Es ist ein Trend, der immer weitere Kreise zieht. Man könnte sich natürlich hinstellen und sagen: Alles kein Problem, es ist doch schön, dass man für überschaubare Geldbeträge selbst bei den Discountern Primitivos und Negroamaros bekommt, die nach etwas schmecken und nicht so sauer oder tanninig sind. Außerdem kann man mit solchen Weinen neue Weintrinker gewinnen, die mit einer feinziselierten Unterscheidung zwischen verschiedenen Rieslingen oder Spätburgundern überhaupt nichts anfangen können. Aber – wie immer bei Genussfragen wäre das zu kurz gedacht, weil es klare Auswirkungen auf Zusammenhänge, Gewinner und Verlierer und oft erst schleichende, dann gewaltige Veränderungen gibt.
Und es gibt neben dem „Expertenverstand“, der sich in Unmengen von Texten, Bewertungsportalen und Weinführern niederschlägt, auch die ganz normale Stimme aus der ganz normalen Bevölkerung, die regelmäßig vom „Expertenverstand“ für nicht so wesentlich gehalten wird. Beim Essen kennen wir den Mechanismus schon lange. Dort schwören viele Leute auf regionales Traditionsessen, das dann den Experten noch nicht einmal eine Erwähnung, geschweige denn eine genauere Betrachtung wert ist.
Volkes Weinstimme
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass absolute Laien zwei Arten von Weinen gut finden: die großen Weine der Welt und die süffigen, klar fruchtbetonten Aromenbomben mit einiger Restsüße aus vorwiegend südlichen Gefilden. Im Endeffekt kann man sich dann allerdings nicht sicher sein, ob sie am Ende des Tages die großen Weine oder die Aromenbomben bevorzugen. Man kann allerdings sehr sicher sein, dass sie die gigantische Preisdifferenz zwischen diesen beiden Polen nicht nachvollziehen können.
Vor einiger Zeit hatte ich ein ganz spezielles Weinerlebnis. Eine Bekannte, die aus Sizilien stammt, brachte mir ein paar Flaschen von einem Wein mit, den ihre Familie und Freunde dort privat und für den privaten Verbrauch in kleinen Weinbergen anbauen. Der Wein hat vermutlich deutlich unter 10% Alkohol, eignet sich also auch deswegen gut dazu, am Abend unter einem schattigen Baum in größeren Mengen auf dem Tisch zu stehen. Der Wein ließ mich sofort schmunzeln. Er schmeckte nicht wirklich „gemacht“, hatte also noch den Duft und den Geschmack, den reife Trauben entwickeln, und erinnerte daran, wie bisweilen ein großer Bottich von Trauben riecht, in dem die Trauben noch nicht komplett ausgepresst sind. Ich hatte sofort die Vorstellung, dass dies ein Wein ist, wie ihn die Leute vermutlich schon zu Zeiten der Römer getrunken haben. Er wird so, wie er wird, Abweichungen haben etwas mit dem Wetter und dem Lesezeitpunkt zu tun, und das ist es dann auch schon. Er schmeckte zu südlichem Essen ausgesprochen gut und natürlich. Man merkte, dass die Dinge zusammengehören.
Die populären Primitivos und Negroamaros haben etwas von solchen traditionellen Weinen und zusätzlich einen großen Vorteil: sie sind von geschickter Hand so gemacht, dass sie auch immer als gute oder sogar sehr gute Weine durchgehen. Ich habe einen Primitivo Salento von Masso Antico getrunken, der von Luca Maroni 99 Punkte bekommen hat und dazu das „Berliner Gold“ bei der Berliner Wein Trophy 2019. Hat Maroni, der als großer Freund von Fruchtigkeit gilt, da irgendwie die Maßstäbe verloren oder gibt es zumindest eine Position, von der aus man Verständnis für diese gigantische Bewertung haben kann? Mein Eindruck ist der eines recht guten Weines, der durchaus nicht nur eine Fruchtbombe ist, sondern über allerlei Noten guter Rotweine verfügt, die über die reinen Fruchtaromen hinausgehen, also etwa Tabak und Zedernholz. Für mich ist der Wein vor allem wegen seines günstigen Preises beachtlich. Es wird schwerfallen, vergleichbare Weine in dieser Preiskategorie knapp unter 10 Euro zu finden.
Exakt dies ist der Punkt. Noch bevor man darüber nachdenkt, wie gut diese Weine eigentlich sind, muss man den Preis sehen und wie dieser im Vergleich zu anderen Regionen steht. Man muss über die ganz billigen Weine hinaus darauf achten, dass die Klasse jenseits der 10 oder 15 Euro nicht nur als Wein immer besser wird, sondern wiederum – wie die ganz billigen Exemplare – in ihrer Kategorie extrem preiswert ist.
Die Geschichte wiederholt sich
Man kennt das schon. Ich habe in mehreren Jahrzehnten immer wieder erlebt, dass bestimmte Regionen stark im Preis anzogen und die Kunden dann zu anderen Regionen wechselten. Der klassische Cru Bourgeois aus Bordeaux war in den 80er Jahren oft noch ein guter Wein voller Charakter, für den man heute deutlich jenseits der 50 Euro bezahlen muss. Dann verlor er seinen Charakter und wurde beliebig, tanninreich, säuerlich, von Fruchtnoten kastriert usw. usf. Die Fans wechselten zu Rioja oder nach Kalifornien, nach Australien und Neuseeland und – mit etwas Verzögerung – auch nach Südafrika. Und nun kommt eine süditalienische Welle, die mit ihrer Wucht und der „offenen“ Charakteristik, die einen Wein je nach Sehweise wegen seiner immensen Frucht auch immer recht groß wirken lässt, alles in den Schatten stellen kann, was man jemals als Welle erlebt hat. Werden sie die Weinlandschaft so stark verändern, dass andere Arten von Weinen – vor allem solche mit einer weniger plakativen Struktur – unter Druck geraten?
Arbeiten viele deutsche Winzer zu sehr für die Führer?
Es ist nicht so, dass es in Deutschland nicht auch Weine gäbe, die über eine mächtige Frucht verfügen und jene Süffigkeit entfalten, die man ansonsten nur an anderer Stelle bekommt. Sie sind allerdings sehr selten, entsprechend teuer und beim Rotwein quasi nicht vorhanden. Hat die Stärke der Süditaliener auch etwas mit der Schwäche der Franzosen und Deutschen zu tun? Arbeitet man gerade hier in Deutschland vielleicht viel zu sehr für die Weinkritik, für die Noten in Führern, der geschmackliche Interpretationen oft nicht genügend evident sind, also einem größeren Kreis von Weinfreunden nicht vermittelbar? Sind die Spezialisten in Regionen entschwunden, in denen man unterscheidet, ob es sich bei den zitrusähnlichen Noten eines Weines nun mehr um Zitrone oder mehr um Pampelmuse handelt (um es einmal überdeutlich zu machen), während der erste – und für viele Konsumenten bleibende -Eindruck vielleicht ist, dass man sich mit „so einem sauren Zeug“ nicht abgeben will?
Wohl gemerkt: als Spezialist für den Zusammenhang von Wein und Speisen bin ich es gewohnt, in jede nur denkbare geschmackliche Tiefe einzutauchen. Aber sollten Weine nicht erst einmal sozusagen eine klare geschmackliche Linie haben, bevor man dann entdecken kann, wie differenziert sie auch sind? Müssen sie mehr vertikale Struktur haben, statt sich gleich in Nuancen zu verlieren? Wem nützt es, wenn sie sehr differenziert sind, aber keine kommunizierbare Linie haben, kein „Bild“, das sofort gefällt, keinen Geschmack, der „anmacht“.
Ein sensorisches Problem
Wer sich einer solchen kritischen Sicht anschließt, sollte aber etwas sehr, sehr Wichtiges berücksichtigen, und zwar die sensorische Bedeutung und Funktion der süditalienischen Aromenbomben, die leider – man muss es so sagen – etwas mit der überwürzten, industriellen Nahrung und ihrer Wirkung zu tun haben. So wie eine Gewöhnung an die überwürzte Industrie- und Fast Food-Nahrung dafür sorgt, dass man feine Küche und feine Nuancen (wie etwa Produktqualitäten) nicht mehr wahrnehmen kann, sondern nur noch Fadheit schmeckt, so kann auch die Gewöhnung an massive Aromen mit einem hohen Alkoholgehalt beim Wein für eine Abstumpfung sorgen, also dafür, dass der Freund solcher Weine als Kunde für filigranere Weine verloren ist. Auch hier könnte man natürlich – wie ganz oben – einwenden: „Kein Problem, dann bleiben wir eben bei Primitivo und Co.!“ Das allerdings würde bedeuten, dass man sich letztlich von jeder differenzierten kulinarischen Kultur verabschiedet, dass man in eine Abhängigkeit von der großen Dosis kommt, die zum Beispiel zum Essen kaum noch eine Funktion entwickelt, weil die Weine fast immer zu kräftig sind und nicht mehr in einem kulinarischen Zusammenhang stehen können, sondern auf ein Genussmittel wie Cola und Co. reduziert sind.
Diese Gefahr besteht. Und dennoch kann es nicht gelten, sich in Ländern wie Deutschland mit Rotweinen, denen diese Masse fehlt, ins esoterisch-elitäre Fach zu begeben. Man sollte lernen, populäre Linien zu entwickeln (wie das ja hier und da schon – allerdings meist mit vergleichsweise begrenzter Überzeugungskraft – versucht wird), dabei aber den Preis ganz genau im Auge zu behalten. Man sollte mitmischen und nicht zur Seite treten und Marktsegmente freigeben.
Ein paar Weine
Hier nur ein paar kleine Einschätzungen. Der Primitivo Puglia Cinquenoci von ALDI hat ein erstaunlich gutes Preis-Leistungs-Verhältnis und ist nicht so fruchtig-plump. Noch ausgeglichener und in seiner Klasse sehr gut gefällt mir zum Beispiel der Primitivi di Manduria 14 von Contessa Marina (ca. 12 Euro). Bei Trulli hat man eher die Aromenbomben im Visier. Der Saracena ist für den tägliche Bedarf nicht schlecht, während der Lliala die Geister scheiden wird: ist das nun großartig oder einfach „too much“. Ich trinke ihn ab und zu, suche in den Fruchtbergen aber immer noch nach mehr Struktur…
Vor Jahren kam ich mal über einen leckeren Zinfandel, was von der Traubensorte her dasselbe ist wie Primitivo, von Wente aus Kaliformien auf einige Primitivos di Manduria. Sie alle waren trocken, hatten gute Struktur, waren in der Regel opulent, erchte Gaumenschmeichler und waren im Preis-Leistungs-Verhältnis sehr ordentlich. So in der Kategorie´um 15-20 EUR. Meine tägliche Halsweite liegt niedriger, aber auch dafür bekam ich ordentliche, kraftvolle und ausgewogene Primitivos. Seit einiger Zeit hat die halbtrockene Fraktion zugeschlagen: Kaum noch ein Primitivo, der nicht halbtrocken ist und um die 15 Gramm Restzucker hat. Mag sein, dass neue, junge Secco-Liebhaber auch bei rot umschwenken und den Massengeschmack diktieren. Jeder soll das für sich entscheiden. Schade für die Spitzengarde der Madurias, die immer rahrer werden. Schon seit einiger Zeit lande ich wieder bei roten Spaniern: muss ja nicht Vega Sicilia sein. Von Monastrell und Tempranillo gibt es in allen Weinbaugebieten respektable bis ausgezeichnete Tropfen zwischen 6 und 15 EUR, gleichermaßen gilt das für Weine von Grenache, Syrah oder Merlot aus dem Languedoc. Immer trocken, versteht sich. Und keineswegs Essigborner Rachenschreck. Zum Wohl, mein altertümlicher Manduria.!
Na ja, diesen Beitrag zu kommentieren ist schwierig, man weiß gar nicht, wo man anfangen soll!?
Das sie ein Weinspezialist sind bezweifle ich doch sehr stark,sie reden nur von rotwein,warum????Deutschland braucht sich um seine Weißweine nicht zu verstecken,und dass zb ein guter Riesling nicht ganz billig ist was ja wohl verständlich ist um die berren zu pflücken in steilstlagen ist ja wohl nur zu verständlich,.im übrigen kann ich ihre Einschätzung dass sie auch ein ess Experte sind auch nicht ganz nachvollziehen.mit freundlichen .