Vor-Corona: Gastronomische Bilder aus besseren Zeiten, Bild 4

„La Grenouillère“ in La Madeleine-sous-Montreuil

Es gibt nur sehr wenige Restaurants, bei denen ich der Meinung bin, Freunde der kreativen Küche sollten hier wenigstens einmal in ihrem Leben gegessen haben. Es gibt viele gute Restaurants, beeindruckende Restaurants, schöne Restaurants, sehr gute Küchen und sehr beeindruckende Küchen. Aber es gibt eben nur ganz wenige, bei denen so viel Interessantes zusammenkommt, dass die aktivierten Sinne ein völlig neues Level der Wahrnehmung erreichen können. „La Grenouillère“, das Restaurant von Alexandre Gauthier, gehört definitiv zu diesem sehr kleinen, aber preislich gesehen durchaus nicht zwingend elitären Kreis.

Es beginnt schon damit, dass man in dieser nordöstlichen Ecke Frankreichs zwar an der Küste einen Touristenort neben dem anderen findet, im Landesinneren aber erstaunlich schnell wieder das ländliche Frankreich dominiert. In Montreuil, dem Ort auf der kleinen Anhöhe über „La Grenouillère“ könnte man gleich in einer ganzen Reihe von Straßenzügen ohne größere Umbauten historische Filme drehen. Vieles ist hier noch in jenem Zustand, den man bei uns quasi gar nicht, in Frankreich aber noch häufig findet: man lässt die Häuser auch einmal etwas älter werden, ohne sie gleich mit Baumarkt-Materialien zwangsneurotisch zu modernisieren. Und weil sich der Tourismus hier meist in Grenzen hält, kann man abends bisweilen wunderbar ruhige und gleichzeitig intensiv wirkende Spaziergänge machen.

„La Grenouillère“: Der Ort
Das Restaurant liegt in einer kleinen Ansammlung von Häusern am Rande eines Sumpfgebietes, das dann auch für den Namen verantwortlich war. Wenn man sich dem historischen, flämisch-schwarz-weißen Hof nähert, fällt erst einmal auf, dass es hier keinen Pomp gibt. Den modernen Pavillon mit Küche und Restaurant sieht man kaum, und die Parkplätze sind nicht nur für die Restaurantgäste, sondern auch für die Wanderer gedacht. Es gibt keinen optisch „aufgeblasenen“ Eingang und nur dezente Hinweise darauf, dass man hier in einem der interessantesten französischen Restaurants der letzten Jahre angekommen ist. Vielleicht sollte man vor dem Essen noch eine Runde im Garten drehen, der kein expliziter Gemüsegarten ist, sondern so aussieht, als ob hier tatsächlich die Frösche immer noch ein gutes Zuhause haben. Vielleicht entdeckt man dann irgendwo im Hintergrund die „Hütten“, wie hier einige spektakulär in die Natur eingebaute Pavillons mit Zimmern genannt werden. Auch dort ist alles anders, eigentlich nicht gerade typisch „wie Relais et Chateaux“, obwohl man zu dieser Organisation gehört. Die Zimmer sind komplett originell gestaltet, ein wenig „brut“, und sie passen vollständig zu der Anlage.

Das Essen wird in einem modernen Pavillon serviert, der direkt mit der großen Küche verbunden ist und je nach Platz einen freien Blick auf die Arbeit der zahlreichen Köche zulässt. Das Ganze hat eine dezent industrielle Ausstrahlung, ein wenig wie in einem ehemaligen Industriebetrieb – Bitumenboden eingeschlossen. Und weil in der Küche nur Theken und Tische, aber keinerlei Hochschränke o.ä. zu sehen sind, bekommt die Arbeit auch ein wenig die Form eines modernen Balletts. Alles bewegt sich, der Blick geht meist nach unten, man sieht die Kreationen noch nicht, und wird dann von oft farbenfrohen Kompositionen überrascht, die in diesem in dunklen Farben gehalten Umfeld unbedingt wie kleine Pretiosen wirken, also einen sehr effektiven Kontrast ergeben, den man sonst kaum irgendwo erlebt.

„La Grenouillère: Die Gastronomie
Dass Chef Alexandre Gauthier ein ganz besonderer Koch ist, hat man in Frankreich schon früh gemerkt. Wenn in diesem so überaus hierarchisch denkenden Gastronomie-System ein Koch nach Alain Ducasse zum einflussreichsten französischen Koch gewählt wird, hat das eine Bedeutung, die wir bei uns kaum nachvollziehen können. Die großen Kreativen des Landes, die selber weltweit Einfluss auf die kulinarische Entwicklung genommen haben, weil sie etwas geleistet haben, das für jeden kreativen Koch von höchstem Interesse ist, waren fast alle schon sehr früh da – Pierre Gagnaire und Olivier Roellinger zum Beispiel. Sie haben eine Gastronomie erlebt, bei der die üblichen gastronomischen Mechanismen manchmal mit einigem Humor, oft aber auch einem klaren Hintergrund ausgeschaltet werden. Der Service trägt Arbeitsmontur und serviert zum Beispiel die Speisekarte als zerdrücktes Papierknäul. Größer kann der Gegensatz zu den früher oft gigantischen Speisekarten-Büchern kaum sein. Oder: manche Gerichte wurden und werden auf Scherben serviert (exzessiv zu sehen in dem ausgezeichneten Buch des Meisters), natürlich auch ein Zeichen gegen die alte Tischkultur, aber gleichzeitig auch nie verkrampft ernst gemeint, sondern immer auch mit dem Hauch einer neuen Ästhetik, die künstlerischer denkt und mit solchen Dingen regelrecht spielt.

„La Grenouillère“: Das Essen
Auch wenn es hier also Vieles zu bestaunen und zu bedenken gibt: die eigentliche Sensation ist das Essen, das hier meist in Degustationsmenüs von rund 10–12 Gängen serviert wird – plus diversen Kleinigkeiten. Gauthier kocht so, wie die Franzosen angeblich alle kochen, nämlich radikal produktnah, radikal frisch, sehr natürlich und mit einem enormen Einfallsreichtum, der allerdings nie aus dem Rahmen fällt, also nie eine genuin kulinarische Struktur verlässt. Das Ergebnis sind Gerichte, die ganz auf klare, überschaubare Zusammenhänge abgestellt sind. Wenn man aber nun meint, die Einfachheit würde zu einem „einfachen“ Geschmack führen, wird man schnell erkennen, dass es hier komplett anders zugeht, dass Gauthier eine ganz eigene Vorstellung von Geschmack hat und nie auch nur in die Nähe von Klischees irgendwelcher Art kommt. Und unter „Klischee“ sollte man in diesem Zusammenhang auch „neue“ Klischees verstehen, also auch die aktuellen geschmacklichen Moden, die zum Beispiel bei uns in Deutschland zu einer flächendeckenden Adaption japanischer Würzmittel geführt haben.


 
Gauthier findet Akkorde und meist mini-invasive Kochtechniken, die in ihrer Wirksamkeit immer wieder verblüffen. Da gibt es zum Beispiel Langustine mit Navet (die Struktur auf dem Foto ist quasi eine getrocknete Bisque), Blinis von Vollmilch mit Taschenkrebs, Gelbe Zucchini mit Bulot-Schnecken und Pollen, ein „Stilton-Kissen“, ein „Poulet rôti“, das nur aus einer weißen Kugel besteht und dennoch den ganzen Geschmack eines gebratenen Huhns hat, Kalbsbries mit Aprikose, Junge Kuh mit Trüffelgnocchi, gebratener Kopfsalat mit Sauerampfer oder den „Klassiker“ „Bulle de Marais“, der einem Froschlaich nachempfunden, tatsächlich aber ein ungeheuer frisches Dessert ist. Apropos „Frische“: man kann im „La Grenouillère“ das Gefühl haben, dass hier „Frische“ neu definiert wird. Natürlich gibt es einmal die Tagesfrische, vor allem für Fisch und Gemüse. Es gibt aber auch einen Geschmack, der Frische ausstrahlt, weil er die Frische-Aspekte der Produkte nie bricht und weil er von einer ganz genauen Temperatursteuerung unterstützt wird.

Ein Essen hier ist ein großes Erlebnis, und ich habe von Gästen gehört, dass sie zwei Tage hintereinander hier gegessen haben und am zweiten Tag ein komplett anderes Menü von absolut gleicher Qualität bekommen haben. Man sollte hier essen und mit großer Konzentration und Entspannung, aber auch mit viel Offenheit darauf achten, was ein solches Essen mit dem, was man an Vorerfahrungen im Kopf hat, anstellt. Danach wird vielleicht Vieles anders sein. Der wunderbar offene und bodenständige Alexandre Gauthier erreicht Regionen im Gehirn, die andere nicht erreichen. Ganz einfach.
In Frankreich – und vor allem im Nordosten – geht es mit dem Corona-Virus sehr heftig zu. Anders als bei uns ist die Öffnung der Restaurants noch nicht abzusehen. Hoffen wir das Beste für ein gutes Überstehen der Krise.

7 Gedanken zu „Vor-Corona: Gastronomische Bilder aus besseren Zeiten, Bild 4“

  1. Runde Rezension, Herr Dollase, wie immer ausführlich und möglichst objektiv, gut lesbar, danke. Das zahlungskräftige Publikum wird zum größten Teil aus der windgezausten Pariser Bel Époque-Sommerfrische Le Touquet am Ärmelkanal die 20 km herüberkommen und genießen. Was ich vermisse, sind Bildunterschriften, zumal die Kreationen von Gauthier nicht selbsterklärend wie beispielsweise die Garnitur zum Schnitzel à la Holstein sind.

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  2. Sehr sehr schön geschrieben , wir selbst sind seit 2009 bei Alexandre zu Gast und haben schon viele schöne Kulinarische Stunden erlebt . In keinem Restaurant waren wir öfter und in keinem fühlen wir uns so wohl , danke für den schönen Bericht ! Torsten Schubert

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  3. Verehrter Herr Dollase,
    La Madeleine-sous-Montreuil liegt in der Nord-westlichen Ecke Frankreichs, nicht in der Nord-östlichen. Da wird sich der geneigte Leser gewaltig verfahren. 😉

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  4. Verehrter Herr Dollase,
    La Madeleine-sous-Montreuil liegt in der Nord-westlichen Ecke Frankreichs, nicht in der Nord-östlichen. Da wird sich der geneigte Leser gewaltig verfahren.

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    • Der Text macht Lust und weckt das Interesse. Sofort hinfahren wäre schön. Als Vegetarier weiß ich dann nie, ob es dort möglich ist ein vegetarisches Menu zu essen?
      Immer wieder ist es ja auf Nachfrage möglich

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