Paco Morales: Noor. The reinterpretation of Al-Andalus. The gastrocultural project of Paco Morales. Montagud Editores, Barcelona 2019. 320 S., geb., Hardcover , ca. 75 Euro (zweisprachig: spanisch – englisch)

Wenn man nach Lücken im Programm der deutschen Spitzengastronomie sucht, stößt man sehr schnell auf einen ganz bestimmten Typus von Küche, der in anderen Ländern oft recht gut vertreten ist, bei uns aber quasi völlig fehlt. Es geht um eine Küche, die konsequent unsere kulinarischen Traditionen aufgreift und sie so mit kreativen Vorstellungen verbindet, dass sie ihre Identität nicht verlieren. Dieser Stil, den es international in ganz unterschiedlichen Varianten von Massimo Bottura bis zu Quique Dacosta oder Esben Holmboe Bang gibt, ist bei uns bisher noch bei weitem nicht konsequent entwickelt worden. Auch viele unserer „radikal-regionalen“ Kreativen scheuen meist vor der – in einem solchen Format unabdingbaren – Nähe zu traditionellen Aromenbildern zurück. Vielleicht sind diese Bilder bei uns noch immer zu stark belastet und unterschätzt. In anderen Ländern hat die Avantgarde damit offensichtlich sehr viel weniger Probleme.

Noch etwas zur publizistischen Situation in Spanien. Der Verlag „Montagud Editores“ mit der angeschlossenen „Librería Gastrónomica“ ist ein Leuchtturm in der auch in Spanien nicht so übermäßig fruchtbaren kulinarischen Verlagsszene. Wer sich regelmäßig über Neuerscheinungen aus Spaniens nach wie vor hochaktiver Avantgarde informieren will, sollte regelmäßig die Website von Montagud Editores besuchen. Wenn die Sachen bei Amazon gelistet sind (da muss man manchmal etwas hin und her suchen), werden sie auch von der spanischen Filiale nach Deutschland geschickt. Das kann einige Tage dauern, klappt aber.

Das Buch
Durch eine enge Verknüpfung mit traditionellen andalusischen Keramik-Mustern zeigt das Buch schon auf den ersten Blick, worum es hier geht. Im Verlauf werden alle Kreationen von Paco Morales, dem Chef des 2016 in Cordoba gegründeten Restaurants „Noor“, auf Tellern mit diesen Mustern (oder dezent modernisierten Varianten) präsentiert. Das Buch hat darüber hinaus aber auch weitere Besonderheiten, die es in der Summe zu einem auch international höchst bemerkenswerten Buch machen. Für das Konzept ist erst einmal entscheidend, was der Untertitel bereits verrät: das „gastrokulturelle Projekt von Paco Morales“.
Nach einer Einleitung, die das Konzept des „Noor“ – Restaurants quasi aus der Vorgeschichte und der Geschichte von Cordoba herleitet (und gegen Ende auch die Laufbahn von Ex-Mugaritz Paco Morales beschreibt) geht es in die Erforschung und Darstellung der regionalen Küche, ihrer eigenen, vom Arabischen her mitbestimmten Sprache und ihren Spezialitäten. Dass Morales auf einem Bild wie ein Mönch beim Studium alter Schriften in einem traditionellen Ambiente abgebildet ist, passt zum Thema. Es geht dann auch zum Beispiel um die Darstellung der Trennung zwischen der Küche für die unteren gesellschaftlichen Klassen („rohes Getreide und Innereien für die unteren Klassen“) und dem Gegenteil („die besten Stücke, Zucker und Gewürze für die Oberklasse“). Die kulinarischen und gastronomischen Traditionen werden also präzise hergeleitet und führen unmerklich zu den ersten Rezepten, dem Wasser, das zur Begrüßung der Gäste gereicht wird – Kürbiswasser, Granatapfelwasser oder Wassermelonen-Wasser.

Der Rezeptteil ab Seite 44 wird dann ab und zu durch weitere Erläuterungen zu kulinarischen Traditionen ergänzt. Vor allem aber hat er noch eine weitere Besonderheit, die sich in Büchern der Spitzenküche selten findet. Viele Zubereitungen haben zusätzlich zum Rezept Step-by-Step-Bilder. Das ist gerade bei diesen oft ungewöhnlichen Rezepten mit ungewöhnlichen Produkten sehr informativ und ein echtes Plus. Es zeigt zudem, wie traditionell die Zubereitungen oft beginnen, und wie sie in eine avantgardistische Form transformiert werden – zum Beispiel beim andalusischen Garum, das Teil eines Rezeptes namens „Bottarga und andalusisches Garum“ wird. Insgesamt fällt zudem auf, wie sehr die Küche in Cordoba auch arabische Spuren trägt. Für uns bedeutet das heute, dass die Küche von Paco Morales auch wie die Avantgarde-Fassung einer süd- bis ost-mediterranen Küche wirkt (Marokko, Tunesien, Libanon, Israel, Türkei). Und das ist deshalb besonders interessant, weil diese Küche im Moment sehr populär ist. Bei Morales sieht man, wie beschränkt ihre Mittel oft sind und wie viel Perspektive Hummus und Co. haben könnten.

Es gibt zum Beispiel „Erbsen, Smen, Frischkäse und Pinienöl“, „Fasanen-Mirqas (Fleischbällchen) mit Rosen-Escabeche und Terebinth-Beeren“, „Mhamsa (eine Grieß-Art) mit Blumenkohl und Haut von Essigmutter“, „Gedämpften Seehecht mit seinem Rogen, frische Kurkuma-Brühe und gebrannter Blumenkohl“, „Graue Garnelen mit Anchovis-Sauce und Kaviar“ oder „Sautierte Pilze mit gesäuerter Taubenbrühe und Schnecken mit Minze“. Nicht alle Rezepte haben die gleiche Fremdartigkeit und Kreativität, aber insgesamt doch ein großer Teil, so dass sich von den Produkten und den Zubereitungen her bereits ein riesiger Fundus von Ideen ergibt, der auf mitteleuropäische Leser höchst interessant wirken dürfte.

Dazu kommt dann die Kochtechnk, die man bei diesem Buch unbedingt erwähnen muss. Paco Morales hat – wie viele Köche seiner Generation (er ist Jahrgang 1981) – schon früh bei den kreativen Großmeistern seiner Zeit gelernt, also etwa 2001 schon bei Josean Alija im Guggenheim-Museum in Bilbao, später dann mehrfach im Mugaritz und natürlich auch bei Ferran Adrià im „El Bulli“. Köche dieser Art haben in Spanien oft einen Ansatz, der bei uns kaum verbreitet ist. Sie arbeiten nur selten mit klassischen Techniken – sehr wohl aber mit traditionellen Aromen – und scheinen erst zu überlegen, was sie machen wollen, und dann nach der geeigneten Kochtechnik für dieses Vorhaben zu suchen. Ich persönlich kenne diese Denkweise sehr gut. Ich habe etliche Notizbücher mit Ideen, bei denen ich erst einmal nicht frage, wie sich das realisieren lässt, sondern erst einmal die Idee entwickele. Bei Köchen wie Paco Morales führt das bei vielen Rezepten zu einer durch und durch originellen Technik, die dann natürlich auch der Grund dafür ist, dass am Ende alles anders als üblich schmeckt. Wer zum Beispiel die Küche von Quique Dacosta kennt, wird diesen Effekt kennen. Paco Morales geht sogar so weit, dass er professionelle Zusatzinformationen gibt, wie etwa: „Vakuumieren und bei 4° im Kühlschrank lagern. Maximale Aufbewahrungszeit 72 Stunden. Entnehmen 4 Stunden vor Servicebeginn.“ Das hört man dann doch eher selten. Solche und ähnliche Angaben finden sich in fast jedem Rezept. Sie sind ganz klar auf Restaurantpraxis gerichtet bzw. für Privatköche gedacht, die wie Profis kochen können.

Fazit
Der Ansatz des Buches ist hervorragend, die Entwicklung der Rezepte aus der Geschichte und den Traditionen bestens gelungen, die Rezepte sind innovativ im Geschmack und innovativ in der Technik, die Präzision der Wiedergabe ist vorbildlich – kurz: „Noor“ ist ein richtig gutes Kochbuch, das extrem inspirierend ist und das sowohl vom Ansatz her wie in der Weiterführung der Ideen und dem Finish. Dass Paco Morales bisher „nur“ 2 Michelinsterne hat, kann man anhand des Buches nicht unbedingt verifizieren. Es zeigt jedenfalls die Grundlagen für eine große Küche.

Es ist wieder einmal eines der seltenen Bücher, dass auch Spezialisten mit Gewinn von vorne bis hinten lesen können. Das Buch bekommt 3 grüne BBB

Fotos © Montagud Editores / Librería Gastrónomica

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