Es ist unumstritten, dass wir in Deutschland mit unseren Regionalküchen noch nicht so gut zurechtkommen wie etwa die Franzosen, Italiener oder Spanier mit ihren regionalen Spezifitäten. Das gilt sowohl für die traditionellen Formen, die bei uns oft schon verwässert sind, wie für die Optimierungen oder kreativen Weiterführungen in der Spitzenküche. Über die Gründe habe ich – auch hier – schon häufig geschrieben. Dass es Zeit wird, neue Wege zu finden und zu gehen, ist ebenfalls längst unumstritten – außer vielleicht bei einigen Hardcore-Brauereiküchen-Fans, die ohne jede Spur von Reflektion immer nur das Gleiche wollen.
Die Frage ist nur, wie man das Ganze angeht und – wer denn überhaupt Bemühungen in dieser Richtung ermöglicht. Die deutschen Verlage haben längst weitgehend alles ausgeklammert, was nicht in der Nähe von Sendungen mit volkstümlicher Musik verkauft werden kann und schaffen höchstens irgendein Geschwurbel um „Heimatküche“ oder die angeblich „echte“ deutsche Küche, das dann gerne mit bekannten TV-Köchen verkauft wird. Dieser Unsinn wird uns nicht weiterbringen, er bestätigt nur das dumpfe Verhältnis zum Essen und zur kulinarischen Kultur, das sich leider immer noch im Übermaß bei uns findet. Auch die kleinen Bio-Pflänzchen, die sich für das Thema interessieren, sind leider nur begrenzt hilfreich, weil sie sich oft gegen eine wirklich gute Küche wehren, sie in völliger Unkenntnis der Lage für „Schickimicki“ halten und – sagen wir es einmal etwas zugespitzt – schon zufrieden sind, wenn sie schlechte Produkte bekommen, die aber „bio“ sind.
Thomas Ruhl geht in seinem neuen Buch über die bayerische Küche einen anderen Weg. Er nimmt sozusagen das Beste aus allen Welten und fügt es zu einem Gesamtbild zusammen – wenn man so will zu einem Netzwerk aus allen Beteiligten, ohne das nichts funktionieren kann und wird. Und weil nur ein Netzwerk funktioniert, ist er mit diesem Buch auch in Bayern gelandet – genauer in Kulmbach und Umgebung, also in Oberfranken, weit entfernt von München. Dort nämlich befinden sich eine Reihe von Einrichtungen und Personen, die dieses Projekt so oder so fördern konnten und gefördert haben. Es gibt das „Kompetenzzentrum Ernährung“ (KErn), auch „Cluster Ernährung“ genannt (www.cluster-bayern-ernaehrung.de) und Dr. Simon Reitmeier, der sich exakt für dieses Thema einsetzt. In Kulmbach hat man zum Beispiel ein Gewürzmuseum (getragen von der Adalbert-Raps-Stiftung), eine große kulinarische Bibliothek, einen Vortragssaal mit voll eingerichteter Demonstrationsküche und Video-Facilities, eine Lehrküche für Kurse, und etwas außerhalb von Kulmbach einen alten, restaurierten Bauernhof, der den „Raum Null“ beherbergt, ein Treffpunkt für kreative Zusammenkünfte mit eigener Küche und diversen Räumlichkeiten, in denen auch Treffen in Vorbereitung diese Buches stattgefunden haben. Da kommen dann Erzeuger, Köche, Wissenschaftler und Publizisten zusammen und machen endlich einmal Nägel mit Köpfen. In Zukunft soll das noch weiter ausgebaut werden, wobei man immer hoffen muss, dass die alten gastronomisch-politischen Strukturen in Bayern auch mitspielen… sozusagen.
Das Buch
Es fällt sofort auf, dass hier ein Thema erarbeitet und präsentiert wird und nicht etwa ausschließlich eine Abfolge von „Rezept links, Abbildung rechts“ zu finden ist. Den Vorworten der Förderer des Projektes folgt eine „Einführung in die bayerische Küche“ von Thomas Ruhl und die wissenschaftliche Grundlage der „weißblauen Flavourklaviatur“ von Thomas Vilgis. Dann geht es um „Die neue bayerische Küche“ (Ruhl) und es folgen die Hauptkapitel des Buches, die jeweils ein Thema und die dazu gehörenden Personen koppeln. „Symbiosen“ heißt es bei Alexander Huber, einem der wichtigsten deutschen Regionalküche-Spezialisten, „Scouts und Gärtner“ bei Tobias Bätz, dem Küchenchef von Alexander Herrmann in seinem Zwei-Sterne-Restaurant in Wirsberg und „Sehnsucht nach Authentizität“ bei Alexander Herrmann und Michael Seitz vom „Fränk’ness“ in Nürnberg. Dann geht es um Köchinnen am Beispiel von Carola Deichl, Diana Burkel und Maike Menzel, „Die Evolution der Dorfwirtschaft“ am Beispiel von Josef Hartl vom „Unterwirt“ (unweit des Ammersees), um Andreas Hillejan in Mittenwald und Stefan Fuß vom „Goldenen Stern“ in Rohrbach in der Nähe von Augsburg, wo ich übrigens in einem mir bis dahin nicht bekannten Ausmaß erlebt habe, wie in einem voll gefüllten Restaurant Leute nebeneinander sitzend teils eher bürgerliche Regionalküche, teils eine sehr bemerkenswerte regionale Spitzenküche gegessen haben (halt, das gab es schon mal bei Familie Bauer vom „Adler“ in Rosenberg…). Den Abschluss bei den Köchen bilden zwei Große der Zunft, Zwe-Sterne-Koch Felix Schneider vom „Sosein“ in Heroldsberg und Ludwig Maurer vom „Stoi“. Wie gesagt: Alle Kapitel sind immer auch an regionale Produkte und Erzeuger gekoppelt, die teilweise auch detailliert vorgestellt werden.
Die „junge“ bayerische Küche muss natürlich an Rezepten festgemacht werden. Es gibt zum Beispiel: „Gedämpfter Huchen mit Frühlingserbse, Giersch, Zwieberl und Heumilch“ oder „Gebratene Milzwurst mit Erdäpfel-Spargel-Gröstl“ (beides Alexander Huber), „Gebratene Lammkeule, Rahmkohlrabi, fermentierter Jus, gerösteter Lammbauch, Salzzitrone, Gewürzgetreide“ (Tobias Bätz), „Sauerbraten-Burger, Blaukrautsalat, Rotweinmayonnaise, Preiselbeeren, Fränk‘ness-Crumble im Kartoffelbun“ von Michael Seitz, „Hirschkeule mit Kakaokruste, Petersilienwurzel und Petersiliensalat“ (Diana Burkel), „Zwiebelrostbraten: Filet vom Riegseer Weideochs, Lauch, gebackener Breznknödel, Perzwiebel und Püree“ von Andreas Hillejan, „Maibock mit Frühlingswiese, Holunderbeerkrapfen, Palfy und Eberesche“ (Stefan Fuß), „Pikiertes Gemüse“ und „Forelle blau“ von Felix Schneider und „Tataki vom Wagyu mit Senfkaviar, Kutteln, Bratkartoffelfolie und Blaukrautstaub“ von Ludwig Maurer. – Das Bild, das entsteht, ist nicht so sehr eines von Optimierungen traditioneller Formen, sondern das von Inspirationen aus der Region, die unter Einfluss der Traditionen in eine moderne Version regionaler Küche überführt werden. Zweitens, ein Bild, das endlich bei uns weitere Kreise zieht, nämlich das von einem Netzwerk von Produzenten und Köchen, die sich gegenseitig befruchten – wie das immer am besten war und auch in Zukunft am besten sein wird.
Fazit
Das Buch bringt endlich einmal Vertreter einer Szene zusammen, die längst existiert, aber in ihrer Bedeutung noch nicht so gesehen wird, wie es nötig wäre. Ein solches Buch erzeugt Zusammengehörigkeit und es erzeugt eine Art von Druck, es erzeugt nicht nur Aufmerksamkeit, sondern kann auch für Gleichgesinnte das Gefühl verschaffen, an der Entwicklung einer Bewegung teilzuhaben, die sich definitiv noch ein beträchtliches Stück weiter entwickeln und verbreiten wird. Die Rezepte zeigen in vielfältigen Schattierungen, was möglich ist, und dass es an vielen Stellen kulinarisch weitergehen kann. Das Alles ist hier sehr gelungen präsentiert und vor allem auch kurzweilig zu lesen. Man sollte dieses Buch komplett lesen und – wenn sie selber kochen und Rezepte entwerfen – den Notizblock bei diesem anregenden Buch nie vergessen.
Wir sind also in Bayern, und Bayern wird auch mit diesem Buch ein wenig ein Vorreiter für eine Entwicklung, die in jeder kulinarisch abgrenzbaren Region Deutschlands ihre Wurzeln hat, aber dringend ausgeweitet werden sollte. Man wünscht sich dieses Buch in exakt der gleichen Struktur dringend für andere Regionen. Es lohnt sich und wird sich auszahlen. Man wünscht sich also Regierungsstellen und Förderer, die so etwas auf den Weg bringen wollen und können.
Anmerkung zur Bewertung:
In diesem exzellenten Buch findet sich auch ein Text von mir, in dem ich über den Stand der bayerischen Küche im Jahr 2050 nachdenke. Ansonsten habe ich mit der Herstellung des Buches nichts zu tun gehabt. Ich setze trotzdem meine Bewertung in Klammern: (Das Buch bekommt 3 grüne BBB)
Fotos © Thomas Ruhl / Edition Port Culinaire
Wenn der Verfasser sich nach Kulmbach begeben hat, so sitzt er im tiefsten Franken, welches mit dem in den meisten Köpfen verankertem Bayernbild nur dann was zu tun hat, wenn auf lokalen Festen Fantasietrachten mit alpenländischen Einschlag getragen werden. Die fränkische Kultur und auch Küche unterscheidet sich aber nun mal krass von der baierischen. Sicher, gerade in der Küche kann man ja mischen, wie man will, sollte dies dann jedoch nicht als „bayerische Küche“ verkaufen.
Und nur am Rande… der „Weißwurstäquator“ ist nicht, wie im Buch erwähnt, der Main, sondern die Donau.
Regionalität geht anders…
Erscheint dieses Buch auch als E-Book?
Das wäre hilfreich!
Schade, dass man nirgends im Internet eine Leseprobe zu diesem Buch findet; gerade jetzt wo die Buchläden geschlossen haben. Ich würde ungern ein Buch kaufen, dass ich nicht mal grob durchblättern konnte. Zumindest ein Inhaltsverzeichnis wäre wünschenswert.
Beim Verlag gibt es ein Youtube-Video. Was man dort sieht ist, soweit erkennbar, Fleisch. Die bayerische Küche war aber jahrhundertelang vor allem eine fleischlose Küche. Ich weiß nicht, ob in diesem Buch auch diese Gerichte erneuert wurden, aber auf den Bildern sieht man auf jedem Teller Fleisch (oder Fisch). Außer natürlich bei der Torte.
Hier ein interessantes Buch, allerdings nicht „jung“ oder „modernisiert“:
https://www.bayerns-beste-buecher.de/de/kategorie-2/kochbuecher/broeislboard-buchtala-boeihmische-kniadla
Wobei „alt“ oder „traditionell“ auch relativ ist. Bis zur Eroberung Amerikas gab es in Bayern natürlich keine Kartoffelknödel.