Aus aktuellem Anlass geht es in dieser Folge der Vor-Corona-Geschichten nach Barcelona in das Reich des Albert Adrià, einen Stadtteil, in dem sich insgesamt fünf Adrià-Restaurants befinden.
Gerade eben hat der Bruder von Ferran Adrià, der lange Jahre fälschlicherweise „nur“ als Patissier des „El Bulli“ gesehen wurde, angekündigt, dass er vier seiner Restaurants schließen muss, weil er mit den strengen Corona-Auflagen in Barcelona nicht wirtschaftlich arbeiten kann. Wir erleben hier ein erstes prominentes Opfer einer Phase, in der die Gastronomie formal wieder öffnen darf, die Restriktionen aber so groß sind, dass sich nicht das realisieren lässt, was vorher normal war. Die Umsätze stimmen nicht, man kann das Personal, dessen Zahl und Qualifikation für ein ausgelasteten Restaurant bestimmt ist, nicht mehr beschäftigen, und ein wirtschaftliches Arbeiten ist auch bei den Produkten nicht möglich. Das „Tickets“ etwa, das hier im Mittelpunkt stehen soll, war jeden Abend mehrfach besetzt und hatte eine ganze Armee von rund 50 Mitarbeitern, die für außergewöhnlich gute Qualitäten in außergewöhnlicher Geschwindigkeit sorgen konnten. Eine gut geölte Maschine läuft eben nicht, wenn man einfach ein paar Zahnräder oder Schrauben entfernt… Was in Zukunft passieren wird, ist im Moment noch nicht ganz klar. Das „Enigma“, kreatives Flaggschiff von Albert Adrià, wird geöffnet bleiben.
„Tickets“, ein einflussreiches gastronomisches Ereignis von Weltrang
Wer die einerseits eher traditionelle, andererseits ultramoderne Atmosphäre im „El Bulli“ kennengelernt hat und vor allem auch die Buchdokumentationen der Arbeit im „El Bulli“ kennt, kann schnell ein Urteil über die Brüder Ferran und Albert Adrià fällen, das in keiner Weise zutrifft. „El Bulli“ war ein Projekt, dass nur aus der Richtung dieser beiden Großkreativen kommen konnte, aber es ist eben nicht alles, was sie mögen und wollen und vor allem können. Im persönlichen Umgang und bei Essen an anderen Stellen außerhalb des „El Bulli“ habe ich einen vollständig anderen Ferran Adrià erlebt, bodenständig, vielfältig interessiert und durchaus nicht so, wie sich der ein oder andere Beobachter vielleicht einen hochtechnisierten Küchenguru oder exzentrischen Koch-Künstler vorstellen könnte.
Das, was sie dann nach „El Bulli“ in Barcelona angefangen haben, entspricht schon eher dem schillernden Bild der beiden Köche. Entstanden ist fast so etwas wie ein Dorf von 5 Restaurants, die alle nicht weit voneinander entfernt sind. Im „Hoja Santa“ geht es um eine optimiert-verfeinerte Form der mexikanischen Küche. Im „Pakta“ um Nikkei-Küche, also den Mix aus südamerikanischer und asiatisch/japanischer Küche, in „Bodegas 1900“ um traditionelle spanische Küche, im „Tickets“ um eine populäre Spielweise zwischen Tapas, Molekularküche und einer exzellenten Produktküche. Das „Enigma“ schließlich, das erst etwas später dazugekommen ist, sollte die ganz persönliche Spitzenküchen-Kreativ-Version von Albert Adrià sein. Alle Restaurants zeichnen sich nicht nur durch ihre Küche, sondern auch durch ein adäquates Ambiente aus. Das absolut hervorstechende Konzept ist aber das „Tickets“, weil dort eine ganze Reihe von Dingen zusammengeführt sind.
Wenn man das Restaurant durch eine völlig unpompöse Tür betritt wie eine ganz normale Tapas-Bar, kann man erst einmal durch die Fülle an Eindrücken irritiert sind. Es scheint keine besondere Struktur in den verwinkelten Räumen zu geben, alles wuselt durcheinander, Wände und Decken sind vielfältig dekoriert, und trotzdem wirkt das Ganze nicht forciert-planlos, sondern eben vor allem originell. Die nächste Irritation für internationale Gourmet-Gäste könnte sein, dass es hier offensichtlich sehr locker und informell zugeht – und das tatsächlich und nicht so „locker“ wie das in manchen schein-modernen Etablissements der verkrampften Art bei uns der Fall ist. Und es gibt noch eine mögliche Irritation, nämlich die Erkenntnis, dass hier ausgesprochene Profis am Werk sind – und zwar vom Service über die Weinberatung bis zur Küche.
„Tickets“: Menü und Essen
Das kulinarische Konzept ist erst einmal durch das Tapas-Format geprägt und dadurch, dass man informell an das Essen herangeht. Zum Zeitpunkt meines Besuchs war es theoretisch möglich, für ein paar Euro nur die sphärischen Oliven zu bestellen und dann wieder zu gehen. Praktisch hatte man sich darauf eingestellt, in enger Kommunikation mit den Gästen den Ablauf des Essens zu personalisieren. Neben uns (ich war mit Thomas Ruhl dort) saß ein amerikanisches Ehepaar, bei dem man den Ablauf gut studieren konnte. Der Service erschien und erklärte, dass man am besten mit zwei oder drei Tapas anfangen und danach entscheiden solle, wie man weitermacht. Der Preis dieser Tapas fing tatsächlich bei ein paar Euros an und ging dann – je nach Produkt – natürlich deutlich in die Höhe, aber immer so, dass man nie den Eindruck hatte, man wäre in einem explizit hochpreisigen Restaurant (auch wenn die Rechnung am Ende durchaus gewisse Höhen annehmen kann). Mit der Weinbegleitung ging man übrigens ähnlich abgestuft vor.
Ein solches Konzept braucht natürlich Voraussetzungen, vor allem weil jedes Gericht einzeln zubereitet wird, also nicht von irgendwelchen größeren Platten kommt. Die Voraussetzungen sind viel Personal von hoher Qualität, das hier in der Regel die Adrià-typischen, ja quasi immer asynchron servierten Tapas-Menüs gewohnt ist, und ein kulinarisches Konzept, das vor allem nahe an den exzellenten Produkten der Gegend ausgerichtet ist. Wenn man viel fangfrisches, morgens gekauftes/geliefertes Material zur Verfügung hat, ist da eine Menge möglich. Dazu kommt, dass man im „Tickets“ wirklich konzentriert an den Produkten bleibt. Hier wird nicht unnötig dekoriert, sondern dafür gesorgt, dass der Gast wirklich das zu schmecken bekommt, was er auch schmecken soll. So etwas behaupten viele, hier aber ist es so. Der Molekularküchen-Anteil hält sich dabei in eher funktionalen Grenzen, hier wird eben nicht geforscht, sondern angewendet.
Die Qualität ist sehr hoch. Die sphärischen Oliven sind hier das Original und keine technisch unzulängliche Kopie, sie haben hier eine hauchdünne Hülle und ein wunderbar intensives Aroma. Es gab zum Beispiel einen Cake von Rote Bete mit Joghurt und Senfcreme, Stierschinken mit Kaviar, Thunfisch-Sashimi mit Reiscrackern, gefülltes Popcorn, Seeigelzungen auf Thunfisch, Aal, Spargel, Austern, Clams, Oktopus, alles minimalistisch und glatt überzeugend. Zum Dessert geht es dann in einen eigenen Dessertraum mit spektakulärer Deckengestaltung (siehe Bild) und vergleichsweise zurückhaltenden, nicht ganz so artistischen Desserts wie man sie vielleicht von Albert Adrià erwarten könnte. Der Raum war übrigens vor dem „Tickets“ das „41“, also das Vorläufer-Restaurant, in dem man ursprünglich versucht hatte, sozusagen das „El Bulli“ in klein zu reproduzieren.
Fazit: Das „Tickets“ muss weitergehen.
Das Ganze wirkt definitiv wie Spitzenküche in einem anderen räumlichen Format und unter denjenigen „Casual“ – Bedingungen, von den viele Köche reden, aber Schwierigkeiten haben, sie hinzubekommen. Alles zusammen ergibt ein Restaurant von Weltklasse, zukunftsweisend und geradezu wichtig als Vorbild oder Anregung für die internationale Gastronomie. Es geht nicht darum, hier etwas zu kopieren, sondern um das Verständnis, wie es wird, wenn die Leichtigkeit des Seins mit hoher kulinarischer Professionalität und Imagination zusammenkommen.
Wenn man zwischen den Zeilen der Presseerklärungen liest, darf man hoffen, dass es hier noch nicht zuende ist, man aber warten muss, bis sich wieder normale Bedingungen ergeben. Ob man dann wieder starten kann, wird auch davon abhängen, wie die Motivationslage und die Finanzsituation der Beteiligten ist. Und das ist – soviel ist heute schon sicher – ein Problem, mit dem erst einmal niemand gerechnet hatte. Von 100 auf Null geht offensichtlich. Von 0 auf 100 ist eine ganz andere Frage.