irgendeiner Weise forciert verkauft werden soll.
Das Buch bekommt drei grüne BBB
Fotos © Phaidon Press (abfotografiert von Jürgen Dollase)