Es geht in diesem Text eher um eine Diskussion als um Kritik. Der kulinarische Berlin-Führer des „Tagesspiegel“ ist sehr gut, weil er in schöner Offenheit die ganze Breite des Angebotes der Stadt abbildet. Es gibt andere Stadtführer, die so penetrant „flott“ sein wollen, dass sie die Maßstäbe verlieren, oder die so deutlich eine bestimmte kulinarische Politik betreiben, dass die Bewertungen ihrer Führer schon an Desinformation grenzen. Beim Tagesspiegel ist man in guten Händen, was auch daran liegt, dass sich Chefkritiker Bernd Matthies fast immer – auch wenn es ihm manchmal erkennbar gegen den Strich geht – bemüht, den Leistungen der Küchen gerecht zu werden.
Im aktuellen Guide gibt es eine Kolumne von ihm mit dem Titel „Wenn ich noch einen Wunsch frei hätte…“. Darin geht es vor allem um die Restaurantkritik, um eine Art Rückschau und Ausblick nach 31 Jahren, in denen es diese Abteilung beim „Tagesspiegel“ nun schon gibt. Einige der dort genannten Punkte möchte ich nicht unkommentiert lassen:
Es geht um die „aus Skandinavien eingewanderte neue Regionalküche, die aber gerade im kulinarisch armen Berlin und in den Händen weniger herausragender Köche schnell nerven kann, mit Wurzeln und Steckrüben in allen Varianten bis ins hohe Frühjahr, und mit seltsamen Konserven und Fermentierungsspielchen konträr zur Saison.“ Es geht weiter: „Für die Restaurantkritik ist das ein Problem, weil kein Esser, auch kein professioneller, all das, was ihm technisch oder konzeptionell imponiert, auch gleichermaßen gerne isst.“
Dieses Rekurrieren auf eine Art gesunden kulinarischen Menschenverstand mag – auch unter Kollegen – populär bis populistisch sein, ist aber nur eine Vermutung. Ich esse längst neuartige, moderne Dinge lieber und angeregter, als viele, sich immer wiederholende Zubereitungen. Die Kategorie „gerne“ ist zudem eine, die ein Kritiker nicht unbedingt benutzen sollte, besser: die für ihn von ganz alleine keine besondere Bedeutung haben sollte. Ein Kritiker hat sich – schon aus Respekt vor der Leistung der Köche – mit dem zu befassen, was er antrifft. Man erwartet von ihm eine gute, präzise Einschätzung. Wenn er mehr oder weniger „gerne“ isst, kann er da schnell aus der Spur geraten. Und weiter: „Daraus folgen Texte, die manchmal den Eindruck machen, sie beschrieben eine Obduktion und keine genussvolle Mahlzeit.“
Eine präzise Beschreibreibung, ein Ausloten der geschmacklichen Tiefen, eine Beschreibung von Wirkungen bis hin in die Grenzbereiche der Wahrnehmung ist kein Obduktionsbericht, sondern ein Zeichen der intensiven Annäherung und Beschäftigung. Die Vertreter der „genussvollen Mahlzeit“ beschränken sich landauf landab leider nur darauf zu sagen, etwas sei gut oder schlecht – ganz so wie Lehrer Zensuren geben. Dabei gibt es oft selbst bei namhaften überregionalen Zeitungen kuriose Texte, die man mit „kulinarischem Gelabere“ schon fast zu dezent beschreiben würde. Matthies benutzt hier leider einen Genuss-Begriff wie er im Lager der bürgerlichen Küche und der Stammtische weit verbreitet ist. Ich nenne seit längerer Zeit den schnellen, sehr weit verbreiteten Abgleich von persönlichen, aus der oft engen kulinarischen Sozialisation stammenden Vorlieben, mit dem, was es zu essen gibt, genussreduziertes Essen. Der genussreduzierte Esser will nicht mehr Informationen haben, als die, die er sucht. Das sei ihm unbenommen, eignet sich aber in keiner Weise zur Generalisierung irgendeiner Art. Leider finden wir den genussreduzierten Esser auch sehr häufig in jenen Redaktionen, die sich einer intensiveren Beschäftigung mit der kulinarischen Kultur entziehen. Es wird dabei übrigens oft übersehen, dass man – zumindest in der avancierteren Küche – viel häufiger die Esser kritisieren könnte (und müsste) als die Köche.
„Aber es hilft nichts: Kein Restaurantkritiker kann es sich heute noch leisten, gekonnte avantgardistische Küche zu verreißen, weil sie seinen Geschmack nicht trifft. Aber er sollte nach wie vor deutlich machen, was ihm subjektiv besser oder schlechter gefällt.“ – Schön wär’s…, ist man geneigt zu sagen. Die Abteilung „Gourmet Watch“ hat jedenfalls genug zu tun, um allein schon die diversen Mobbing-Versuche abzuwehren. Ich bin da also nicht ganz so sicher, ob Matthies hier die Lage nicht zu positiv sieht. In Berlin war lange Jahre Michael Hoffmann vom „Margaux“ ein Mobbing-Opfer konservativer Kreise, die sich zum Beispiel über sein frühes, sensorisch geniales „Badoit-Gelee“ und viele sehr frühe Kräuter- und Pflanzenkompositionen den Mund zerrissen haben und wohl mehr oder weniger indirekt dafür gesorgt haben, dass Hoffmann nie die Bewertung erhalten hat, die ihm – zum Beispiel nach Meinung vieler Drei-Sterne-Kollegen – zugestanden hätte. – Aus jüngster Zeit sollte man den Fall von Andreas Rieger vom „Einsunternull“ zitieren. Rieger ist und bleibt ein genialer Kreativer und Experimentator, der ganz erhebliche Leistungen erbracht hat und sich dabei – was sehr selten ist – sogar teilweise von internationalen Einflüssen befreit hat. Das Scheitern des Restaurants mit ihm als Chefkoch geht ganz klar auf eine große Allianz von professionellen Missverstehern zurück. – Die eigene Position in Kritiken sichtbar zu machen, ist natürlich aller Ehren wert – wenn sie denn tatsächlich exakt das will und nicht durch die Hintertür nur wieder den alten Leckerschmecker-Abgleich vollzieht. Ich persönlich würde hier das bevorzugen, was ich auch bei www.eat-drink-think.de schon als Programm geschrieben habe, nämlich die Diskussion verschiedener möglicher Positionen. Macht man dies gut, kann jeder sein Gesicht wahren.
„Und er kann bestimmte Kriterien hochhalten, die über alle Wellen hinweg gültig bleiben: die Qualität der Grundprodukte, die nicht übertüncht oder durch Zerfitzelung unschmeckbar gemacht, aber auch nicht durch prähistorische Zubereitung in gigantischen Portionen entstellt werden darf.“ In meiner Geschmacksschule von 2005 habe ich in der „Stufentheorie der Kochkunst“ dazu bereits alles ausführlich dargelegt und im Verlauf auch darauf hingewiesen, wie wichtig es für die Qualität einer Kritik ist, auf übergeordnete Kriterien zurückzugreifen, die universell gültig sind.
Darum geht es mir hier aber nicht, sondern darum, dass man dann doch – bitteschön – diese Kriterien auf alle Küchen anwendet und nicht nur auf die neuen, kreativen aus dem Nova-Regio-Lager. So ist es zum Beispiel bei einer ganzen Reihe von Zwei- und Drei-Sterne-Köchen kaum noch möglich, ein Produkt wirklich zu degustieren, weil es nur noch in kleinsten Mengen auf dem Teller ist, offensichtlich dekorativen Regeln unterworfen wird und im übrigen mit einer falsch verstandenen Sensorik in ein Getümmel von viel zu intensiven Texturen und Temperaturen geworfen wird.
Aber – wie gesagt – in der Praxis ist der Berlin-Guide ein guter Führer. Apropos „Wunsch frei“: Bernd Matthies hätte gerne eine Rückkehr der „Cuisine spontanée“, also letztlich einer stark improvisierten Küche. Ja, da bin ich dabei. Das hat was.