Die Po-Ebene ist nicht die Toskana. Statt Postkartenmotiven an jeder Ecke gibt es hier oft spröde Landschaften, deren ganz spezieller Reiz sich nur Leuten erschließt, die ganz auf Empfang gestellt und ihre alten Vorstellungen zu Hause gelassen haben. Wir waren unterwegs zu einigen Terminen in der Gegend und hatten noch etwas Zeit, die wir für das ein oder andere prächtige Trattoria-Erlebnis in abgelegenen Orten oder auch einen Besuch in Brescello, dem Drehort der Don Camillo-Filme nutzten, der heute noch eine ganz ähnliche Ausstrahlung wie in den Filmen aus den 50er Jahren hat – zumindest außerhalb der Hochsaison.
Aus eher systematischen Überlegungen heraus (ich kenne gerne alle Restaurants von Rang) kamen wir an einem Mittag nach einer Fahrt durch endlose Baumschulen in einen kleinen Ort namens Quistello, wo sich ein Restaurant mit Namen „l’Ambasciata“ finden sollte, das wegen seiner 2 Michelin-Sterne natürlich auf meiner Besuchsliste stand. Es war ein wenig schwer zu finden, weil buchstäblich gar nichts darauf hindeutete, dass der versteckte liegende Eingang an der Rampe zu einer Brücke über das Flüsschen Secchia zu einem Restaurant führte, das zu den spektakulärsten gehört, die ich jemals besucht habe. Es ging hinein und durch einen Gang ein wenig hinunter in etwas das – wie soll man es nennen – aussah wie das Depot eines Museums für Tafelkultur und Geschichte der Kochkunst. Überall stapelten sich Berge von Materialien, Bücher, Geschirr, Gefäße aller Art, nicht nur in Regalen, in und auf Schränken, auf Tischen und Hockern und Stühlen, sondern auch auf dem Boden. Es blieb nur ein kleiner Gang frei, der in eine Ecke führte, wo sich der eigentliche Eingang des Restaurants befand.
Dort saß er, Romano Tamani, der Koch und mit seinem Bruder und Serviceleiter zusammen Chef des Hauses, dick bis sehr dick, ein Bild von einem Koch der beleibten Art, unbedingt Vertrauen darin erweckend, dass es sich hier nicht um ein der Diät nahestehendes Restaurant handelt (sondern eher eines, das vielleicht irgendwie etwas mit Diäten der anderen Art zu tun hat…). Es war sofort klar, dass wir hier einen ungebrochen italienischen Geschmack bekommen würden, so süffig wie möglich – nicht so süffig wie nötig. Tamani blieb auch während des Service weitgehend an dieser Ecke neben dem Eingang sitzen – außer…wenn er einen seiner Auftritte hatte. Aber dazu gleich mehr. Alle Gäste an diesem Mittag kamen bei ihm vorbei, alle wurden ausführlich und meist mit Küssen begrüßt, oder besser: man begrüßte den Meister, der sitzen blieb und zu den Begrüßungen nicht aufstand. Und immer wurden mehr als ein paar Worte gewechselt, er schien auch so etwas wie eine lokale Kommunikationszentrale zu sein.
Wir wurden an unseren Tisch im Hauptraum gebracht, und ich hätte beinahe beim Hinsetzen den Sitz verfehlt, weil ich von der unglaublichen Einrichtung des Raumes komplett überwältigt war. Auch hier war jeder Zentimeter vollgestellt mit den Sammelstücken. Gleichzeitig hatte man aber auch noch versucht, den Eindruck eines italienischen Marktplatzes zu erzeugen – mit Markisen wie bei manchen Marktständen. Kurz und gut: es sah aus, wie sich vielleicht ein italienischer Gourmet den Himmel vorstellt, üppig, voll von Dingen, die an die schönsten Erlebnisse erinnern und das Gehirn in einen Strudel von Emotionen aller Art versetzen, an dessen Ende dann der Bissen in die nächste Pasta steht.
Und noch etwas fiel auf. Drüben, direkt im Anschluss an den Eingang und den Platz von Romano Tamani war ein großes Fenster zur Küche, in dem man allerdings nicht viel von der Küche sah (da sind die Internet-Bilder anders), weil sich die eigentliche Arbeit irgendwo an der Seite abspielen musste. Von unserem Platz aus sah man eigentlich überhaupt nichts, als ein Art Aquarium, in dem aber nichts zu sehen war. Dann erlebten wir – anders kann man das nicht sagen – was der Sinn dieses Fensters war. Dreimal während des Service erhob sich Tamani von seinem Sessel in der Ecke und verschwand. Wenige Sekunden später erschien er im „Aquarium“ im Bild, wild gestikulierend, Spaghetti in die Höhe ziehend und mit ausladenden Bewegungen mit Töpfen, Tellern und Schüsseln hantierend. Es sah spektakulär aus, und beim ersten Mal dachten wir noch, er würde zum Anrichten der Teller in die Küche gehen, bis wir merkten, dass auch die Auftritte zwei und drei absolut identische Bilder lieferten. Als wir später bei Nadia Santini zu Besuch waren, sprach ich mit Antonio Santini über unsere Restaurantbesuche in der Gegend. Er kannte das natürlich. „Das ist kein Restaurant“, sagte er, „das ist eine Oper, eine Aufführung“.
Im „Ambasciata“ ging es an eine Küche, die gut, aber nicht unbedingt in Richtung von zwei Sternen ging (im Jahr nach unserem Besuch haben sie dort einen Stern verloren). Sie war traditionell mit einem Schuss altmodischer Anrichteformen, nicht ganz so kalorienreich wie befürchtet – zumindest nicht bis zum Dessert. Es gab zum Beispiel „Tortellini verdi di erbette, ripieni e fegato d’oca, marinato al porto in brodo di coda di bue“, „Bigoli al trocio con sardelle, rizzoli parma, trancio di tonno fresco mediterraneo, oli extra vergine de oliva“ oder „La sinfonia in Re maggiore, crema di patate, cappesante, code di gamberi, filetti di sogliola, olio exttra vergine de oliva, coriandoli de aranzia“ – viel Lyrik, um nicht zu sagen: eine maximale Lyrik. Ein Höhepunkt war dann wieder das Dessert, nämlich die berühmte Schokoladensalami des Hauses mit Zabaione. Diese „Salami“ kann man am ehesten mit der Dichte der Schokoladenmasse bei einem „kalten Hund“ vergleichen – natürlich aromatisch um ein Vielfaches stärker angereichert, sehr süß, begleitet von einer Zabaione, die den Hang der Italiener zu extrem üppigen Desserts mit extrem üppiger Süße aufs beste illustrierte. Und – bevor das Dessert serviert wurde kam doch tatsächlich ein kleiner Küchenjunge mit großer Kochmütze aus der Küche an den Tisch, wortlos mit dem Schneebesen in der großen Kupferschüssel mit Zabaione rührend. Er ging – rührend – zu meiner Frau, dann zu mir und verschwand ernst und wortlos wieder in der Küche.
Irgendwann musste ich auch einmal zur Toilette und suchte meinen Weg entlang der Ausstellungsstücke und um einige Ecken. Ich betrachtete vor allem die Bilderrahmen an den Wänden, die allerlei Urkunden und Erinnerungsstücke enthielten. Nahe dem Eingang waren mir schon verschiedene Papstbilder aufgefallen, darunter auch solche, die die Tamanis mit dem Papst im Restaurant zeigten. Und während ich noch überlegte, ob es so etwas auch bei uns gibt, passierte ich mehrere gerahmte Erinnerungsstücke, die – sagen wir: mit dem Papst eher wenig zu tun hatten. Es waren Dessous, die in ihrer Anordnung und Unordnung definitiv so aussahen, als ob sie aus einer nicht näher zu beschreibenden, ziemlich lukullischen Veranstaltung im Hause Tamani stammten. Trophäen, sozusagen, anders konnte man das nicht interpretieren.
Ich habe damals (die Restaurantkritik zu dem Besuch ist 2009 in meiner FAZ-Kolumne „Geschmackssache“ erschienen) notiert: Falls es einen Ehrentitel „Feuilleton-Restaurant“ geben sollte, wäre das „Ambasciata“ auf alle Fälle ein dringender Kandidat.
Vor gar nicht langer Zeit hat nun Romano Tamani das Restaurant an einen wesentlich jüngeren Koch abgegeben. Man wird sehen, was dort passiert. Ich muss also – mit einer gewissen Traurigkeit – konstatieren, dass man einen solchen Besuch vermutlich leider nicht mehr machen kann. Er ist Erinnerung. Aber die füllt das Leben, und das um so mehr, je mehr wir auch neue Erlebnisse hinzunehmen können.
Wir warten weiter.
Fotos aus „La Grande cucina del Vicariato di Quistello“ aus dem Jahre 2001, © Gianni Renna