Was große Kochkunst ist und was die besten Qualitäten auch in den Details vom Produkteinkauf bis zu den Garungen und Aromatisierungen sind, scheinen wir zu wissen. Wir finden die Kriterien zum Beispiel in den Restaurantführern, die schon seit über einhundert Jahren mehr oder weniger direkt definieren, wo oben ist. Bis auf den Gault Millau, der seine Höchstnote von 20 Punkten bisher nur extrem selten vergeben hat, scheinen alle Führer mit dem Absolutheitsanspruch ihrer Höchstnoten keine Probleme zu haben. Für sie scheinen größere Mengen von Restaurants so gut zu sein, dass sie ihre Höchstnote verdienen, man redet von maximaler Perfektion und ähnlichen Dingen. Und dann kommt es zu einem Effekt, den man beim Konsumverhalten sehr vieler Leute beobachten kann, die nicht wirklich wissen, was es alles gibt. Sie wählen aus dem aus, was angeboten wird und sind zufrieden damit. Dieses Verhalten führt dazu, dass man zum Beispiel bei der Gartengestaltung das Gefühl hat, Alles käme aus dem gleichen Supermarkt: in einem Jahr der Schotter für den Vorgarten, in anderen Jahren schreckliche Fenster mit Plastiksprossen, dann wieder proportionslos angeklebte Wintergärten oder „This years Model“ unter den millionenfach verkauften Gartenmöbeln. Man lebt mit dem, was ist und ist damit zufrieden.
Wenn man etwas Abstand nimmt, wird klar, dass wir uns auch bei dem, was Kochkunst darstellt, quasi nur an dem orientieren, was aktuell existiert. Normalerweise würde man dann sagen: „O.k., wo ist das Problem? Das haben wir doch in allen möglichen Bereichen genauso.“ Dem muss widersprochen werden, und diese Erkenntnis sollte Auswirkungen auf unser Denken über die Kochkunst haben. Wenn wir die ambitionierte Kochkunst nicht nur als Herstellung einer Ware, sondern immer auch als einen intensiven kreativen wie kommunikativen Prozess und vor allem auch als individuelle Ausdrucksmöglichkeit verstehen, findet sie im Vergleich zu anderen Künsten in einem erheblich eingegrenzten, beschränkten Rahmen statt, der ihre Entwicklung erheblich behindert.
Der Istzustand: ein enges Korsett ohne große Möglichkeiten auszuscheren
Picassos Satz „Der Handwerker macht, was er verkaufen kann, der Künstler verkauft, was er gemacht hat“ zeigt sich bei der Kochkunst in seiner ganzen, nüchternen Schwere. Man macht in allererster Linie und fast ausschließlich nur das, was möglich ist, was ankommt. Die Kochkunst wird nicht subventioniert (die – sagen wir: moderate Unterstützung in dem ein oder anderen großen Haus, die letztlich ebenfalls immer kommerziell motiviert ist, lassen wir einmal beiseite), muss also ihr Geld immer selber verdienen. Dieser Mechanismus verhindert weitgehend die Entwicklung einer Kreativität, die explorativ ist und auch einmal Grenzen überschreitet. Es gibt diese Kreativität trotzdem, aber sie entsteht weltweit in der regel nur dort, wo sich besondere Umstände ergeben haben – etwa beim „Fäviken“ „El Bulli“ etc. oder auch einigen sehr kleinen Restaurants, die mit einem begrenzten Wareneinsatz extreme Gerichte realisieren. Die Freiheit des „ganz normalen Sternekochs“ ist im Grunde eine Arbeit in latenter Unterfinanzierung, in einer bis auf wenige Ausnahmen erheblichen Unterbesetzung der Küche, ohne eine Promotion, die auch nur halbwegs diesen Namen verdient, und ohne wesentliche Drähte zu wichtigen Medien, die dieser Arbeit nützlich sein können – ganz zu schweigen von einem Kontakt zu Meinungsführern wie er in anderen Künsten oft schnell für eine bundesweite Bekanntheit sorgt (und ich meine da nicht ein paar peripheren Mini-Medien).
Wer in Deutschland (und nicht nur da) eine extrem kreative Küche versuchen will, ist in der regel aus vielen Gründen zum Scheitern verurteilt. Das „System Gourmetküche“ (also alle Faktoren von der Produktion bis zur Rezeption etc. zusammengenommen) ist in letzter Instanz kein Feld zur Ermittlung dessen, was man machen könnte, es ist – verkürzt gesprochen – anti-kreativ und im Kern unter diesem Aspekt nicht künstlerisch. Insofern ist auch die oft zu hörende Behauptung, Kochen sei Handwerk und keine Kunst, Ergebnis einer Vielen kaum bewußten Einengung der Kochkunst durch die Umstände unter denen sie betrieben werden muss und keineswegs eine grundsätzlich gültige Aussage.
Die Teilnehmer des real existierenden „Systems Gourmetküche“ laufen Gefahr, den Blick dafür zu verlieren, was möglich ist.
Die gravierendste Entwicklung ist wohl, dass heute Köche, Gourmets und die begleitenden Medien und Führer den Blick dafür verloren haben, was die Kochkunst alles erreichen könnte. Selbst kleinste Abweichungen werden schon als kreativ gefeiert, größere Abweichungen führen dagegen regelmäßig zu großer Unruhe und oft zu verschieden motivierten Ablehnungen. Ich habe lange Jahre mit der FAZ-Gourmetvision versucht, unseren kreativsten Köchen Ideen zu entlocken, die neu sind. Das ist einerseits in Maßen gelungen, andererseits kam es quasi nie zu Ideen, die wirklich den Rahmen sprengten. Bis auf wenige Ausnahmen gab es bei der oft komplexen Vorbereitung kaum jemals eine Idee, die zeigte, dass ein Koch wirklich weit über das hinausdenken konnte, was aktuell passierte. Bis zum heutigen Tag (und natürlich immer mit kleinen Ausnahmen) gibt es so gut wie nie Ansätze, die wirklich revolutionär sind, schlimmer noch, man kann sich Revolutionäres gar nicht erst vorstellen, weil man meint, so etwas gäbe es nicht. Diese komplett falsche, eingeengte Sehweise ist heute Common Sense. Man lebt in einer Kiste und weiß nicht, dass es außerhalb der Kiste ein großes Universum gibt.
Die subventionierte Hochkultur ist da ganz anders aufgestellt
Viele Köche kennen zum Beispiel kaum etwas von dem, was sich „Neue Musik“ nennt. Es ist eine Sparte mit experimenteller Musik, die mittlerweile schon seit über 100 Jahren existiert und Folge einer radikalen Ausweitung dessen war und ist, wie man Klänge erzeugt und was man damit machen kann. Ich zitiere dieses Beispiel hier aber nicht primär, um die Distanz zwischen populärer musikalischer Kultur und der kreativ-experimentellen Seite zu demonstrieren, sondern um an diesem Beispiel zu zeigen, wie sich diese Musiksparte institutionell entwickeln konnte. Auch ohne Zuspruch eines breiten Publikums hat sie längst Eingang in die Arbeit der Hochschulen gefunden, es gibt Festivals für Neue Musik auf der ganzen Welt, staatlich gefördert und das bis in das Kulturprogramm vieler Kommunen hinein. Die Radiosender haben ihre speziellen Abteilungen für so etwas, wenn sie nicht gleich – wie der WDR mit dem 1951 gegründeten Studio für elektronische Musik – direkt an der kreativen Exploration beteiligt sind.
In den Opernhäusern und Theatern gibt es schon seit langer Zeit Studiobühnen, in den Experimentelles stattfinden kann und ganz allgemein ist man sich in den subventionierten Künsten weitestgehend darin einig, dass man eben nicht in einer geschlossenen Kiste lebt und arbeitet, sondern das ganze System künstlerisch davon profitiert, dass man der Kreativität Räume schafft.
In meinem Entwurf eines Strukturmodells einer zukünftigen deutschen Hochschule für Kochkunst (den ich hier auf www.eat-drink-think.de schon komplett abgedruckt habe) ist ein Rahmen dafür definiert, wie sich auch die Kochkunst zu dem entwickeln kann, was sie sein könnte.
P.S. 1: Wenn ich sage, dass die Kochkunst heute nur einen kleinen Teil dessen darstellt, was möglich wäre, ist das keine direkte Kritik an der real in unseren besten Restaurants existierenden Kochkunst. Aber ihre Protagonisten sollten sich vor Augen führen, dass sie – aus vielen Gründen – in einem sehr, sehr engen System arbeiten, das die Tendenz hat, eng zu bleiben, und dass es auch ganz andere Wege gibt.
P.S. 2: Natürlich hat auch die Persönlichkeit und Biographie vieler Köche etwas mit dem Zustand des Systems zu tun. Die oft rein traditionell-handwerklich orientierten Lebensläufe führen im günstigsten Falle zu einer Maximierung der Leistungen, sie führen zum Beispiel ins Michelin-System. Köche ohne diese Biographien gibt es, und es werden durchaus mehr. Einige von ihnen gehören zu den Kreativsten ihres Faches, und das nicht zuletzt deshalb, weil sie den „Blick aus der Kiste“ kennen oder er ihnen näher liegt. Umfassend kulturell gebildete Köche werden anders denken, so, wie viele der neuen Szeneköche anders denken, weil sich ihre kulturelle Orientierung in einem größeren Rahmen entwickelt.
Es geht bei dieser Anmerkung aber mitnichten um eine Abkehr von handwerklicher Orientierung, sondern eher darum, den Platz des Handwerks neu zu bestimmen. Es mag Zeiten gegeben haben, in denen das Handwerk ausreichte. Heute brauchen wir „Handwerk+“ – für große Köche also ein maximales Handwerk als selbstverständliche Voraussetzung plus einer kulturell-kreativen Ausbildung und/oder Orientierung, die zu einer neuen Kreativität führt.
Die Bilder sind bearbeitete Fotos aus dem Buch von Kobe Desramaults
Das Problem ist in meinen Augen ein Struktuelles – wie Sie so schön geschrieben haben „…bei den subventionierten Künsten…“. Und genau diesen Fall haben wir ja im „normalen“ Kulturbetrieb, sei es Theater, Oper, Konzerthaus, Hochschule oder auch bei den öffentlichen Sendern . Leider/normalerweise existieren in der deutschen Gastronomie keine staatliche Subventionen. Natürlich gibt es im privatwirtschaftlichen Bereich immer wieder Subventionen für die „Hochküche“, oft genug wird diese aber dann auch sehr abrupt beendet (Siehe z.B. das „La Vie“ und andere) . Auch bei der Querfinanzierung (Hotel trägt Gastronomie) ist unterm Strich immer der Ertrag bzw der Synergieeffekt zu beachten, denn sonst habe ich als Unternehmer/Küchenchef ein großes Aktzeptanzproblem u.a. bei meinen Mitarbeitern.
Was erlauben Frankes?
Wozu liest er denn hier herum? Oder sie? Doch nicht vermutlich, um in der Kiste zu bleiben, anstatt herauszuschauen, was noch so möglich wäre? Ein Optimist, der jetzt noch unterwegs isst?
Well said! Wozu liest er denn hier herum? Das frage ich mich auch und ergänze: Wozu schreibt er denn hier herum?
Ich bin nicht immer einer Meinung mit Herrn Dollase (aber oft). Wenn ich nur meine Meinung oder mein Agenda-Setting lesen will, schreibe ich selbst Beiträge.
Ihre Sorgen möchte ich haben! Restaurant Besuche kann sich bald eh keiner mehr leisten, also brauchen wir keinen michelin und Restaurant Kritiker sowie so nicht.
Eben genau darum geht es ja. Vielleicht kommt ja das Universum in der Kiste langsam an seine Grenzen…? Vielleicht beinhalten neue revolutionäre Herangehensweisen ja auch Möglichkeiten, den irrsinnigen run auf teure Zutaten und extra aufwändige Zubereitungen zu reduzieren? Ihre Haltung ist innovationsscheu… wenn wir weitermachen wie bisher passiert genau das, was sie prophezeien.