Warum kulinarische Vielfalt zu Lasten der Qualität gehen kann. Eine notwendiger Zwischenruf gegen ein qualitatives Beliebigkeitsdenken.

Man sollte als Koch oder Köchin, als Höchstinteressierter oder als begleitender Journalist und Wissenschaftler ab und zu und am besten regelmäßig etwas Distanz zum Tagesgeschehen nehmen. Nur so kann man Entwicklungen erkennen, die im Getümmel tagesaktueller Scharmützel schnell untergehen. Am Ende des Tages könnte es dann sein, dass diese distanzierter gewonnenen Einsichten aktueller sind, als das, was aktuell wirkt oder sich als aktuell ausgibt.Es geht hier um die Frage, welche Auswirkungen eine große kulinarische Vielfalt auf die kulinarische Qualität hat. Um das Problem zu begreifen, muss man sehen, wie die Restaurantführer und die nationale wie internationale Kritik auf Neues reagieren, aber auch – und ganz besonders – darauf, wie sich gerade jüngere Köche im weltweiten Bilderangebot bedienen, wie die Meinungsflüsse verlaufen und was dann am Ende als Qualität gesehen wird. Man wird schnell feststellen, dass das, was die klassisch-französisch orientierte Kochkunst seit Jahrhunderten auszeichnet, keine überragende Rolle mehr spielt, sondern – zum Beispiel bei minimalistischen Gerichten der neuen skandinavischen Küche – teilweise eine so stark reduzierte Küche dominiert, dass es kaum möglich scheint, sie aufgrund einiger solcher Gerichte einzuschätzen.


Qualität entsteht durch qualitative Bezugspunkte

Ein Blick auf die Qualitätsstruktur der besseren Küche (und nicht nur dieser) vor noch gar nicht so langer Zeit zeigt, dass die qualitativen Bezugspunkt allgemein bekannt waren und verfolgt wurden. Es war (und ist es teilweise auch heute noch) weitgehend klar, was eine gute Garung ist, es war klar, was ein gutes Produkt ist, es war sogar klar, welche Akkorde als harmonisch galten. Kurz und gut: wegen der klaren Regeln war das System komplett qualitativ strukturiert. Man wusste in den Schulen und in den Ausbildungsbetrieben, was man machen und lernen muss, um am Ende des Tages in der Lage zu sein, eine gute Küche zu realisieren. Die Qualität der Sterne- und vor allem der Drei Sterne-Restaurants entstand in der besonders intensiven Verfolgung dieser Qualitätsstandards. „Kreativ“ war man, wenn man in der Lage war, die vorhandenen, längst als gut befundenen Produkte und Zubereitung in einer vergleichsweise originellen Art zusammenzufügen (ich habe das „eingebundene Kreativität“ genannt). Wer sich also aufmachte, eine kreative Küche zu entwickeln, wusste auch ziemlich genau, was ihn erwartet – gegebenenfalls auch an negativen Reaktionen.

Unabhängig vom Bezug auf die klassisch-französische Küche entstand und entsteht Qualität im allgemein verständlichen Sinne durch klare qualitative Bezugspunkt. Von solchen Bezugspunkten kann man allerdings nur dann sinnvoll reden, wenn sie auch für eine größere Zahl von Menschen Bezugspunkte sind, wenn sie also weitgehend anerkannt sind. Haben kreative Küchen diese Bezugspunkte? Nicht wirklich oder nur zum Teil. Natürlich gibt es solche Bezugspunkte, zum Beispiel bei diversen Garzeiten für Lamm oder anderes Fleisch. In der Regel bedienen sich hier auch kreative Restaurants der Maßstäbe für Garungen, die sich auch in den traditionellen Gourmetrestaurants finden. Beim Fisch etwa wird das allerdings schnell anders, weil sich dort zwischen roh und gegrillt eine Unmenge von „Zuständen“ eingebürgert haben, die dann übrigens oft von Freuden der Klassik nicht so unbedingt für gut befunden werden. Wenn es an das geht, was ein Gericht insgesamt ausmacht, wird der Unterschied – siehe oben – oft besonders groß. Ein in der Pfanne mehr verbranntes als angeröstetes Schwarzkohlblatt mit etwas Sauce ist für die „Klassiker“ ein Nichts, undenkbar, unmöglich.

Wer sich als kreativ sieht, kann sich auch leicht dem Vergleich entziehen

Auf diese Weise ergibt sich ein Bild, das ein wenig Sorgen machen kann. Wer heute darauf pocht, er wäre kreativ und insofern würden diverse ältere Standards auf seine Küche nicht anwendbar sein, hat gute Karten damit durchzukommen. Wenn er Glück hat, findet er Verbündete, die seine Arbeit auch ohne „klassische Qualitäten“ gut finden und in den höchsten Tönen loben. Das kann – wie wir wissen – sogar zu großen internationalen Erfolgen führen, unter anderem deshalb, weil es immer wieder Journalisten gibt (und gerade solche, die sich im Fach nicht wirklich gut auskennen), die gerne auf Kreatives, Ungewohntes, Neues „einsteigen“, um sich auf diesem Wege zu profilieren. Der Kreative kann sich also unter Umständen dem Vergleich mit klassisch-handwerklichen Qualitäten leicht entziehen.


Wenn es zuviel „kreative“ Restaurants dieser Art gibt, bekommen wir ein Problem

Die Orientierung an den klassischen Qualitäten der Kochkunst ist vor allem in großen Städten mit einem vielfältigen Angebot und einem Publikum, das die Formalismen der Spitzenküche nicht schätzt oder für die – bei allem Interesse – Essen billiger sein muss, eher gering. Auch das weit verbreitete Beharren auf der mehr oder weniger ausschließlichen Bedienung eigener Vorlieben statt einer Offenheit gegenüber allem Guten oder Interessanten, sorgen nicht gerade für eine klare Orientierung an kulinarischen Qualitäten. In der Vielzahl unterschiedlicher Küchenstile und – qualitäten verschwindet vor allem jener Teil der Qualitätsmerkmale, der sich an Produktqualitäten, Garungen, adäquaten Aromatisierungen und guten Kompositionen orientiert. Viele Länderküchen sind eigentlich das Gegenteil klassischer Qualitäten, werden aber so gut wie nie auch so eingeordnet. Ihre oft enormen Schwächen werden kaum je benannt. Insofern kann Vielfalt für eine erhebliche Erosion von Qualität sorgen – wohlgemerkt jener Qualitäten, die man mit der traditionell gewachsenen Kochkunst verbindet. Man braucht kein Prophet zu sein um feststellen zu müssen, dass Restaurants mit klassisch-handwerklichen Qualitäten auf diese Weise zu seltenen Erscheinungen ohne große Bedeutung für den Rest der Restaurants werden.

Wie verlässt man diesen Weg in die qualitative Beliebigkeit?

Es gibt vor allem zwei Wege, die dieser Entwicklung entgegensteuern können. Der eine ist eine konsequentere Diskussion vor dem Hintergrund unverzichtbarer, klassischer Qualitäten, der andere eine schnellere, flexiblere Entwicklung neuer Qualitätsstandards, die in der Lage sind, auch kreative Küchenstile aller Art qualitativ zu strukturieren.

Die konsequente Diskussion vor dem Hintergrund klassisch-handwerklicher Qualitäten ist das, was man bei vielen Profis seit etlichen Jahren erleben kann. Diese Profis sind sich da im Grunde weitgehend einig, halten sich in der Regel in der Öffentlichkeit mit ihren Einschätzungen aber zurück. Ihre Arbeit tun sie eher im Hintergrund, zum Beispiel bei der Ausbildung von Köchen, denen – im besten Falle – neben einer guten handwerklichen Basis auch ein entsprechendes Qualitätsbewußtsein vermittelt wird. Diese Stimmen sind längst zu leise und zu wenig wirkungsvoll, man ist immer noch von einem Gedanken an eine Art Freiheit der Künste bestimmt, will sich nicht einmischen und scheut die Diskussion. Dieses Verhalten korrespondiert – sozusagen durch Untätigkeit – aber viel zu sehr mit dem weit verbreiteten qualitativen Beliebigkeitsdenken und fördert in letzter Instanz genau das, was man eigentlich kritisieren will.

Der zweite Weg könnte dem ein oder anderen Freund klassisch-handwerklicher Qualitäten wie ein Verrat an den großen kulinarischen Werten vorkommen, ist es aber keineswegs. Es geht um eine unvoreingenommene, offene Diskussion ausgeweiteter kulinarischer Kriterien, die in der Lage sind, auch Küchen, die deutlich anders aufgestellt sind als die klassisch- französische, zu begreifen und qualitativ zu strukturieren. Ein solches Bemühen um ein qualitativ begründetes Verstehen neuer Tendenzen basiert auf der Erkenntnis, dass es auch außerhalb der klassisch-französischen Traditionen hohe kulinarische Qualitäten gibt – also etwa in den asiatischen Küchen, in den skandinavischen Küche, oder in den Nova Regio-Küchen diverser Regionen der Welt. Neue Kriterien können in einer ganz ähnlich konsequenten Form entstehen, wie dies bei den klassischen Kriterien der Fall ist, bedürfen aber einer intensiven und an der Sache orientierten Diskussion. Sie sind bei dem, was man bei Michelin international teilweise versucht, zu vermuten, werden aber meist noch nicht konsequent angewendet. Eigentlich sollten sie helfen, die Spreu vom Weizen zu trennen, um die Verwässerung kulinarischer Qualitäten aufzuhalten, tun dies aber meistens nicht, weil etwaige Kriterien oft im Dunkeln bleiben. Im Grunde müsste man heute längst in der Lage sein, auch zeitgenössische Entwicklungen aller Art präzise einzuordnen, um die weitere Auflösung von Qualitätskriterien zu verhindern und für ein hochwertiges kulinarisches Angebot auf allen Ebenen zu sorgen.

1 Gedanke zu „Warum kulinarische Vielfalt zu Lasten der Qualität gehen kann. Eine notwendiger Zwischenruf gegen ein qualitatives Beliebigkeitsdenken.“

  1. Am Ende eine banale Erkenntnis, die aber nicht oft genug wiederholt werden kann: Neues – oder gar Innovation – muss sich stets zuallererst daran messen lassen, ob es tatsächlich einen Mehrwert gegenüber dem Etablierten und Bekannte gibt. Wer das Bekannte nicht kennt und beherrscht, der kann keine wirkliche Innovation hervor bringen.

    All das gilt universell im Leben und nicht nur in der Kochkunst.

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