Veyrat vs. Michelin: Kann man wirklich die Führer verklagen?

Der französische Kreativ-Star Marc Veyrat hat es also wirklich wahr gemacht: er hat den Guide Michelin verklagt und will seinen in der aktuellen Ausgabe gestrichenen 3. Stern zurückbekommen. Wie die Aussichten sind, kann ich ohne Kenntnis des französischen Rechtssystems nicht voraussagen. Aber – man kann mit einigen interessanten Gedanken spielen, zumal ernsthafte Beschwerden über Bewertungen in den Führern auch bei uns anzutreffen sind. Tatsächlich sind sie sogar sehr viel häufiger, als das allgemein bekannt ist. Sie kommen aber quasi nie auf eine juristische Ebene, weil es häufig als völlig aussichtslos gilt, Restaurantführer zu verklagen. Normalerweise geht man davon aus, dass Restaurantkritiken Meinungen sind, die von der Meinungsfreiheit und der Pressefreiheit „gedeckt“ werden. Wenn einem Gast ein Essen nicht gefällt, kann er das außerdem heutzutage völlig ohne jede Zurückhaltung in den sozialen Medien verbreiten. Von den Führern verlangt man da vielleicht etwas mehr Professionalität und Sachkenntnis – im Prinzip handelt es sich aber um die gleiche Aktion.

Anders wird die Sache, wenn es sich offensichtlich nicht um Meinungen, sondern um Fakten handelt, wenn also nicht nur gesagt wird, ein Essen sei – sagen wir: langweilig und schlecht gewürzt gewesen, sondern statt des angekündigten Rehrückens habe man offensichtlich Hasenrücken benutzt, weil nämlich im Rücken noch Schrotkugeln zu finden gewesen seien und Reh ja üblicherweise nicht mit Schrot geschossen wird. Oder: statt der „weißen Trüffel“, die zu dem Pasta-Gericht auf der Karte versprochen wurden, habe die Küche nur synthetisches Trüffelöl eingesetzt. Marc Veyrat setzt dann auch bei seiner Klage nicht auf Meinungen, sondern offensichtlich auf einige Fakten. Er hat wohl bei Michelin schon einige Details für die Gründe seiner Herunterstufung erfahren, darunter solche, die nach seiner Meinung nicht zutreffen – etwa die Verwendung von Cheddar-Käse obwohl es sich um eine komplexe Zubereitung aus verschiedenen regionalen Käsesorten handelte. Sollten sich diese Fakten bestätigen, hat der Führer zwar Falsches registriert. Ob man deswegen aber den dritten Stern zurückgeben wird oder sogar muss, ist sehr, sehr unwahrscheinlich. Man könnte jederzeit von solchen Details abstrahieren und zum Beispiel behaupten, dass sie keine ausschlaggebende Rolle gespielt hätten.

Wie sich Führer und Restaurantkritiker durch die Fakten schlängeln können
Wie weit Kritiken Meinungen und wie weit sie überprüfbare Fakten enthalten, ist sehr unterschiedlich. Es gibt zum Beispiel Führer, deren Kurz-“kritiken“ nach einem Blick auf die Speisekarten im Netz geschrieben werden. Da kann man dann zum Beispiel davon reden, dass sich eine Küche im Laufe der letzten Jahre stärker regionalen Gerichten zugewandt hätte oder behaupten, dass auch Koch X nun auf die mittlerweile überall anzutreffenden asiatischen Einflüsse setzt. Man kann schreiben, dass Koch Y mit einer zuverlässigen mediterranen Küche überzeugt und Zitate aus der Karte sozusagen als Beweis nehmen. Auf diese Weise lassen sich ganze Seiten und Führer füllen – ohne dass überhaupt ein Tester/Kritiker aktuell im Restaurant war. Peinlich wird es nur dann, wenn da mal etwas durcheinander geht und ein Gang beschrieben wird, der in dem betreffenden Restaurant nie serviert wurde. Das ist schon vorgekommen und hat auch schon zu juristischen Schritten geführt.

Es empfiehlt sich, einmal Kritiken darauf hin zu befragen, ob sie überprüfbare Fakten enthalten oder nicht. Das Resultat dürfte überraschen. Klare Fakten, die sofort überprüfbar wären, wird man sehr selten finden. Sätze wie „das Rinderfilet war zu weit durch“ etc. sind dabei kaum ernst zu nehmen, weil mittlerweile alle möglichen Garungen in bestimmten Zusammenhängen sinnvoll sein können. Kritiken aber, die präzise etwas kritisieren und dann genau und aufgrund klarer Fakten erklären, warum es zu dieser Kritik gekommen ist, sind extrem selten. Ich persönlich habe mir angewöhnt, für viele Einschätzungen echte Begründungen zu liefern, also zu sagen, etwas ist so und so, „weil“ dies oder das passiert. Solche Sätze suche ich auch beim Lesen von anderen Kritiken, finde sie aber kaum. Ich vermute, dass viele Tester und Kritiker ihre Ausführungen aus gutem Grund lieber schwammig formulieren. Tatsächlich sachlich auf den Punkt zu kommen, setzt das überprüfbare Kennen von Fakten voraus. Und mit Fakten macht man sich angreifbar – mit einem oberflächlichen, sprachlich vielleicht auch noch „aufgebretzelten“ Gerede kaum.

Verlangen Veyrat und andere Köche mehr, als sie selbst leisten könnten?
Insofern ist verständlich, was Veyrat anpeilt und wo er die Schwächen der Tester vermutet. Aber – verlangt er da nicht etwas, das die Köche selber nicht so leisten können, wie er das vielleicht vermutet? Wenn ich in den diversen TV-Sendungen die Einschätzungen von Köchen zu Gerichten höre, fällt mir immer wieder der etwas saloppe Spruch ein: „Wenn sie wirklich so viel vom Kochen verstehen würden, würden sie besser kochen, als sie das tatsächlich tun“. Ich sitze immer wieder auch in den Restaurants von prominenten Köchen und frage mich, wie ihnen eigentlich die Fehler unterlaufen können, die ich gerade wieder feststellen muss. Ich halte es für eine Fehlannahme, dass Köche grundsätzlich hervorragende Tester/Kritiker wären. Natürlich hilft eine Grundausbildung wie eine Kochlehre oder die langjährige Praxis in einem Restaurant. Aber dann? Kaum weicht eine Küche von traditionellem Handwerk ab, geraten auch oder gerade Profis ins Schwimmen, weil für Redzepi und Co. oder die Nova Regio – Küche insgesamt einfach viele andere Kriterien gelten, die sich teilweise deutlich von der klassischen Küche unterscheiden. Da ist dann ein gestandener Alt-Profi als Kritiker sogar eine schlechte Wahl.
Ich bin mir sicher, dass ein ganz überwiegender Teil von Spitzenköchen nicht in der Lage ist, alle Zubereitungen einer kreativen Küche präzise zu definieren. Und – es wird ganz allgemein schwer sein, überhaupt jemanden zu finden, der dazu in der Lage ist. Der Vorwurf an Michelin, ein paar Details nicht korrekt erfaßt zu haben, wirft sicher kein besonders gutes Licht auf Michelin, schießt aber auch ein Stück übers Ziel hinaus.

Was in Zukunft helfen könnte, wäre eine Art Zertifizierung von Restaurantkritikern. Das mag vielleicht im ersten Moment nach Bürokratisierung klingen, muss damit aber gar nichts zu tun haben. Es wäre eine Prüfung/eine Ausbildung/ein Verfahren denkbar, das von den Köchen und von einigen erfahrenen Kritikern entworfen werden müsste. Ziel könnte sein, einerseits die Kenntnis von Kochkunst und Kochhandwerk im engeren Sinne zu verbessern, andererseits aber auch das zu verstehen, was über den handwerklichen Teil hinausgehen kann. „Verstehen“ wäre – ganz allgemein – der zentrale Begriff. Wenn es die ersten zertifizierten Spezialisten gäbe und sie ihre Arbeit gut machen, würde sich vermutlich in wenigen Jahren eine deutliche Professionalisierung der Kritik ergeben – zum allgemeinen Nutzen.

1 Gedanke zu „Veyrat vs. Michelin: Kann man wirklich die Führer verklagen?“

  1. Wie die Aussichten waren, ließ sich auch ohne Kenntnis des französischen Rechtssystem sehr gut und sehr präzise voraussagen, und so kam es auch. Eigentlich ist es überall in der Welt ziemlich gleich, ausgenommen Australien und Nordkorea. In Deutschland haben die Gastonomen so gut wie immer verloren (übrigens zu Recht), die Rechtsprechzung ist da sehr klar und sehr berechenbar.

    Kritische Bewertungen gewerblicher Leistungen durch unabhängige Kunden oder Tester sind immer zulässig. Unzulässig sind u.U. verdeckte Wettbewerbsverzerrungen (ein Mitbewerber macht einen direkten Konkurrenten bewusst madig), und unzulässig sind vielfach unwahre Tatsachenbehauptungen. Letzteres ist gerade in der Gastronomie ein weites Feld, und Veyrat glaubte in etwas kindischer Selbstüberschätzung, eben dort einhaken zu können. Wenn eine sich ach so raffiniert dünkende Kombination dreier zum Unsterblichen Ewigen Nationalerbe gehörender Käse mit Safranzusatz aber halt SCHMECKT wie ein billiger Industrie-Cheddar, und so hat es der Michelin-Tester wohl wahrgenommen, nun dann… In Frage stand in jenem Verfahren nämlich nur das Werturteil (das ja immer noch sehr positiv ausfiel), nicht eine nach außen getragene Tatsachenbehauptung.

    Gault-Millau hat auf diese Klippe eher aufzupassen, und kommt dem durch entsprechende Diktion nach. Dann schrieb man halt nicht mehr, dass die Patisserie dem Gast für 60 Euro billige Dosenfrüchte zu servieren wagt, sondern verwunderte sich, wie man den Konservendosengeschmack der Mandarinen so täuschend echt hinbekommt…

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