Jörg Reuter/Manuela Rehn: Unser Kulinarisches Erbe. Lieblingsrezepte der Generation unserer Großeltern. Becker-Joest-Volk Verlag, Hilden 2019. 320 Seiten, geb., Hardcover, 29,95 Euro
Zu diesem Buch muss man einige Dinge vorab erläutern. Wenn es um deutsche Regionalküche und traditioneller Rezepte geht, haben wir es in der Vergangenheit fast immer mit oberflächlichen Betrachtungen zu tun gehabt, bei denen das eingesammelt wird, was dem Autor gerade aufgefallen ist. Eine klare Recherche gehört da eher zu den seltenen Vorkommnissen, und eine wirklich substanzielle Reflektion schon gar nicht. Man kommt nämlich schnell an einen Punkt, wo man sich fragt, was denn eigentlich die kulinarische Substanz dieser Traditionen ist und wo wir sie überhaupt finden können. In den Brauhäusern? In den Dorfwirtschaften oder Traditionshäusern in Gegenden, in denen Traditionen allgemein noch recht hochgehalten werden? Und: sind die Rezepte dort wirklich authentisch, oder sind sie längst ein Opfer des Einsatzes von Convenience-Produkten geworden und haben andere Schwächungen erlitten, wie zum Beispiel modische Ergänzungen oder eine Art Gentrifizierung durch Verwässerung ihrer Substanz durch die „feine“ Küche?
Wer sich mit dem befassen will, was wirklich die Essenz der kulinarischen Regionen und Traditionen ist, sollte sich unbedingt bemühen, regionale und/oder traditionelle Rezepturen zu überprüfen, ihre kulinarische Substanz freizulegen und unter präzisen kochtechnischen Aspekten zu optimieren – ohne dabei ihren Charakter nach eigenem „Geschmack“ zu modifizieren oder wahllos zu variieren. Wenn mal wieder einer der populären TV-Köche aus kommerziellen Gründen Hand an Regionales oder Traditionelles legt, passiert leider oft genau das.
In diesem Buch nun ist alles ganz anders. Man hat zunächst die Rezepte da aufgesammelt, wo sie noch in konkreter Erinnerung vorhanden sind, also bei den älteren Herrschaften. Verantwortlich für diese Rezeptrecherche war Andreas Rieger, der geniale Nova-Regio-Koch aus Berlin, der für seine Arbeit im „Einsunternull“ auch einen Michelin-Stern bekommen hat. Ihm standen bei der Umsetzung der Rezepte Kollegen zur Seite, die eine bestimmte Affinität zu „ihren“ Regionen haben. Diese „Köche vor Ort“ sind zum Teil ebenfalls Köche, die sich mit der Kombination einer neuen Sicht auf unsere traditionellen Ressourcen und Avantgarde-Verständnis befassen (also dem Nova-Regio-Ansatz). Es sind Micha Schäfer von „Nobelhart & Schmutzig“ in Berlin, Sebastian Frank vom „Horvath“ in Berlin, Fabio Haebel vom „Haebels“ in Hamburg, Andreas Rieger, Tony Hohlfeld vom „Jante“ in Hannover, Ricky Saward vom „Seven Swans“ in Frankfurt, Lisa Angermann vom „Frieda“ in Leipzig, Julia Komp (ehemals „Schloss Loersfeld“), Christoph Hauser von „Herz & Niere“ in Berlin, Jochim Busch vom „Gustav“ in Frankfurt und Valentin Rottner vom „Waidwerk“ in Nürnberg. Diese Köche machen in diesem Buch nicht den Fehler, die Rezepte in ihrem Sinn zu „verbiegen“, sondern sie purifizieren und optimieren und legen auf diese Weise eine Menge an Substanz frei.
Das Buch
Man hat für dieses Buch Seniorinnen und Senioren in Altersheimen, Seniorenresidenzen und Betreuungseinrichtungen in jedem Bundesland aufgesucht und ihr kulinarisches Wissen „angezapft“. Normalerweise würden viele Leser vielleicht bei dieser Versuchsaufstellung schon desinteressiert abwinken – zumal auch das Cover des Buches – sagen wir: nicht unbedingt das abbildet, was hier tatsächlich stattfindet. Wie nicht anders zu erwarten, glänzen die älteren Herrschaften mit einer Menge von Erinnerungen und stellen auf diese Weise als erstes einmal diejenigen in den Schatten, die in mehr oder weniger kommerziell motivierten Büchern (siehe oben) eher etwas behaupten, als etwas wirklich in den Händen zu haben. Die Kapitel beginnen mit einer kurzen Einleitung. Dann folgen die Vorstellung des „Kochs vor Ort“ und die Rezepte, meist 8 pro Land. Die Rezepte werden konventionell dargestellt und sind nicht weiter erläutert, zeigen aber in den kochtechnischen Details schnell, dass hier Sachverstand im Spiel ist und eine behutsame Freilegung des Hauptgedankens und eine adäquate Optimierung stattfinden. Man sieht den Bildern in der Regel auf den ersten Blick diese Optimierung an – natürlich, effektiv, ein wenig so, wie Ducasse einmal eine zeitlang einfache Rezepte bearbeitet hat.
Es gibt zum Beispiel endlich einmal einen sauberen Backfisch mit Remoulade, Labskaus mit guten Proportionen aus dem Verständnis der diversen möglichen Akkorde heraus, eine wundervoll klassisch anmutende Krabbensuppe, „Böfflamott“ mit einer deutlich subtiler, variierten Aromatisierung, „Linsensuppe mit Rippe“ mit grundsolidem Aufbau, gefüllte Tauben mit einem bodenständigen Aroma ohne Spitzenküchen-Anwandlungen, einen „Apfel im Schlafrock“ mit prächtigen Proportionen bei der Füllung oder „Miesmuscheln rheinischer Art“ mit komplettem Suppengemüsesatz und viel Lorbeer und Wacholder. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, und zwar ohne dass die Qualität der Rezepte nachlassen würde.
Und dann sind da an vielen Stellen die besonderen Momente, die sofort daran denken lassen, welche Inspirationen man von dieser freigelegten und optimierten Basis aus gewinnen könnte. Das Geschmacksbild der Schmorgurken etwa, das Hühnerfrikassee mit Rosinen, der Salzbraten, das „Rübenmalheur“ mit Steckrüben und Schweinenacken, der Dippehas, Böthel mit Lehm und Stroh oder Rievkoche mit Gulasch. Auch hier ließe sich die Liste noch beträchtlich fortsetzen
Fazit
Wer dieses Buch mit seinem exzellenten Ansatz liest und nach Inspirationen für eine moderne Interpretation unserer regionalen und traditionellen Rezepte auf hohem Niveau sucht, wird eine große Menge von Ideen finden. Aber auch derjenige Leser, der gegenüber den angeblich authentischen Rezeptsammlungen in anderen Büchern immer etwas mißtrauisch war, wird hier fündig werden. Die Rezepte machen Spaß, weil sie eine ungewöhnliche Klarheit besitzen und weder etwas unterlassen noch hinzugefügt wurde, was dem entgegensteht. Hier irgendwo liegt ein wichtiger Teil unserer kulinarischen Basis, und wenn man eines Tages ein solches Konzept noch etwas breiter aufstellt und vielleicht als nächsten Schritt für jede Region einen Band angeht, käme man langsam da aus, wo der erwähnte Alain Ducasse in Frankreich auch schon einmal war. Ducasse hatte eine Reihe übernommen, die in Frankreich zu Beginn der 90er Jahre begonnen wurde. Ihr Titel war „L’inventaire du patrimoine culinaire de la France“. In den unterschiedlich umfangreichen Bänden wurde für jede Region alles gesammelt, was dort typisch ist – von Produkten bis zu Rezepten, und die natürlich in einer klaren, unverfälschten Form. Leider war die Serie nicht bebildert.
Dieses sehr gute Buch bringt Fortschritt und bekommt 2 grüne BB
Fotos: Becker-Joest-Volk Verlag
echt eine witzige idee, köche auf “ rezeptarchäologie“ gehen zu lassen, die eher dem spektrum zeitgenössisch-aktueller avandgardeküche zuzuordnen sind denn der gutbürgerlichen mitte! das birgt die chance, spannende ansätze zu entwickeln. ein buch, dessen idee mich neugierig macht; vielleicht auch, weil ich selbst mit zwar tradierter , aber extrem schlampiger und uninspiriert ausgeführter küche gross geworden bin.