Martina Merz: Wildkräuter. Bestimmen, Sammeln, Zubereiten. Becker Joest Volk Verlag, Hilden 2022. 288 S., geb. Hardcover, 29.95 Euro
Die Verwendung von Allem, was da irgendwo wächst, hat nicht erst seit wenigen Jahren Konjunktur, ist aber mit BIO, vegetarischem und veganem Essen, Nova Regio-Küche usw. stark ins öffentliche Bewußtsein gespült worden. Diese Formulierung habe ich mit Absicht gewählt, weil ich irgendwo den Verdacht habe, dass zwischen veröffentlichter Bewegung und der Realität gerade in diesem Sektor ein riesiger Spalt klafft. Wenn man sich so ansieht, was tatsächlich passiert, muss man den Verdacht haben, dass Bücher in diesem Sektor mit schlechtem Gewissen gekauft, gut gemeint verschenkt, aber vor allem im Schrank stehen, und das in einem vorher nie gekannten Ausmaß. Natürlich gibt es die Kenner und Sammler, es gab sie immer und es gibt sie auch heute überall. Nur – ihre Stückzahl und die Anzahl der verkauften Bücher zum Thema dürften Welten auseinander klaffen.
Das wiederum ist exakt ein Thema, das Verlage aufgreifen können. Wenn es darum geht, Bücher zu verkaufen, muss es ja nicht zwangsläufig auch darum gehen, dass sie auch gelesen werden. Man muss also vor allem einen Kurs einschlagen, der zum Kauf der Bücher anregt, nicht unbedingt zum Sammeln von Kräutern. Das klingt jetzt sicherlich etwas zynisch. Aber – hier sind wir auf www.eat-drink-think.de, und da herrscht eine gedankliche Freiheit, die sich von der in den üblichen Medien eben bisweilen weit unterscheidet.
Warum ich das hier zu Beginn der Rezension erwähne, hat etwas mit der -sagen wir: Ansprache und der Vermarktungsstrategie in/bei diesem Buch zu tun. Man überschreitet hier die konventionellen Strategien – zum Beispiel durch die permanente Du-Ansprache, eine Praktik, die immer noch auf sehr viele Leute forciert wirkt. Dazu gibt es eine Vernetzung von Buch und Online („Smarte Unterstützung aus dem Internet“), die auch weitere Angebote des Verlags zum Thema beinhaltet. Das wiederum scheint bei diesem Buch logisch, weil Martina Merz seit 2020 auf Youtube einschlägig vertreten ist, wozu sie sich – trotz alter Familientradition, wie sie sagt – als Diplom-Kommunikationsdesignerin nebst entsprechender Firma recht logisch entschlossen hat. Es gibt da also auch strukturelle Zusammenhänge. Der Verlag hat jedenfalls für das Buch sowohl ein „Fachlektorat Rezepte“ wie eines für Botanik eingesetzt – mit unterschiedlichen Auswirkungen, ich komme noch darauf zu sprechen.
Und es gibt noch etwas vorab zu sagen. Das Buch wird veröffentlicht, obwohl es allerlei einschlägige Veröffentlichungen gibt. Ich denke da an den Band „Essbaren Wildkräuter“ von Eva-Maria Dreyer von 2020, an den band „Essbare Wildkräuter“ von Guido Fleischhauer von 2015 oder an die auch international renommierte Meret Bissegger mit ihrem „Meine wilde Pflanzenküche. Bestimmen, Sammeln und Kochen von Wildpflanzen“ von 2011. Will man da auf populärer, medial zeitgenössischer Linie gestandene Spezialisten verdrängen? So, wie sich seinerzeit Alfons Schuhbeck als Gewürzpapst installieren ließ, obwohl mit Ingo Holland und seinem „Alten Gewürzamt“ längst ein großartiger Spezialist unterwegs war? Bei Schuhbeck war man sich anscheinend sicher, dass man mit dauernder Medienpräsenz den Spezialisten ganz locker in den Hintergrund drängen konnte…
Das Buch
Für den Aufbau hat man den Weg von einem populären Einstieg über „100 einfache und kreative Rezepte für jeden Tag“ bis zu dem auf Seite 174 beginnenden, wesentlich stärker fachlich fundierten Teil über das Bestimmen der Pflanzen gewählt. Es geht also erst einmal um „Basics: Ausrüstung, Fundorte, nachhaltig sammeln, saisonal sammeln“, dann um „Best-of: meine liebsten essbaren Wildpflanzen von den Blättern bis zu den Früchten“. Das ist informativ und sehr praktisch angelegt und führt den Leser auch auf Brachflächen in Großstädten und nicht nur auf pflanzengesättigte Hochalmen. Die „wichtigsten Grundregeln zum Sammeln von Pflanzen“ sind ein seriöses Kompendium von Verhaltensregeln und Vorschlägen, wie man unter Beachtung dieser Regeln zügig Fortschritte auf einer soliden Basis machen kann. Die „liebsten essbaren Wildpflanzen“ danach sind ebenfalls gut begründet und früh präsentiert, weil natürlich in diesem Bereich – auch von der Autorin angesprochen – fast immer gilt, dass viel essbare Wildpflanzen der etwas spröderen Abteilung angehören und nicht sofort so gut schmecken, dass man so begeistert ist wie bei Rosmarin, Thymian und Co.
Der folgende Rezeptteil dagegen wirkt klischeehaft und – wie häufig in diesen Fällen – nicht konsequent systematisch. Es fängt noch sinnvoll an, mit „Tipps für einen guten Start“, bei dem die Annäherung an das oft geschmacklich spröde Material erleichtert wird. Dann aber gibt es wieder eine Ansammlung von Rezepten, die man so oder ähnlich in Hunderten von vegetarischen und/oder veganen Kochbüchern findet. Man wird schnell asiatisch oder vorderasiatisch, landet bei den gefüllten Weinblättern mit Bulgur, Rosinen und Minze-Joghurt-Dip und anderen ähnlich bekannten Rezepten, die teilweise auch noch einen beträchtlichen Aufwand brauchen. Was mich immer sehr verwundert, ist, dass die sehr naheliegende Integration der Wildkräuter in traditionelle Gerichte kaum eine Rolle spielt (von Spaghetti und Pizza einmal abgesehen). Scheinbar hat sich hier eine Meta-Küche gebildet (oder wird propagiert…), die mit der real existierenden Selbstmacher-Küche wenig zu tun hat. Da ist dann auch die Planung des Buches auf einem Auge gründlich erblindet. Man schwimmt eben mit, hat aber nicht das Ganze im Blick.
Der Teil „Bestimmen“ ist wesentlich besser und glücklicherweise auch umfangreich genug. Hier geht es scheinbar um das eigentlich Kernproblem, um eine Lösung für die Frage, was denn – wenn ich einen Feldweg entlang gehe – eigentlich alles essbar ist. Diese glasklare Frage kann man mit den Angaben in diesem Teil aber leider nicht komplett beantworten, weil sich das Buch eben auf Wildpflanzen beschränkt. Man sucht nach Raps oder Getreide, nach wilden Möhren und Zuckerwurzeln, nach den Blütenböden von Sonnenblumen und Strünken von Kohlpflanzen (also nach all dem, was sich so links und rechts von einem Feldweg findet) und findet es hier wegen dieser Beschränkung nicht. Will sagen: die Konzentration auf Wildpflanzen ist eng und nicht wirklich realitätsnah. Wer es ernst meint, geht irgendwo in die Natur oder auch dahin, wo Pflanzen wachsen und sucht Alles, was man gebrauchen kann. Da sind die modernen Gourmetköche schon ganz woanders angekommen und dabei noch nicht einmal kompliziert (etwa die Arbeiten von André Köthe und Yves Ollech vom „Essigbrätlein“ in Nürnberg). So gesehen wirkt das Buch dann plötzlich deutlich hinter der Zeit, nicht nur wegen der Vorläufer wie Meret Bissigger, sondern auch wegen der Entwicklung der Kochkunst.
Fazit
Trotzdem kann man das Buch gut gebrauchen und es – immer mit den gemachten Einschränkungen – empfehlen. Vor allem der botanische Teil ist nützlich, während man bei den Rezepten leider zu sehr auf das eher begrenzte bio-vegetarisch-vegane Fach und seine Ästhetik zurückgreift. Insofern hält sich der Grad an Neuigkeiten in Grenzen.
Das Buch bekommt 1 grünes B
Fotos: Sandra Eckhardt, Becker-Joest-Volk-Verlag
Grüß Sie Herr Dollase,
ich danke Ihnen sehr für das gründliche Lesen und die Rezension meines Buches, es ist mir wirklich eine Ehre! Und auch für Ihre kritischen Gedanken dazu. Sie haben völlig recht, die Rezepte sind einfach, gewohnt, vertraut, möglicherweise wirken sie auf ambitionierte Köchen:innen auch langweilig und nicht inspirierend. Aber genau das sollten sie auch sein: niedrigschwellig. Den Einstieg leicht machen, ermutigen, Basiswissen. Denn es reicht, mit Zutaten zu kochen, von denen ich vorher noch nie etwas gehört habe, geschweige denn gegessen. Das Buch ist ein erster Schritt. Nicht mehr aber auch nicht weniger. Deshalb danke für Ihre Empfehlung und das grüne B.
Ich selber koche jeden Tag aus der Natur, oder vielleicht sollte ich eher sagen vom Wegesrand. Und esse alles Essbare was ich dort finde. Auch die beschriebenen Kulturpflanzen, von denen es übrigens auch einige im Buch gibt, Felsenbirne, Kornelkirsche, und auch den Raps zum Beispiel. Die Ackerfrüchte haben nur ein Problem: Sie kommen von Feldern, die uns nicht gehören sondern den Bauern. Es wäre also Einladung zum Diebstahl. Wir wissen nicht, was für Saatgut, Dünger, Spritzmittel sie in welchen Mengen verwendet wurde, ich zumindest will das nicht in meinem Essen haben. Und andere auch nicht dazu verführen. Privat verarbeite ich diese Pflanzen, aber nur wenn ich den BIObauern kenne oder die Pflanzen in die Natur verwildert sind, sich also selbst weiter versamt und einen für sie passenden Standort gefunden haben. Und ganz ehrlich: Oft findet man sie so nicht. Alles wirklich Wilde finde ich dagegen reichlich und jeden Tag.
Ich möchte Sie gerne ein laden: Wenn Sie in meiner Gegend am Alpenrand oder in München oder ich in Ihrer Gegend bin, lassen Sie uns mal zusammen losziehen. Und dann schauen wir, was wir alles finden und was man an Unkonventionellem daraus kochen würden. Das mache ich nämlich durchaus – aber ganz ehrlich, welche ambitionierte Spitzenköchin holt sich ihre Inspirationen in einem deutschsprachigen Kochbuch, das sich an Normalmenschen richtet? Diese Profis folgen mir bei Instagram oder sprechen mich direkt an.
Ich freue mich darauf, Sie kennenzulernen.
Herzlichst
Martina Merz
Habe mir das Buch gekauft und kann es ohne Einschränkungen weiterempfehlen, toll erklärt und wunderbare Rezepte sind dort süffig zu finden für den Kenner,, ein ganz tolles Buch.
Ich nutze seit meiner Kindheit/Jugend Wildkräuter, wie es mir meine Grossmutter beigebracht hat. Der moderne Mensch sollte beachten, dass man sich an eine Wildkräuterküche langsam herantasten muss. Weil einige Inhaltsstoffe der Wildkräuter (Vitamine und Spurenelemente) um ein Vielfaches höher sind als im Bio Anbau. Kann nicht jeder von heute auf morgen vertragen. Auch Bitterstoffe sind gewöhungsbedürftig…viele Bitterstoffe kennt der Mensch nicht mehr, wurden zum Teil aus Pflanzen herausgezüchtet. Das erwähnte Buch von Frau Dreyer ist ein gutes Nachschlagewerk. Ansonsten tausche ich Rezepte und Erfahrungen lieber in Gruppen mit anderen Fachleuten auf diesem Gebiet aus.
Diese haben auch jahrzehntelange Erfahrung, früher kannte man das Wort „vegan“ noch nicht. Meine Grossmutter auch nicht, obwohl sie sich pflanzenbasiert ernährt hat. Und ihre Kochkunst war ein Traum.
Danke für Ihre Rezension.