Diese Rezension wird einmal etwas andere Schwerpunkte haben, und das aus einem ganz speziellen Grund, der viel mit hoch erfolgreicher, kreativer Küche und ihren Folgen für die sie tragende Person zu tun hat.
Über Sergio Herman braucht man wohl kaum noch etwas zu sagen, außer dass er trotz Höchstnoten in allen Führern (inklusive 20 Gault Millau – Punkten) am 22.12.2013 sein Restaurant „Oud Sluis“ geschlossen hat und nur ein Jahr später mit Nick Bril das „The Jane“ in Antwerpen eröffnete, das sofort ebenfalls „von 0 auf 100“ ging und zu den erfolgreichsten Gourmetrestaurants Europas gehört. Mittlerweile ist dort Nick Bril zuständig, Herman arbeitet vor allem im „Pure C“ in Cadzand.
Warum hat er „Oud Sluis“ geschlossen? Die Antwort findet sich in allen Details in seinem Buch von 2014 mit dem Titel „Desire. Reflections of a Top Chef“. Die Arbeit im „Oud Sluis“ wurde ihm einfach zu viel. Ein Koch, der in erster Linie Geschäftsmann ist, würde sich vielleicht jeden Tag darüber freuen, dass sein Restaurant mittags und abends jahrelang ausverkauft ist, dass Leute aus aller Welt kommen, dass man ununterbrochen gelobt wird und am Ende des Tages bei 80 bis 100 Gästen allerlei Geld zusammenkommt. Ein kreativer Koch, der sein Leben lang an einem eigenen Stil und Profil gearbeitet hat, der seiner Brigade immer ein Vorbild an Einsatz war und vor allem Perfektion im Kopf hat, muss unter der täglichen Routine, die jede Faser seiner Kraft beansprucht, irgendwann einmal leiden. Da ist dann Erfolg – so merkwürdig es klingt – schnell auch eine Last, weil man merkt, dass außer dem Erfüllen der Rolle nichts mehr bleibt. Und Sergio war nie der Typ, der wie ein Gockel durch die Reihen der Gäste stolzierte. Er hat gemacht, was er meinte machen zu müssen.
Irgendwo in „Sobremesa“ steht ein kleiner Text, den ich hier komplett zitieren möchte. Er hat die Überschrift: „Zurück zur Perfektion“:
„Kurz bevor ich Ibiza wieder verlassen muss, komme ich in eine beinahe depressive Stimmung. Dann denke ich immer öfter: Fuck, ich muss wieder zurück, ich muss von diesem Gefühl Abschied nehmen, von dieser Freiheit. Ich muss wieder Gas geben, Deadlines einhalten, perfekte Gerichte abliefern, ein ausgeweitetes Leben führen, jeden Tag das Beste aus mir herausholen, jeden Tag einen endlosen Strom von Menschen begrüßen, wieder zurück in dieses fokussierte System. Kurzum: zurück zur Perfektion. Von diesen Gedanken bekomme ich einen enormen Kloß im Hals. Das Einzige, was mich auf den Beinen hält, ist die Tatsache, dass ich wieder zurück nach Ibiza kann. Dass es hier immer dieses freie Gefühl und die Träume gibt. Dass Ibiza immer Ibiza sein wird.“
Und dann ist da noch der Titel des Buches. „Sobremesa“ ist ein Wort, für das es im deutschen (wen wundert’s…) keine direkte Übersetzung gibt. Der Begriff bezeichnet den Zeitraum, den man mit Freuden nach dem Essen noch am Tisch verbringt, redend, trinkend, gesellig im besten Sinne. Es ist das, was Sergio Herman auf Ibiza am liebsten tut, das Essen ist vorbereitet und vorbei, dann wird es „gemütlich“. Ich kenne das sehr gut. Zu Hause machen wir das fast an jedem Abend, und wenn ich für Gäste koche, sage ich nach dem Hauptgang immer, dass ich jetzt Feierabend habe. Für Sergio Herman ist dies genau das, was er im Restaurant nicht machen kann. Wir hatten immer ein gutes Verhältnis, ich war schon früh im „Oud Sluis“ und auch recht häufig. Am besten hat ihm wohl gefallen, dass ich nicht – wie das diverse Kollegen tun – nach dem Essen noch lange geredet habe. Meine Eindrücke reichten mir, da brauchte ich ihm nicht seine Zeit zu stehlen…
Man sieht es den Bildern im Buch an, was Sergio umtreibt. Die Bilder sind atmosphärisch, aber haben oft einen etwas ernsten Touch, sie zeigen einen Kochkünstler, der immer ein wenig so wirkt, als ob er gerade heftig nachdenkt, gerne unrasiert und fern der Heimat – sozusagen… Und ich muss noch einmal zitieren, dieses Mal die ersten Sätze des Buches:
„Die Rezepte in diesem Buch habe ich an einem einzigen Tag überlegt. Wenn ich auf Ibiza lande, passiert da etwas in meinem Kopf: die Tür zu den Ideen öffnet sich wie ein Scheunentor, und ein Gericht nach dem anderen erscheint. Das liegt nicht allein daran, dass es hier so viele phantastische Produkte gibt, sondern vor allem daran, dass ich hier freier denke. Wenn ich hier bin, sind meine Sinne hellwach, ich fühle mich besser und relaxter.“
Und so geht es an ein munteres Spektrum von Gerichten, die alle ihre Besonderheiten haben und ganz klar erkennen lassen, wie hier ein großer Kreativer der Kochkunst mit seinem riesigen Fundus an Ideen und Möglichkeiten spielt. Hier ein Beispiel, was er macht, wenn es um einen „Salat von gegrilltem Grünspargel“ geht. Die Elemente sind u.a.:
Milder Schafskäse, Chili-Flocken, Knoblauch, Fleur de Sel, schwarzer Pfeffer, Anchovismayonnaise, Estragon, brauner und grüner Senfsalat, Blutampfer, alter Manchego. Insofern sagen die Rezepttitel nicht besonders viel über die aromatische und sensorische Vielfalt, mit der Herman üblicherweise arbeitet. Das gilt für quasi alle Rezepte, die alle über eine ganze Liste von Zutaten verfügen und eher dokumentieren, was er gemacht hat, als dass sie für ein Publikum von Hobbyköchen simple Lösungen demonstrieren. Es gibt also z.B. „Piperade von weißen Bohnen mit Oktopus“, einen Paella-Salat mit Hummer, Lammfleisch, Kürbis, Hummus“, „Croque Iberico“, Artischocke und Anchovis“, „Crudo“, „Mein Fideua“ usw. usf. Wie gesagt, das ist alles komplex, aber – die Profis unter den Lesern werden das ahnen – von der Art, die ein Profi nicht als komplex empfindet: man hat da so seine Routinen, die oft sehr schnell gehen, dann aber in der Rezeptniederschrift nach einer Menge von Aufwand aussehen.
Zum Abschluss noch ein Zitat, dieses Mal unter der Überschrift „Unperfekt“:
Ibiza ist alles, was mein Leben in Belgien und den Niederlanden nicht ist. Noch stärker: die Mentalität auf der Insel ist das komplette Gegenteil von der in meiner Küche. Bei mir muss alles immer perfekt sein, aber in Ibiza dominiert das Unperfekte. Diesen Kontrast brauche ich. Ich habe mein ganzes Leben lang nach dem höchst möglichen Niveau gestrebt und alles aufgeopfert, um dieses Ziel zu erreichen. Das Streben nach Perfektion war das Einzige, was ich wollte, vielleicht das Einzige, das ich konnte. Wie ich es alle die Jahre lang ausgehalten habe, 18 Stunden am Tag in der Küche zu arbeiten, weiß ich eigentlich selber nicht. Eines hat mich auf den Beinen gehalten: die Reisen ins Unperfekte.“
Weil es sich in jedem Falle um eine hochinteressante Dokumentation handelt, die gerade auch im engeren Sinne sehr differenziert und individuell ist, bekommt das Buch 2 grüne BB.
Fotos © Carrera Culinair / Kris Vlegels (abfotografiert von Jürgen Dollase)