Pierre Gagnaire hat für seinen Auftritt auf der CHEF-SACHE 2018 in Düsseldorf ein anderes Format als seine Kollegen gewählt. Normalerweise sind die Auftritte der Köche eher eine Demonstration ihrer Konzepte mit verschiedenen Beispielen, die aber quasi nur angerichtet und nicht wirklich auf der Bühne zubereitet werden. Gagnaire hat sich entschieden, ein einzelnes Gericht zu kochen, das dann aber komplett und weitgehend live. Das brachte vertiefende Erkenntnisse in seine Arbeitsweise. Wegen der beim realen Kochen eines ganzen Gerichtes wesentlich höheren Präsenz der Person ergaben sich nicht zuletzt eine wesentlich höhere Emotionalität und natürlich schöne Bilder von einem der ganz Großen der Kochwelt. Nach dem Tod von Paul Bocuse hatte Gagnaire einmal gesagt, dass eine wichtige Funktion des Altmeisters eine Art Schiedsrichter-Rolle gewesen sei, und dass diese Rolle jetzt fehle. Vielleicht wäre Gagnaire für diese Rolle geeignet – als entspannter Bewahrer traditioneller Werte der französischen Küche, wozu eben nicht nur Klassisches, sondern immer auch ein gutes Stück Kreativität gehört.
Das Set-Up
Gagnaire ist die Performance bei der CHEF-SACHE ähnlich angegangen wie bei einem Film über ihn innerhalb der berühmten DVD-Serie „L’Invention de la Cuisine“ von Paul Lacombe. Ausgangspunkt ist ein Grundkonzept mit einem Hauptprodukt und verschiedenen weiteren Produkten, die bereit liegen, aber deren Rolle noch nicht festgelegt ist. Die Arbeit beginnt mit dem Hauptprodukt und dessen Garung und endet in einer Improvisation mit dem, was an Material sonst noch da ist. Gagnaire hatte einen alten Vertrauten mitgebracht, mit dem er schon seit seiner Zeit in St. Etienne zusammenarbeitet und der seine Vorgehensweise bis ins letzte Detail kennt. Dieser Koch hatte die Elemente des Rezeptes vorbereitet, demonstrierte auf der Bühne aber auch noch einige Techniken, wie etwa das in Form binden („brider“) von Geflügel zur Garung. Als MOF („Meilleur Ouvrier de France“) beherrscht er solche Techniken natürlich perfekt.
Die Bilder aus dem Vorbereitungsraum zeigen zum Beispiel die beiden Moorhühner, die im Zentrum seiner Komposition stehen. Sie sind leicht geräuchert und haben auch roh schon einen sehr interessanten Duft. Sie sind nicht ausdrücklich lange gereift und schmecken im Endeffekt auch eher fein und mild (siehe unten). Das Vorhandensein einer speziellen Whisky-Sorte mit Moorhuhn auf dem Etikett deutet bereits darauf hin, dass Gagnaire mit der leicht rauchigen Note von Whisky arbeiten will. Weiter sichtbar sind u.a. verschiedene Gemüse, Kimchi, getrocknete Brennnessel-Blätter, getrocknete Artischockenblätter, Pilze, diverse Kohlblätter, Johannisbeergelee, eine Orange und eine Schokoladencloche.
Die Gesten
Im Verlauf der Präsentation ließ sich ganz genau verfolgen, wie französische Rezepte aus der Hand von Spitzenköchen in der Praxis zu verstehen sind. Wenn also zum Beispiel Gemüsestücke in ein wenig Butter gegart werden, bedeutet dies tatsächlich wenig Butter, aber auch wenig Hitze und ein längerer Zeitraum, in dem sich die Garung abspielt. Wenn das Moorhuhn in einer Casserole angebraten wird, versteht man sofort, warum dafür keine Pfanne genommen wird, weil sich nämlich die Fette und Säfte auf diese Weise auf engstem Raum rund um das Huhn entfalten können, das zudem auch noch auffällig häufig überglänzt wird. Dann fällt die Temperaturführung auf, die immer wieder daraus besteht, dass man den Produkten Zeit zum durchziehen lässt und sich um die Serviertemperatur erst einmal keine Sorgen macht. Gagnaire verwendet weder längere Zeiten bei niedriger Temperatur im Ofen noch im Vakuum/Wasserbad, sondern realisiert eine traditionelle Garung in der typischen Rhythmisierung. Die ausgelösten Brüste werden zum Servieren nachgebraten, der Rest komplett für die Sauce mit einem schweren Beil zerhackt.
Die Herstellung der Sauce war das zentrale Element bei dieser Präsentation und zog sich etwa über zwei Drittel der Zeit hin (also fast eine Stunde). Gagnaire benutzt eine Vielzahl von Elementen und Aromen, die ständig bewegt werden. Er löscht mit Whisky ab und flambiert, gibt Johannisbeergelee dazu und überraschend spät erst Gemüsewürfel. Passiert wird mit Druck, aber nicht so sehr, dass aus Elementen, die ihr Aroma noch nicht ganz abgegeben haben, die Säfte herausgepresst werden. Die passierte Sauce ist dickflüssig und hat schlicht und einfach ein enormes Aroma von Weltklasse-Qualität. Das Fleisch dagegen ist eher mild und fein, hat nur eine dezente Wildnote und wirkt überraschend wenig rustikal. Insgesamt ist bei allen Beilagen viel Butter im Spiel und fast alle in den Pfannen und Töpfen entstehenden Flüssigkeiten werden weiter verwendet – mal zur Garung/zum Erwärmen von Elementen, mal als Sauce zum Überglänzen auf dem Teller.
Eine spezielle Rolle hat die Schokoladencloche, und zwar sowohl aromatisch als auch als eine Art spektakulärer Effekt bei der Präsentation. Wenn das Moorhuhn fertig ist, kommt es ganz auf eine Art pflanzliches Nest und wird mit der Cloche bedeckt. In dieser Form wird es im Restaurant an den Tisch gebracht, wo dann die Schokoladencloche zerschlagen wird und eine kleine Probe von der Schokolade auf einem Teller am Tisch bleibt. Das Moorhuhn wird dann entnommen, zerlegt und kommt wieder in die Küche. Der Showeffekt ist natürlich gut, macht aber auch kulinarisch Sinn. Das heiße Moorhuhn sorgt für einen Wildgeflügel-Dampf nebst einem Hauch von Räuchernote, der die Schokolade mit einem Hauch von Parfümierung überzieht. Gagnaire gab mir extra ein Stück von dieser Schokolade zum Probieren. Die Aromatisierung lässt sich ganz exakt nachvollziehen.
Fertigstellung
Pierre Gagnaire war der erste unter den französischen Spitzenköchen, der systematisch mit Satellitentellern arbeitete, auf denen sich üblicherweise diverse Zubereitungen sammeln. Dabei geht es kaum jemals um besonders ausgetüftelte Miniaturen, sondern eher um das, was beim Prozess des Improvisierens mit den Produkten rund um das Hauptprodukt entsteht. Gagnaire weist darauf hin, dass er und seine Leute bei der Konzeption von Gerichten nicht viele Versuche machen und nicht lange an der besten Version tüfteln. Was bei den auf hohem handwerklichen Niveau mehr oder weniger spontanen Durchgängen entsteht, wird dokumentiert und zur Grundlage des Programms in seinen diversen Restaurants. Insofern behält die Küche ein spontanes Element – auch wenn die Ergebnisse der Spontaneität dann immer wieder reproduziert werden.
Gagnaire ist mit diesem Ansatz heute moderner denn je. War er früher lange Jahre eine Art Außenseiter, der mit seiner Kreativität immer ein gutes Stück von der Linie seiner Kollegen abwich, ist er heute ein Vorbild für jede echte Cuisine du marché, bei der die Gerichte strikt nach dem Markt-Angebot entstehen und bisweilen sogar täglich variiert werden. Das Konzept des improvisierenden Kochs, der selber bis zum Abend nicht weiß, was er eigentlich anbieten wird, hat in dieser Arbeit seinen Vorläufer. Es ist eine Küche mit Risiko, aber auch mit vielen Chancen, die sich daraus ergeben, dass Köche nicht an Rezepturen kleben, sondern Abweichungen riskieren. Damit so etwas gut wird, braucht man ein sehr gutes Handwerk, das der Arbeit eine sichere Struktur verleiht. Dann aber vor allem eine Art kulinarische Emotionalität, die aus der steten Auseinandersetzung mit den Aromen und Texturen immer wieder Neues schafft.
Es war einfach ein wunderbares Erlebnis und ich hatte aufgrund meiner Rolle als Bühnenchefin die große Ehre und Freude alles kosten zu dürfen! Es war auslßerordentlich gemacksintensiv und lecker! Gagnaires Küchenchef Michel hat mir zudem noch extrem sympathisch das Rezept meines Lieblingsgerichts verraten. Diese Chefsache endete fulminant und die Präsentation der beiden Köche wird noch lange in unseren Köpfen und Herzen bleiben (auch Vincent Moissoniers Übersetzung hat ihren Teil dazu beigetragen). Die Gerichte die sie zubereiten hinterlassen andauernde Geschmacksspuren! Das vermisse ich bei vielen andern Sterneköchen – leider!
Lieber Herr Dollase,
vielen Dank für diese detaillierte, intensive Nachbetrachtung.
Ich fand die Performance dieses großen Stars der Gourmetszene großartig.
Generationsbedingt liebe ich trotz aller aktuellen, pünktchenverzierenden Tellerkultur
die „klassische Küche“.
Danke an Sie für die feinsinnige, sensibel-kritische Moderation
undliebe Grüße!
ER