Ich war nicht immer so ein ruhiger und gelassener Typ – wussten Sie das? Natürlich nicht, woher auch, ich hatte es ja selbst schon beinahe vergessen. Neulich, da habe ich mich in meinen Keller gewagt, weil ich etwas holen musste. Ich erinnere mich nicht genau was es war, im Grunde spielt es auch keine Rolle, jedoch haben Expeditionen in meinen Keller immer eine ganz eigene Dynamik. Manch einer würde behaupten, dass es eine Müllhalde unermesslichen Ausmaßes ist. Ich habe aufgehört das Gegenteil zu behaupten, denn es ist einfach ein zermürbendes Thema. Im Grunde ist es keine Müllhalde im klassischen Sinne, sondern ein Gebilde aus vielen kleinen Schätzen. Das mag obskur klingen jedoch bin ich immer noch der Meinung, dass der Müllberg des Einen, die Schatzkammer des Anderen ist. Es ist eine Kollektion von Erinnerungsstücken in Tetrismanier bis unter die Decke des alten Heizungskellers gestapelt. Ein Kunstwerk könnte man sagen. Doch das soll nicht das Thema meiner heutigen Kolumne sein. Eine Kiste, die sich von ihrem ursprünglichen Platz gelöst hatte, war mir beinahe auf den Kopf gefallen, als ich das, was ich holen wollte, bereits in den Händen hielt. Allerlei Fotos und Kleinteile fielen aus besagter Kiste und verteilten sich auf dem alten Estrichboden. Der Karton, der zu Boden gesegelt war, trug die Aufschrift „Storehead“. Ich musste schmunzeln, als ich den leeren Karton in den Händen hielt und sah, um welche Erinnerungskiste es sich handelte. „Storehead“ war der Name meiner Band, als ich ein Teenager war. Der Name war von einem meiner englischen Lieblingsgärten entlehnt, den ich nebenbei bemerkt nach wie vor für eines der schönsten Fleckchen dieser Erde halte – Stourhead Garden & House in der englischen Grafschaft Wiltshire. Abgesehen davon, dass uns die britische Musik der 1990er Jahre, Bands wie Blur, Elastica, Pulp und Oasis, beeinflusst haben, hatten wir nicht viel mit der schönen Insel zu tun, schon gar nicht mit den Gepflogenheiten der Ladies und Gentlemen in den dortigen Tearooms.
Es muss jetzt fast zwölf Jahren her sein, als wir uns das erste Mal in einem modrigen Keller unserer ehemaligen Grundschule trafen. Die Kellerräume wurden dort für schmales Geld vermietet und die alte Grundschule war für uns alle in fußläufiger Nähe. Es lag ein Geruch von Schimmel in der Luft und es wurde allerhand Krempel in diesem Räumen zwischengelagert. In den ersten Sessions, die wir dort abgehalten haben, ging es im Grunde nur darum, wer von uns vieren den erbärmlichsten Lärm erzeugen konnte. Ich hatte meine alte Gitarre umgehängt und schrammelte drauf los. Unser Schlagzeuger ließ an den Becken und Toms ebenfalls nichts anbrennen. Ich erinnere mich gut daran, dass unser Bassist einen Baustellengehörschutz trug, während neben ihm unsere Sängerin durch ein Megaphon sang. Es war einfach ein herrliches Gefühl, als die alten, nach Schimmel riechenden Gemäuer der Grundschule erzitterten. Einige Jahre später hatte sich aus derselben Besetzung eine ganz passable Band entwickelt, die man sich durchaus anhören konnte. Wir hatten eine Stilrichtung gefunden, Indie-Rock, so wie er in vielen Teilen der Welt zu dieser Zeit populär war. Bei unseren Konzerten ging es auch nicht mehr um die schiere Lautstärke, sondern um das Zusammenspiel an sich, obgleich wir unsere „Party-over-Perfection“-Attitüde nie verloren hatten. Es dauerte meist nur drei oder vier Songs, bis sich unser Bassist seines T-Shirts entledigte. Spätestens nach dem fünften Song spielte ich hinter dem Kopf – oder versuchte es zumindest. Unsere Sängerin griff auch dann und wann zum Megaphon und erzeugte durch das Mikro ein jämmerliches Feedback. Es hatte aber nichts mehr mit dem Krach von früher zu tun, sondern war inszeniert, eine bewusst dosierte Portion Wahnsinn, mit Hilfe dessen wir unseren Gefühlen Ausdruck verliehen. Und davon gab es viele und in mannigfaltigen Ausführungen: wer ist schon gerne Teenager?
Es gibt eine Situation, an die ich mich besonders lebhaft erinnere. Wir gingen nach einem Auftritt von der Bühne, um uns in den Katakomben der Kaschemme, in der wir gespielt hatten, noch etwas zu vergnügen. Ich trank zu dieser Zeit allerhand obskure Mischgetränke, die auf Pastis basierten, dabei war es ganz gleich, mit was dieser gemixt wurde. Pastis mit Eiswasser war da wohl das Normalste. Manchmal war es Pastis mit Cola, Himmel, ich hätte es wahrscheinlich mit Capri-Sonne gemischt, wenn es nichts Anderes gegeben hätte. In der Not trinkt der Teufel Weihwasser. Und dass – wenn man jung ist – die Not so groß wie der Durst ist, brauche ich hier nicht zu erwähnen. Der Gitarrist einer anderen Band war ebenfalls im Backstage und friemelte an seiner Gitarrentasche herum, während eine Zigarette zwischen seinen Lippen klemmte. Er hatte eine Flasche Wein in der Hand, doch noch bevor ich dies im Schatten der Bühne erkennen konnte, machte es ein ploppendes Geräusch. Er hielt die Flasche am Hals in der linken und den Korkenzieher mit dem erfolgreich entfernten Korken in seiner rechten Hand, während er angestrengt die Zigarette im Mund hielt. Dass diese nicht maßgeblich aus Tabak bestand, möchte ich hier nur als Randnotiz erwähnen und auch wenn es keine eigentliche Rolle spielt, trägt es doch viel zur Atmosphäre dieses Abends bei.
„Willste ’nen Schluck?“, fragte er mich und hielt mir die Flasche hin. „Ist ein Pinot Noir. Was ganz Feines. Schmeckt ganz lecker mit ’nem Schuss Sprite“, erklärte er mir und ich glaubte ihm. Trotzdem lehnte ich ab. Ich ließ ihn nach einem kurzen Plausch hinter mir, während ich meinen Weg tiefer in den Backstagebereich bahnte. Irgendwo war auch unser Hab und Gut, unsere Instrumentenkoffer und Kabelkisten. Ich legte meinen dunkelroten Fender Telecaster, den ich mir nach jahrelangem Sparen, nach unzähligen Stunden als Küchenhilfe, nach der Schule und am Wochenende gekauft hatte, in den dazugehörigen Koffer. Ich hatte das Gefühl, dass dieses unglaubliche Instrument in der Dunkelheit des Backstages leuchtete.
Nein, ich träumte nicht davon noch eine tolle Gitarre zu besitzen, ebenso wenig wie wir davon träumten berühmt zu werden und eines Tages Rockstars zu sein. Zumindest behaupteten wir immer, dass wir nicht davon träumten und konnten es uns selbst ganz passabel einreden.
Eine Zeitlang traten wir jedes Wochenende auf, mal in schmierigen Kneipen, mal auf Benefizveranstaltungen. Wir ließen T-Shirts drucken, Buttons machen und hatten eine Myspace-Seite, so wie es sich für eine vernünftige Band gehörte. Es hatte uns jahrelang Spaß gemacht – mehr noch, es hatte uns regelrecht erfüllt. Doch irgendwann trafen wir uns nur noch zweimal im Monat zur Probe, statt zweimal in der Woche. Aus dem Küchenjungen wurde ein Koch-Auszubildender, die Sängerin eine Versicherungskauffrau und die beiden anderen studierten. Die Buttons waren alle verschenkt und neue wurden nicht mehr bestellt. Die T-Shirts wurden in den Keller geräumt, so wie der Marshall-Verstärker und der dunkelrote Fender Telecaster.
Als ich an diesem Tag, mehr als ein Jahrzehnt, nachdem alles begonnen hatte, im Keller hockte, die Fotos sah und einen der letzten Buttons in der Hand hielt, überkam mich ein nostalgisches Gefühl. Vielleicht ist es ja nur Rock’n’Roll, aber für uns war es damals die Welt. Wir würden immer Musik machen, immer in einer Band spielen und niemals (niemals!) damit aufhören. Ich musste schmunzeln, als ich daran dachte, dass wir uns gänzlich der Musik verschreiben wollten. Ich erinnerte mich daran, wie bereits nach wenigen Akkorden alles, sowohl im Saal, als auch auf der Bühne, völlig aus dem Ruder zu laufen schien – und es fühlte sich perfekt an.
Ich packte die Fotos und Erinnerungsstücke wieder in den Karton und stellte ihn an den Ort, von dem er hinuntergefallen war. Doch bevor ich das Licht ausschaltete, um zu gehen, lächelte mich ein Gitarrenkoffer an, neben dem ein kleiner Ersatzverstärker stand. Ich packte beides kurzerhand und schleppte es mit in die Wohnung. Nachdem ich den verstaubten Telecaster gestimmt und in den Verstärker gesteckt hatte, hielt ich inne. Mit einem Plektrum in der rechten Hand und einem G-Akkord gegriffen, war doch dieser Moment, kurz bevor es losging, kurz bevor ich wieder die Wände zum Erzittern bringen würde, der aufregendste. Und plötzlich fühlte ich mich wieder wie damals.
Für unseren Cocktail dieser Woche, nehmen wir 4cl des Plantation Barbados Rums, geben ihn mit 1,5cl des Italicus Bergamotte Likörs, 1,5cl Cherry Brandy, einem Barlöffel Monin Kirschsirup, sowie 2 Dashes Pastis und einem Dash Angostura Bitters in ein Rührglas auf Eis. Mit einem Barlöffel wird das ganze circa 30 Sekunden kalt gerührt und anschließend mit einem Strainer einen Tumbler mit Eiswürfeln abgeseiht. Über dem Glas wird eine Zitronenzeste ausgedrückt, um den Drink mit den ätherischen Ölen zu benetzen. Ein ordentliches, würziges Brett haben wir da. Nichts für jedermann – genauso wie unsere Musik damals.
„Rock’n’Roll can never die“, heißt es in einem Neil Young Song. Und es stimmt. Roll’n’Roll wird niemals sterben. Er schläft nur manchmal eine Zeitlang.
In diesem Sinne,
der heilige Helge
Zutaten bei BOS FOOD zu bestellen: 4 cl Plantation Rum Barbados, 5 Jahre (Art. Nr. 32207) • 1,5 cl Italicus Rosolio di Bergamotto (Art. Nr. 48454) • 1,5 cl Bols Cherry-Brandy (Art. Nr. 29966) • 1 BL Monin Kirschsirup (Art. Nr. 13119) • 2 Dashes Pastis 51 • 1 Dash Angostura Bitters (Art. Nr. 10087)