Orientini

Die Schneeflocken, die am Fenster seines Abteils vorbei vom Himmel hinabgleiten, scheinen so schwerelos und von einer derartigen Geräuschlosigkeit, dass er glaubt, die schiere Stille hören zu können. Er kann die Bemerkung „Himmel, was für ein Sturm“, hinter sich wahrnehmen. Eine Floskel, die ihn schließlich aus einem kurzen Tagtraum reißt. Er streicht sich über seine pomadisierten Haare, geht sicher, dass alle wie gewohnt vom Scheitel an nach links liegen und sich kein widerborstiges zu einer Locke Richtung Stirn windet. Seine dunkelgraue Mayser Melone liegt noch immer auf seinem Schoss, als wäre sie ein Spielzeug und er ein Kind, das auf einer langen Fahrt nicht darauf verzichten könnte. Noch immer nicht ganz im Hier und Jetzt angekommen, steht er auf und legt seinen Hut auf die Ablage über sich. Während er vor seinem Sitzplatz steht, gleich nachdem der Hut seinen neuen Platz gefunden hat, lässt er über diese neuen Perspektive seinen Blick gleiten. Ein prachtvoller Zug, wohl war, nicht weniger als sein alter Bekannter von der Eisenbahngesellschaft – der im Übrigen hier selbst irgendwo zugegen sein musste – versprochen hatte. Eine wunderbare Art zu reisen, zweifellos.

Als er auf dem gemütlich gepolsterten Sitz wieder Platz nimmt, holt er seine Taschenuhr aus der Westentasche. Er wirft einen kurzen Blick auf das Ziffernblatt und klappt den treuen Begleiter schließlich wieder zu, ohne im Anschluss mit Sicherheit sagen zu können, welche Stunde nun geschlagen hat. Er ist nicht bei der Sache, beschäftigt sich schon wieder – wie so oft in letzter Zeit – mit irgendetwas anderem, etwas, das er nicht packen kann. Seine Finger streichen über die silberne Verschlusskappe der Taschenuhr und nehmen wie gewohnt das gravierte Monogramm war. Ein geschwungenes „H“ und etwas höhergestellt, ein „P“. Ein ungutes Gefühl überkommt ihn, hinterlässt eine Gänsehaut auf seinem Schädel, die sich über den Nacken bis hinunter zum Ende seiner Wirbelsäule zieht.

Er steckt die Taschenuhr zurück in seine Westentasche und erhebt sich wieder, während er seine ihm gegenübersitzenden Mitreisenden Anstalten machen aufzustehen. „Bleiben Sie nur sitzen, meine Herrschaften. Ich möchte mich nur kurz frischmachen“, beteuert er, schließt sein Jackett und streicht sich abermals über Scheitel und den langen Schnurrbart. Die Herrschaften nehmen in der Tat wieder Platz, bevor sie sich überhaupt richtig erhoben haben.

Der Schneefall hat sich in den letzten Minuten zu einem regelrechten Sturm entwickelt und er kann durch die vorgehaltene Hand eines jungen Zugbegleiters hören, dass der Zug anhalten muss, da eine schwere Schneeverwehung die Strecke vorerst unpassierbar macht.

Ihm ist unwohl, sein schlechtes Bauchgefühl scheint sich ebenso in seinen Kopf zu verlagern und eine Migräne beginnt ihn zu plagen. Er nimmt ein weißes Taschentuch aus der Jacketttasche und tupft sich damit über die Stirn und das Gesicht. Er braucht etwas Erbauliches, etwas, das ihn für einen kurzen Moment auf andere Gedanken bringt.

Als er den Speisewagen passiert hat, betritt er die Bar und findet linkerhand einen langen hölzernen Tresen, vor dessen Vorderseite mit grünem Leder bezogene Hocker befestigt sind. Als er Platz nimmt, stellt ein behandschuhter Barkeeper eine kleine Schale mit Knabbereien vor seinen neuen Gast.

Orientini„Was darf ich Ihnen bringen, Sir?“
„Was wäre Ihre Empfehlung?“, fragt er den Barkeeper, während er sich wieder seinen Bart zwirbelt.
„Wir haben einen wunderbaren Drink, bestehend aus Gin, frisch gepresstem Zitronensaft, einem fein gewürzten Mandarinensirup und einem Schuss Rosenwasser.“
„Erklären Sie mir, wie Sie ihn zubereiten, Monsieur. Mich faszinieren derlei Dinge.“
„Natürlich…“, beteuert er und beginnt Barutensilien vor sich aufzustellen. „Wir geben 5 cl Gin in einem Schüttelbecher voller Eis…“, erklärt er, während er genau dieser Anleitung folgt. „Dazu kommt der frisch gepresste Zitronensaft, unser Mandarinensirup und zum Schluss einige Tropfen Rosenwasser, sowie einige Tropfen dieser Inka Tinktur. Dann müssen wir den Becher schütteln.“

Während er bereitwillig und geduldig erklärt, führt er die beschriebenen Schritte galant aus. Er stellt eine vorgekühlte Champagner Schale vor ihn.

„Jetzt seihen wir den Drink in eine vorgekühlte Cocktailschale“, beschreibt er, während der Drink durch einen kupferfarbenen Strainer läuft. Er legt eine kleine Stoffserviette vor ihn, auf die das Logo des Orient Express gestickt ist.

Mit den Worten „Wohlsein!“, beendet er seine Vorstellung.

Abermals streicht er sich seinen Schnäuzer zurecht, bevor er schließlich nach dem Glas greift und einen Schluck nimmt. Eine Reihe von Gedanken schießen ihm durch den Kopf, als ihn für einen kurzen Augenblick dieses merkwürdige Gefühl der Beunruhigung verlässt.

„Sehr gut, Monsieur“, beteuert er, bevor er einen weiteren Schluck dieses fremdartigen Getränks nimmt.

Der Zug hat bereits angehalten, als die Waggonbeleuchtung für einen kurzen Augenblick zu flackern beginnt.

Er stellt das Glas vor sich, zurück auf die Serviette, bevor er einen lauten Frauenschrei vernimmt und die Augen schließt. Er erhebt sich von seinem Barhocker und folgt seinem schlimmen Gefühl…

Der heilige Helge

Zutaten bei BOS FOOD zu bestellen: 5 cl Beefeater Gin (Art. Nr. 39677) • 4 Dash Rosenwasser (Art. Nr. 22937) • 3 Tropfen Inca Bitters • 2 cl Zitronensaft (frisch gepresst oder Art. Nr. 29683) • 2 cl Mandarinensirup (Art. Nr. 14544)

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