Das „Au Bon Pichet“ in Selestat und eine Geschichte vom legendären Paul Haeberlin
Sie kennen das vielleicht oder auch ganz bestimmt – zumindest dann, wenn Sie ein Freund der französischen Küche in allen ihren Nuancen sind. Irgendwann wird man von diesem unstillbaren Appetit gepackt, bei dem einem das Wasser schon beim Lesen von Speisekarten im Mund zusammenläuft. Ob es Abend ist, spielt keine Rolle mehr, es darf ruhig erst Mittag sein, und sie sind trotzdem bereit, alles zu essen, was irgendwie geht. Sie denken nicht an den Nachmittag, und Ihnen fehlt diese manchmal genussfeindliche Vorsorge was den Wein angeht. Sie trinken einen guten Schluck Wein, und damit ist keineswegs das Nippen an einem Gläschen oder zwei gemeint. Sie werden wissen, dass sie in einen sagenhaften Zustand kommen, und sie werden wissen, dass sie von einem solchen prächtigen Mittag auch noch Jahre später erzählen werden.
Im „Au Bon Pichet“ in Selestat im Elsass ist alles angerichtet. Der Ort ist schön, aber nicht so touristisch wie Colmar, und auch der Markt, der sich nicht nur auf dem Platz vor „Au Bon Pichet“, sondern in vielen Gassen der Altstadt abspielt, ist eindeutig der natürlichere. Und wenn Ihnen noch etwas fehlen sollte, dann fahren Sie vielleicht Richtung Colmar aus Selestat hinaus und halten am „Grand Frais“ an, einem großen Frischemarkt, den es dringend in Deutschland auch einmal geben sollte. „Au Bon Pichet“ ist berühmt für seine traditionelle und regionale Küche, kompromisslos und diätfrei, weder vegetarisch noch vegan, geschätz vor allem von Leuten, die über eine adäquate kulinarische Vergangenheit verfügen, die sie selbst erlebt und nicht medial verdünnt erfahren haben. Hier gibt es etwas für alle Sinne, und die werden schließlich nicht ununterbrochen von einem überlasteten Gehirn gesteuert.
Im Mittelpunkt dieser Vor-Corona-Geschichte soll aber nicht nur das Essen, sondern eine Geschichte rund um den legendären Paul Haeberlin von der „Aberge de l’Ill“ stehen, die sich nicht weit vorn hier in Illhäusern findet. Der 2008 verstorbene Paul Haeberlin hatte noch sehr lange frühmorgens in voller Montur in der Küche gestanden, und zumindest Ansatz und Fertigstellung der Fonds und Saucen überwacht. Irgendwann war es aber zuviel, und er zog sich zumindest ein kleines Stück zurück, sozusagen ein paar Meter weiter in das Eckzimmer, in dem sich die Familie üblicherweise tagsüber aufhält. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, brachte mich Marc Haeberlin dort hin. Paul saß genau in der Ecke, freute sich erkennbar, redete aber wie immer sehr wenig. Für mich war es ein wenig wie eine Audienz – auch wenn wir ein gutes Verhältnis hatten und uns schon lange kannten.
Paul hatte übrigens während der Arbeit nie Alkohol zu sich genommen und auch sonst nicht viel getrunken. Im hohen Alter aber entwickelte er ein großes Interesse an Champagner, vielleicht wegen der komplexen Herbheit, die gute Champagner haben, und die viele Profis so schätzen, weil sie einfach sehr kulinarisch schmeckt. – Aber das ist nicht das, was ich erzählen will. Es geht um eine Angewohnheit, die er an seinem freien Tag entwickelt hatte. Er ging nämlich gerne nach Selestat ins „Au Bon Pichet“ und aß am liebsten den gefüllten Schweinsfuß von seinem alten Freund Roland Barthel, der bis zum Jahr 2011 das Restaurant führte und es dann an seinen Sohn Franck übergeben hat. Irgendwann war es mit den Besuchen dort aber ebenfalls vorbei, Paul Haeberlin konnte das Haus nicht mehr verlassen, und außerdem hatten ihm seine Ärzte dringend von einem solchen Essen abgeraten, was natürlich von seiner Familie auch unterstützt wurde.
Aber – da hatten sie die Rechnung ohne den alten Fuchs gemacht. Die Verbindung von Haeberlin zu den Barthels war die von Meister zu Schüler, er wurde und wird von Vater wie Sohn wirklich geliebt und verehrt. Da lief also was, und Paul griff zum Telefon, um sich seinen geliebten Schweinsfuss kommen zu lassen. Und wenn der Chef ruft, tat man, was er gesagt hatte und scherte sich nicht darum, dass irgendwo ein paar Ärzte anderer Meinung waren. Natürlich fiel das irgendwann auf, aber Paul Haeberlin stoppte die Sache nicht wirklich, sondern versuchte es erfolgreich immer wieder – notfalls eben so unauffällig wie möglich schnell am Fenster angereicht. Als ich das gehört habe, fand ich es einfach eine wunderbare Geschichte vom Leben mit gutem Essen, von einem weltbekannten Koch, der die Küche seiner Region in schiere Delikatesse verwandelt hat und trotzdem nie seine Liebe für die bodenständigen Fassungen dieser Küche verloren hat und vielleicht deshalb die Optimierungen so gut hinbekam, weil seinem Geschmack immer etwas von dieser bodenständigen Finesse geblieben war.
Die Wahl Paul Haeberlins kann man ohne weiteres nachhvollziehen. Der Schweinsfuss ist immer noch zu bekommen, nicht immer auf der normalen Karte sondern im Tagesangebot, notfalls muss man fragen. Das merkwürdige Gebilde, das aussieht wie irgendeine ländliche Wurst, enthält einen entbeinten Schweinsfuss, der zusammen mit Wirsing und Foie gras und einigen weiteren Aromen in ein Schweinsnetz verpackt und dann gegart wird. Er schmeckt rustikal, aber fein, nicht zuletzt wegen des Foie Gras-Anteils, der hier immer die Funktion einer Würze hat. Die ganz feinen Versionen von ähnlichen Zusammenstellungen bei Haeberlin gehen teilweise auf Zubereitungen à la Romanov zurück (die aber ebenfalls zum größten Teil aus Frankreich den Weg nach Russland fanden), also Kombinationen wie das Cotelette von Taube oder Rebhuhn mit Wirsing, Foie gras und Trüffel. Natürlich ist die Fassung im „Bon Pichet“ einfacher, aber – man schmeckt den Zusammenhang und im Grunde sogar etwas mehr, nämlich eine Rustikalität, die die Spitzenküchen-Version nicht mehr hat, oder – präziser gesagt – nur dann hat, wenn man die rustikale, traditionelle Variante kennt.
Ganz davon abgesehen gibt es im „Au Bon Pichet“ auch andere sehr gute Sachen, etwa die traditionellen, enorm frisch und knackig wirkenden Salate mit Foie gras oder das Kalbskotelett, das hier besonders gut ist, weil die Familie Barthel ursprünglich als Metzgerei gestartet ist und Chef Roland Barthel immer ein besonders inniges Verhältnis zu Fleisch gehabt hat. Sie werden sich dort dann gegebenenfalls auch darüber wundern, dass in Frankreich das Fleisch in den besten Häusern so ganz anders gut schmeckt als die Dry-aged-Varianten, die man mittlerweile bei uns in jedem Steakhouse bekommt. Warum? Hier gab es schon immer eine reine Fleischzucht, in kleiner Herde, alles bestens. Das schmeckt am Ende dann anders, nicht so herbeigebastelt – sozusagen.
Es ist vollkommen klar: wenn ich demnächst einmal wieder in Frankreich sein sollte, wird es mir wieder so gehen. Nach drei Tagen kommt dann zwar wieder der „Kater“ und man nähert sich dem Leichteren. Aber auch das wird wieder vergehen….
Dieser gefüllte Schweinsfuß ist ein interessantes Ding. Er führt uns in eine kulinarische Welt, die so bei uns sicherlich nicht anzutreffen ist, und die wunderschöne Geschichte über den kompromisslosen Schlemmer Haeberlin ist der Stoff aus dem die Legenden des kulinarischen ancien regime gewebt sind. Aber so einfach ist es dann doch nicht. Wer diese Monstrosität schon einmal genossen hat – ich hatte schon zweimal das Vergnügen – wird auch unweigerlich mit einer anderen Frage konfrontiert: kann ein Essen, dessen Verzehr offensichtlich in hohem Maße ungesund ist und einen äußerst robusten Magen erfordert, als kulinarisch wertvoll gelten? Überspitzt: Wo ist noch der Unterschied zum berüchtigten heart attack Burger aus Las Vegas, außer dass dort das Opfer keine Kochlegende aus Frankreich war? Oder weiter gefasst: warum kommt tradierten Geschmacksbildern, die ehemals durch die Vorlieben einer nach Kalorien und Fett lechzenden Kundschaft geprägt wurden, der Rang einer kulturellen Errungenschaft zu, während die Freunde industrieller Geschmacksbilder, die ebenfalls auf dem süchtig machenden Potential von Fett, Salz und Zucker basieren, als Komaesser diffamiert werden. Könnte es nicht sein, dass das eine möglicherweise nur die logische massentaugliche Konsequenz des anderen ist? Aber das ist schon arg off-topic. Davon abgesehen: die vor-Coronaserie ist wunderbar!
Lieber Marius, ein interessanter Aspekt. Ansonsten gibt es Komaesser überall. Im Grunde istauch jedes Spittzenküchenmenü von 5 oder 6 Gängen auch längst „jenseits“…
Die Einteilung in gesundes und ungesundes Essen ist unwissenschaftlich. Was dem einen bekommt, bringt den anderen um. Es gibt Menschen, welche nach dem Genuss eines Apfels sterben.
Und dass Essen den Herztod hervorruft oder begünstigt, ist seit den 1980ern widerlegt.
Und nein, weder die meisten Ärzte, noch Ernährungsberater, gar Journalisten sind Wissenschaftler.
Jedoch ist über die Ausschüttung von Glückshormonen durch gutes bis exzellentes Essen einiges bekannt.
Ein grossartiger Mensch – ein Vorbild Monsieur Paul. Die beste Zeit in meinen gastronomischen Berufsleben 1978.