Was wird das nächste große Ding? Chancen und Perspektiven aktueller kulinarischer Strömungen

Vorab erst einmal eine Präzisierung. Es soll hier um die kulinarischen Tendenzen im engeren Sinne gehen, also nicht um die eher gastronomischen Trends wie etwa das „Casual Fine Dining“ oder – wie zuletzt hier erläutert – die „Neue Mitte“.
In den letzten Jahrzehnten haben sich verschiedene Strömungen in der kreativen (Spitzen-) Küche entwickelt, die meist etwa 10 bis 15 Jahre wirksam waren und sich über viele Köche teilweise weit verbreitet haben. Ein kurzer Blick auf die letzten Trends nach dem Jahr 2000 zeigt nun, dass viele von ihnen schon – sagen wir: etwas länger dabei sind und nicht mehr wirklich zu den aktuellen, innovativen Strömungen gezählt werden können. Eine solche Kennzeichnung soll hier ausdrücklich nicht wertend verstanden werden. Auch die klassisch-französische Küche ist nicht deshalb aus der Welt, weil sich junge Köche eher selten für sie interessieren.

Hier erst einmal der Blick auf ein paar Daten: Ferran Adrià hat sein „El Bulli“ im Jahre 2011 geschlossen. Der Höhepunkt seiner Arbeit lag etwa zwischen den Jahren 1995 – 2010. Sein Einfluss war gewaltig und ging gewaltig zurück, nachdem er sich erst einmal zurückgezogen hatte. Während es in Spanien noch viele Einflüsse seiner Arbeit gibt, sind sie in Deutschland vordergründig selten geworden, spielen im Dettail aber immer noch eine Rolle. Von „Molekularküche“ redet allerdings so gut wie niemand mehr. Was leicht vergessen wird, ist, dass das „Noma“ von René Redzepi bereits im Jahre 2003 eröffnet wurde. Das erste Noma-Buch erschien 2006, das zweite , “Noma.Time and Place in Nordic Cuisine“, bereits 2010. Die neue skandinavische Küche und die vom Nova-Regio-Prinzip weltweit beeinflussten Küchen gibt es also schon weit mehr als ein Jahrzehnt.

In Deutschland hatte Matthias Schmidt im Jahr 2008 die Küche der „Villa Merton“ in Frankfurt übernommen. Im Jahr 2012 präsentierte er eine hervorragende Gourmetvision für meine FAZ-Geschmackssache mit einer radikal lokal orientierten Küche. Insofern sind einige Berliner Restaurants aus dieser Abteilung eher etwas spät dran. Die Gemüseküche gibt es auf hervorragendem Niveau in Deutschland ebenfalls schon etwas länger. Eine Gourmetvision mit dem Duo Köthe/Ollech gab es schon 2004, mit Michael Hoffmann 2008 und schließlich 2012 – ebenfalls mit Michael Hoffmann – eine Gourmetvision mit einer reinen Gemüse- und Kräuterküche. Und Christian Bau, dessen japanisch inspirierte Küche zu einer der einflußreichsten Impulse in Deutschland wurde, realisierte bereits im Jahre 2009 eine FAZ-Gourmetvision, die ausschließlich japanisch inspirierten Gerichten gewidmet war.
Unabhängig davon, wie lange sich diese großen kreativen Einflüsse noch weiter entfalten oder halten können, wird so langsam die Frage interessant, aus welcher Ecke denn die Impulse für die Zukunft kommen könnten. Wird es wieder irgendwo ein ganz “großes Ding“ wie die Molekular- oder die Nova-Regio-Küche geben? – Ich glaube, dass es auf zunächst unabsehbare Zeit keinen solchen kreativen Großtrend mehr geben wird. Mittlerweile hat sich die Stilistik der Spitzenküche weit aufgefächert und deckt bereits eine Menge von ganz unterschiedlichen Bereichen ab. Eine Andersartigkeit in dem Ausmaß, wie das Adrià oder Redzepi und Co. gebracht haben, scheint da kaum noch möglich zu sein.

Einige schon existierende Trends haben zudem nicht unbedingt das Potential, in absehbarer Zeit für die besten Restaurants des Landes so große Reize zu setzen, dass sich auffällige Tendenzen ergeben könnten. Die Nova-Regio-Küche wird sich als ein Zweig der Spitzenküche sicher noch etwas weiter etablieren, aber wohl kaum weitere elektrisierende Impulse setzen. Die neue Regionalküche mit ihren Optimierungen und Interpretationen traditioneller Küche hat da größere Chancen, muss aber erst noch qualitative Spitzen entwickeln, die allseits echte Begeisterung auslösen können. Die asiatischen Einflüsse werden auch weiterhin kommen und gehen – es gab sie schließlich auch vor Jahrzehnten schon einmal. Sie werden allerdings bleibende Spuren hinterlassen, weil verschiedene ihrer Zutaten und Zubereitungen einfach überall gut zu verwenden sind. Was also kann oder könnte so faszinieren, dass sich klare Tendenzen ergeben?

Die Zeit für eine neue State-of-the-Art-Küche ist gekommen

Die Auffächerung der Spitzenküche in eine Reihe von deutlich unterschiedlichen Konzepten kann man jetzt schon als eine Art historische Epoche bezeichnen. Nach langer Zeit einer deutlichen Fixierung auf die klassisch-französische Spitzenküche war diese Entwicklung überfällig. Nachdem nun aber der Eindruck entstehen kann, es sei erst einmal genug in allen möglichen Richtungen exploriert, wird klar, dass die nächste Stufe eine Küche ist, die diese unterschiedlichen Aspekte wieder zusammenführt. Eine solche Küche, die den Stand der Kochkunst in allen möglichen Aspekten nutzt, deutet sich bei verschiedenen Köchen bereits an. Diese Köche setzen das ganze Wissen der Kochkunst ein. Sie wissen, was klassische Verfahren vor allem im aromatischen Sektor an faszinierenden Ergebnissen bringen können, sie nutzen Techniken der Molekularküche, um ihre Vorhaben im Detail umzusetzen, sie schätzen japanische Techniken und Aromen von exzellenten Sojasaucen und Balsamessigen bis zu Dashi und Miso, sie haben den Nova-Regio-Ansatz verstanden und erweitern die Palette ihrer Möglichkeiten um archaische Gartechniken, Fermentierungen oder das Spiel mit milchsauren Produkten. Sie nutzen lokale Produkte und lokale Traditionen und Einflüsse aus dem vegetarischen / veganen Bereich und manchmal auch Elemente aus der populären Esskultur.
Zu State-of-the-Art-Köchen werden sie aber nicht dadurch, dass sie ein wildes Sammelsurium von Inspirationen irgendwie zusammenfügen, sondern dadurch, dass sie in großer Freiheit, mit viel Übersicht und einer subtilen Bewertung der Vorteile der zur Verfügung stehenden Mittel eine Küche realisieren, die zu neuartigen Ergebnissen voller Faszination kommt, weil sie Dinge zusammenbringt, die bisher so nicht zusammengekommen sind. Dabei nutzen die neuen State-of-the-Art Köche auch sehr genau eine ausgeweitete Sensorik und immer wieder auch in einer subtilen Form die Kenntnisse über den assoziativen Kontext, beziehen also Wissen und Erfahrungen der Esser explizit in ihre Arbeit ein.

Die Zahl der Köche, die im Moment explizit zu einer solchen Küche in der Lage sind, hält sich noch in Grenzen, wird aber zunehmend größer. Mit an ihrer Spitze steht sicherlich Björn Frantzén aus Stockholm, der für viele Beobachter mittlerweile einer der besten Köche der aktuellen Szene ist. In Deutschland gibt es den Drei Sterne-Koch Marco Müller vom „Rutz“ und auch hervorragende Arbeiten vom noch jungen Zwei-Sterne-Koch Tony Hohlfeld vom „Jante“ in Hannover. Jan Hartwig vom „Atelier“ hat seine eigene Variante, jenseits der Grenzen glänzt in diesem Fach schon seit einiger Zeit Jonnie Boer von der „Librije“ in Zwolle. Es gibt weitere Namen, wobei die stilistische Präsenz ein wenig unterschiedlich ausfällt – zum Beispiel weil nicht alle von ihnen das ganze Spektrum gleichermaßen nutzen.

Eine neue Welle von State-of-the-Art-Küche ist naheliegend, kulinarisch und im engeren Sinne professionell sehr logisch. Sie hat alle Möglichkeiten zu faszinierenden Ergebnissen, die durchaus auch eine große Breitenwirkung haben können.

3 Gedanken zu „Was wird das nächste große Ding? Chancen und Perspektiven aktueller kulinarischer Strömungen“

  1. Man sollte den Einfluss der beiden großen Revolutionäre Adria und Redzepi nicht auf das Kreieren zweier flüchtiger Trends reduzieren. Denn immerhin stand am Ende ihrer Entwicklung ein zukunftsweisender Weg hin zu einer nachhaltigen terroirgeprägten Küche und weg von einem System Michelin, wo einzelne Franchisenehmer den immergleichen Mix aus den aktuellen internationalen Trends in drei verschiedenen Qualitätsstufen anbieten. Und dies sind jenseits der neu hinzugewonnenen Kochtechniken die viel bedeutsameren Errungenschaften, die auch hoffentlich bleiben werden. Bei aller Hochachtung vor den großen Generalisten – ein Rückschritt zu einem System Michelin 2.0 wäre fatal, nämlich eine Spitzenküche, die bar jeder landestypischen Spezifität egal ob in New York, Berlin oder Bensberg im Grunde immer die gleiche ist.

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  2. Mir erscheint ihre Schlussfolgerung sehr logisch und plausibel! Ich habe mir diese Frage auch schon oft gestellt und in der gleichen Richtung beantwortet. Die Kochkunst wird damit gewissermaßen auf ein neues Level katapultiert, auf dem sich theoretisch unendlich viele geniale Individualitäten entwickeln und entfalten können und so eine unglaubliche Vielzahl an einmaligen, sehr persönlichen, überraschenden, aufregenden und völlig neuen Ansätzen entstehen kann. Und das vielleicht nicht nur in der Highend-Küche, sondern bis hinunter zum Street food. Das erinnert mich an die Situation der Malerei um die vorletzte Jahrhundertwende: als das Konzept der Gegenständlichkeit durch die Abstraktionen abgelöst wurde, gab es in kreativer Hinsicht eine wahre Explosion und ein bis dahin unvorstellbares Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten

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