Was ist moderne Küche? Analyse eines diffusen Begriffs und eine Neubestimmung

So gut wie jeder Koch kocht „modern“ oder „kreativ“ – zumindest im eigenen Verständnis oder wenn man den jeweiligen Texten auf den Webseiten glaubt. Die Zuschreibung „modern“ ist natürlich nicht geschützt, jeder kann sie einsetzen, jeder kann seine Arbeit kreativ nennen. Wie wird man zum Beispiel das nennen, was Daniel Humm jetzt gerade mit seinem Restaurant anstellt? Ist es eine typisch zeitgenössische Reaktion, die einem Trend folgt, der aber im engeren Sinne nicht wirklich kulinarisch definiert ist, weil man mit Gemüse alles mögliche machen kann, darunter vielleicht auch Dinge, die man wirklich „modern“ nennen könnte? Meine Reaktion auf die Entscheidung war ein Achselzucken. So what? Warum nicht? Wo ist das Problem? Ich kenne eine ganze Menge von sehr guten und interessanten Restaurants ohne Fisch und Fleisch, und es gibt auch viele, bei denen ich erst einmal überlegen muss, ob ich dort überhaupt Fleisch oder Fisch bekommen habe.

Wenn wir in der Kochkunst von Moderne reden, geht es um ganz andere Dinge, um die Art, wie man mit den Realien umgeht, um die Verbindung zu Traditionen, darum, ob es sich um Weiterentwicklungen handelt oder auch wo man eine genuine Kreativität antrifft. Man sollte sich um solche Fragen Gedanken machen, weil sonst diverse Probleme entstehen können. Wenn alles modern ist, ist nichts modern, könnte man salopp formulieren, und: wenn alles modern ist, werden die wirklich modernen und kreativen Köche nicht richtig gewürdigt. Und: wenn alles modern ist, brauchen wir keine Entwicklungen mehr oder man verneint indirekt, dass es überhaupt Entwicklungen geben könnte.

Ich möchte das einmal kurz beleuchten – ohne irgendeinem Koch zu nahe treten zu wollen. Unabhängig vom Grad der Moderne ist es schließlich vor allem wichtig, dass eine Küche gut gemacht ist. Andererseits wird bei der Aufstellung schnell deutlich werden, dass noch sehr viel Luft nach oben ist, und dass innerhalb dessen, was man im weiteren Sinne „modern“ nennen könnte, nach wie vor große Defizite bestehen und sich an manchen Stellen nur äußerst wenige Köche bewegen. Warum das so ist, soll hier keine Rolle spielen. Erst einmal sollte es vor allem um die Sache gehen.

Moderne 1: Immer das Gleiche, nur anders angerichtet
Die Moderne 1 ist so etwas wie die zeitgenössische Küche schlechthin. Man findet sie von Spitzenrestaurants bis in Bistros und in allen möglichen Qualitäten, die sich allerdings oft dadurch auszeichnen, dass sie ganz ähnlich aussehen. Es scheint hier sehr wichtig zu sein, bestimmte Produkte in bestimmten Zusammenhängen und vor allem mit einer bestimmten Optik zu präsentieren, die die Zugehörigkeit zur „Szene“ demonstriert. „Modern“ im engeren Sinne ist diese Küche nicht, sondern eher modisch-aktuell. Sie basiert quasi ausschließlich auf einem konventionellen Aromenkanon, der noch viele Wurzeln in der traditionellen Spitzenküche hat, aber auch längst in einem zeitgenössischen Mainstream, den man längst ebenfalls als konventionell bezeichnen muss (sagen wir: die üblichen Saibling-Vorspeisen). Typisch ist, dass sich viele dieser Mainstream-Köche für origineller halten, als sie eigentlich sind. Tatsächlich sind Küchen mit etwas mediterranen, oder den immergleichen asiatischen Elementen überaus weit verbreitet. Der Hang zu diversen Elementen ist hier ebenfalls eher optisch motiviert und täuscht eine gute sensorische Struktur eher vor, als dass sie präzise exekutiert würde. Bei vielen Gerichten dieser neuen Mainstream-Küche kann man schon anhand der Bilder erkennen, dass die Gerichte nicht wirklich substantiell zuverlässig durchgearbeitet sind. Immer wieder ist das Bild dominant und offensichtlich nicht der Geschmack. Wegen der Oberflächlichkeit der sensorischen Struktur kommt es innerhalb der Gerichte oft zu unsinnigen Zusammenhängen. Viele Köche stehen sich mit solchen Praktiken sogar selber im Weg. Typisch ist, dass man manchmal ein gutes und gut gegartes und aromatisiertes Hauptprodukt findet, das dann regelrecht von weiteren Elementen verschüttet wird. Der Grad an Individualität und wirklich bemerkenswerter Kreativität ist bei solchen Gerichten und insgesamt in Modern 1 gering.

Moderne 2: Die ausgeweitete Sensorik oder die schwierige Arbeit für den maximalen Genuss
Eine ausgeweitete Sensorik, also die bewußte und konzentrierte Arbeit nicht nur mit den Aromen, sondern auch mit unterschiedlichen Texturen und Temperaturen (Temperaturregie, Texturregie) sollte eigentlich längst als professioneller, handwerklicher Standard etabliert sein. Die ausgeweitete Sensorik ist eine der wesentlichen handwerklichen Entwicklung der letzten Jahre mit früher Meisterschaft z.B. bei Harald Wohlfahrt (vor allem in seinen Vorspeisen). Im Prinzip sind sich in dieser Form der Moderne Ferran Adrià und die Klassik eigentlich recht nahe. Eine sensible Klassik, die wirklich nach den Regeln der Kunst arbeitet, würde auch immer äußerst sensibel mit begleitenden Elementen umgehen, damit es nicht zu unnötigen Überlagerungen oder Auslöschungen kommt. Vor allem würde sie an den Esser denken und ihm Gerichte so präsentieren, dass er ein Optimum an Geschmack „wie von selber“ und nicht eher zufällig bekommt. Adrià hat eher an den neuen Tools für eine Modern 2 gearbeitet, mit eben „texturgebenden Mitteln“ und einer großen Varianz an Texturen und Temperaturen für eine Ausweitung dieser lange Zeit nicht wirklich vorangetriebenen Form der Moderne gesorgt. In Moderne 3 (siehe unten), also der am weitesten entwickelten Moderne, ist er eigentlich gar nicht so aktiv gewesen. Moderne 2 findet sich immer noch eher selten, weil sie ein sehr entwickeltes kulinarisches Denken voraussetzt. Viele Gerichte sehen (siehe oben) nach Moderne 2 aus, sind es aber nicht. Moderne 2 kann sehr einfach aussehen, zum Beispiel dann, wenn man ein Hauptprodukt mit wenigen Mikroelementen begleitet. Moderne 2 ist insofern in keinem Falle eine sinnlose Ansammlung von Allem und Jedem. Einen Salat im Sinne von Moderne 2 zu machen gehört dann auch zu den schwierigsten Vorhaben überhaupt. Im Gegensatz zu Moderne 3 geht es hier eher selten um eine neue Aromatik, sondern eher um eine neue, „State-of-the-Art“ Inszenierung von Gerichten. Moderne 2 findet sich heute am ehesten bei unseren allerbesten Köchen im Zwei- oder Drei-Sterne-Bereich, aber auch dort nicht immer in allen Gerichten gleichermaßen ausgeprägt. Moderne 2 ist bei vielen Nova Regio – Köchen mit eher minimalistischen Tapas-Gerichten deshalb eher zu finden, weil dort oft konzentriert mit klar formulierten Ideen gearbeitet wird und der Hang zu vielen Elementen eher gering ausgeprägt ist.

Moderne 3: Neue Aromen
Die eigentliche Moderne unserer Zeit ist bisher kaum irgendwo zu finden. Sie hat sich aus der Kochkunst im engeren Sinne entwickelt, sie ist entstanden, weil man Perspektiven gesehen hat, die über das, was man bisher findet, deutlich hinausgehen. Moderne 3 ist eine der Kunstformen, die nicht dem Publikum nach dem Mund kochen wollen, sondern mit den Möglichkeiten der Kochkunst arbeiten. Man verkauft, was man gemacht hat, man macht nicht, was man verkaufen kann (so die klassische Unterscheidung zwischen Kunst und Handwerk von Picasso). Kern von Moderne 3 ist eine neue Aromatik. Während sich Moderne 1 und 2 weitgehend an Aromen halten, die konventionell sind und von sehr vielen Leuten völlig unproblematisch erlebt werden, sucht Moderne 3 das neue gerade dort, wo die Orientierung nicht entlang von Bekanntem und Klischees aller Art verläuft. Ein erster Schritt sind ungewohnte Aromenkombinationen oder die Arbeit mit selten genutzten Aromen und/oder Produkten. Ein zweiter sind neuartige Aromatisierungen, die teilweise absichtlich gegen mögliche Erwartungen gerichtet sind, um einen Verfremdungseffekt zu erzielen. In diesem Bereich haben sich auch in Deutschland einige Köche entwickelt, darunter zum Beispiel neben Marco Müller (der einen Mischstiel zwischen Moderne 2 und 3 hat) diverse Nova Regio – Köche in Berlin oder auch Hamburg. Bestes Beispiel bei uns ist mit Andreas Rieger ein Koch, der im Moment noch nicht wieder mit einem wirklichen High End Programm in einem entsprechenden Restaurant unterwegs ist. Internationale findet sich Moderne 3 ebenfalls vor allem in den Spitzen und vor allem in Spanien, wo man längst deutlich den Textur- und Temperatur-Rahmen überschritten hat und auch aromatisch experimentell wird. Als echte Moderne (oder Avantgarde) sind die Perspektiven für Moderne 3 noch sehr groß. Wenn man sich vorstellt, was möglich wäre, kann man zu dem Schluß kommen, dass in Moderne 3 erst etwa 10 – 20% dessen angedeutet ist, was man machen könnte. Das liegt zum Beispiel auch daran, dass Moderne 3 ohne weiteres in einen Bereich vordringen könnte, der gut essbar und hochinteressant ist, aber nicht unbedingt der Vorgabe „lecker“ entspricht. Für Moderne 2 wären die Zahlen übrigens etwa so, dass ca. 40 bis 50% des Möglichen angedeutet, aber noch lange nicht durchgehend und überzeugend realisiert ist. Speziell komplexe zeitliche Verläufe sind dort noch kaum erforscht.

Der früher oft genutzte Satz: „Es gibt heutzutage nichts Neues mehr zu erfinden“ ist mittlerweile komplett aus der Zeit. Es gibt Unmengen zu tun, aber die Zeiten sind im Moment – zumindest bei uns – nicht besonders günstig für Innovationen.

4 Gedanken zu „Was ist moderne Küche? Analyse eines diffusen Begriffs und eine Neubestimmung“

  1. Neben den hier genannten technisch/aromatischen Erweiterungen spielt, denke ich, für eine „moderne“ Küche wesentliche die (mit diesen Aspekten zusammenhängende) konzeptuelle Erweiterung eine wichtige Rolle. Genau darum ging es doch Adrià. Es geht eben nicht mehr allein um den Genuss auf der Zunge, sondern auch um einen intellektuellen Genuss, er sprach vom 6. Sinn. Das verbindet ihn dann mit modernen Künstlern, die nicht bestimmte Sehgewohnheiten bedienen, sondern eine eigene Perspektive auf die Welt vermitteln. Jonathan Gold spricht vom Narrativ, das wichtiger wurde als technische Aspekte: „The excellence of the cooking is almost beside the point at Osteria Francescana — and Eleven Madison Park, and Can Roca, and Noma. You expect it to be perfect, the way you expect an opera orchestra to be impeccably rehearsed, but its most important task is to propel the narrative dream.“
    Daniel Humm vollzieht ebenfalls eine bemerkenswerte Veränderung, die er selbst mit seiner durch Corona veränderten Perspektive auf die Welt begründet.
    Wer mehr über Essen in Kunst und Hochküche als sinnliches und konzeptuelles Medium lesen möchte kann das hier tun: https://authors.elsevier.com/a/1cvzK_,4HMRap16

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  2. Sehr interessanter Beitrag. Schwierig ist die Abgrenzung der Moderne 3 gegen die Küchen, die eine Ausweitung ihres Aromenspektrums in erster Linie über die Assimilation fremdländischer Küchenstile erreichen. Im Zweifelsfall werden gleiche Effekte erzielt ohne die Qualitäten der dort klassischen Ursprungsküchen zu erreichen. Eine Einstufung solcher Küchen in der höchsten Klasse kulinarischer Modernität ist sicherlich nicht erwünscht, würde sich aber nicht vermeiden lassen insbesondere wenn der Kritiker mit der plagiierten Ursprungsküche nicht hinreichend vertraut ist, was sich wiederum kaum vermeiden lässt. Andersherum sollte man vielleicht daher die Ausweitung hin zu einer neuen Aromatik nicht unbedingt als Ausweis einer besonderen avantgardistischen Modernität sehen sondern vielmehr als notwendige Emanzipation von dem in dieser Hinsicht doch sehr begrenzten, maßgeblich durch den Michelin geprägten aktuellen System.

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  3. Nur kurz zum Intro des Textes: natürlich gibt es „eine ganze Menge von sehr guten und interessanten Restaurants ohne Fisch und Fleisch“ -– das nennt man dann vegetarisch. Aber das Menü im EMP wird wohlgemerkt vegan (außer bei der Milch zum Kaffee). Und das ist durchaus nochmal ein ganz anderer Schritt, speziell für ein Restaurant dieses (Welt-)Ranges und speziell auch im „Fleischland“ USA. Beste Grüße!

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  4. hallo herr dollase, ich halte daniel humms entscheidung, neue wege für das emp zu gehen für wesentlich relevanter als vieles, was in den von Ihnen zitierten spanischen und skandinavischen küchen passiert, die doch sehr um ihren eigenen tellerrand kreisen. mir ist beispielsweise von den aktuellen aktivitäten adrias als koch ( seine anderen betätigungsfelder wie die bullipedia lasse ich bewusst aussen vor) nichts bekannt, was ähnliche dimensionen und aussenwirkung besitzt.

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