Ode an Düll

Es gibt da diese Szene in „Ratatouille“, in der den großen Kritiker Anton Ego angesichts der Ratatouille des Ratten-Kochgenies eine so heftige Kindheitserinnerung ereilt, dass ihm der Füller entgleitet und er letztlich sein Glück als Teilhaber eines kleinen Restaurants mit entsprechender Küche findet, in dem er sich fortan nur noch des Lebens und neuerlicher Ratatouille-Portionen erfreut. So etwas ist natürlich nicht bei jedem Kritiker zu befürchten. Aber es gibt sie, die seltenen Momente, in denen man Gerichten oder Produkten begegnet, deren assoziative Ladung so gigantisch und wirkungsvoll ist, dass sie in eine eigene Liga aufsteigen. Sie finden sich weder zwingend in der luxuriösen Umgebung der besten Köche dieser Welt, noch unbedingt in einfacheren Verhältnissen. Sie sind das Ergebnis höchst seltener Voraussetzung und Zusammenhänge, sie sind nicht unbedingt kostspielig und schon gar nicht in Rezepte zu fassen, weil sie immer etwas mit Individuen und individuellen Entscheidungen zu tun haben.

Dies ist ein vorweihnachtliches Loblied auf die Lebküchnerei Düll in Nürnberg und ihre Elisenlebkuchen. Ihre handgemachten Exemplare mit dem überraschend hohen spezifischen Gewicht sind nicht unbedingt die feinsten ihrer Art. Es gibt elegantere, wie etwa die von Textor, oder hoch verfeinerte und kreative wie die von Tres Aromas, der Zusammenarbeit von Lebküchner und Spitzenköchen. Die Lebkuchen von Düll sind auch nicht alle von gleichem Niveau, weil zum Beispiel die weißen oder rosafarbenen Glasurschichten manchmal etwas arg üppig geraten und den Kern überlagern. Die besten aber habe jene überzeitliche Qualität, die in Sekundenbruchteilen trifft, sofort jeden weiteren Gedanken ausschaltet und eine solche Fülle an Bildern heraufbeschwört, dass man überwältigt ist. Nein, dies ist kein Essen, denkt man sich höchstens. Dies ist reines Neuronenfutter, bei dem die Geschmackspapillen so klare und deutliche Informationen bekommen und in Windeseile weiterleiten, dass ein fragendes oder forschendes Feedback des Gehirns erst einmal außer Kraft gesetzt wird.

 

Es gibt da ein paar Fakten. Das Originalrezept – man ahnt es – ist geheim und wird bereits in der vierten Generation streng gehütet. Man benutzt sehr wenig Mehl, „ausgesuchte Zitrate, die wir in ein spezielles Marzipan pürieren, „natürliche, reine Bienenhonige“ und „frisch angeröstete Haselnüsse“. Mehr gibt es nicht an Informationen, und sie erklären wahrlich nur einen Teil. Die Gewürzmischung, also jene Zusammenstellung aus der größeren Menge von verschiedenen Gewürzen, die in Elisenlebkuchen von Qualität zu finden sind, geht auf ein Familienrezept aus dem neunzehnten Jahrhundert zurück und wird – auch das nicht gerade Usus – von Hand im Haus gemischt.

Und genau da kommt man an den entscheidenden Punkt, nämlich das neunzehnte Jahrhundert. Wem es unter den Genießern dieser sensationellen Süßigkeit gegeben ist, die schönsten Bilder von traditionellen Weihnachtsfesten bis ins neunzehnte Jahrhundert zurück zu imaginieren, den wird es in die Sprachlosigkeit treiben – oder in einen Redeanfall, je nachdem. Ihm wird bei jedem Bissen eine Flut von Bildern, Impressionen, vielleicht sogar Temperaturen durch den Kopf jagen, von winterlichen Kirchen zur Zeit der Christmette, als diese noch um fünf Uhr morgens abgehalten wurde. Oder davon, wie man als Kind am frühen Morgen aus der Kirche zurückkehrte und sich wohlig in einem Chaos aus Geschenkpapier und den Geschenken wiederfand, die Gerüche von den Christbaumkerzen noch im Raum, die man natürlich ausbrennen ließ, nicht ohne Wetten darauf einzugehen, welche Kerze denn nun als letzte übrigbleibt. Der Messdiener wird vielleicht an das weihnachtliche Hochamt denken, von epischer Länge und festlich inszeniert, bis sich ein Nebel von Weihrauch bildete, an das Essen danach, das vielleicht das einzige im Jahr war, bei dem es mehrere Gänge gab. Oder er hat die Bilder der Vorweihnachtszeit im Kopf, vom Kaffeetrinken mit den kostbaren Lebkuchen, die einmal im Jahr geschickt wurden und Innen und Außen so wunderbar zusammenfügen konnten.

Will man so etwas oder Ähnliches bei Düll erreichen? Sagen wir es so: man wird nichts dagegen haben, arbeitet aber völlig ohne Kalkül. Es schmeckt so archaisch und traditionell und ohne Rücksicht auf Zuckeranteile und Intensität und Schwere oder Leichte, dass man sich einfach kein vorausgehendes „Meeting“ vorstellen kann, in dem Business-Formeln durch den Raum schwirren. Bei schlechten Lebkuchen scheinen sich die Produzenten zu fragen, was man als absolutes Minimum braucht, damit das Produkt als Lebkuchen durchgehen kann. Dies hier bei Düll ist erst einmal gar kein „Produkt“. Es ist Lebkuchen gewordener Inhalt, eine essbare Erzählung mit einer Unzahl von aromatischen Schattierungen, wie sie entstehen, wenn man den Elementen ein wenig Raum für Individualität lässt und sie sich immer wieder anders zusammenfinden. Der Geschmack erinnert daran, dass es Kontinuität geben kann, wenn auch vielleicht nur noch in Nischen, und dass die Bedeutung von Kontinuität sehr wohl überproportional zu der Häufigkeit ihres Auftretens oder ihrem Bekanntheitsgrad stehen kann. Das Beste kommt eben immer nur selten vor.

Und so schweifen die Gedanken zu möglichen anderen Pretiosen. Vielleicht gehört der Christstollen der „Krone“ in Herxheim dazu, bei dem die Hülle kaum die Zutaten hält. Oder das unergründliche Pflaumenmus nach altem Rezept – ebenfalls aus der „Krone“. „Cassis et violette d’Alsace“, die Marmelade von Christine Ferber in Niedermorschwihr mit der enormen Intensität und der unglaublichen Balance gehört dazu. Der „Chartreuse“ der Mönche der großen Kartause in seiner lange gereiften Fassung (VEP) und vor allem ihr Cassis-Likör, der wie von einem anderen Planeten schmeckt. Die Gianduja und ihre Variationen von Baratti & Milano, die Wildterrinen von Jean-Marie Dumaine vom „Vieux Sinzig“ und ganz selten auch klassische Gerichte von kostbar-traditionellem Geschmack und heute schon wieder radikal wirkend.

Nun aber ist Weihnachtszeit. Es schneit bei weitem nicht überall. Aber es düllt. Damit kommt man über die Runden.

Aus der FAZ-Geschmackssache vom 18.12.2015

 

 

2 Gedanken zu „Ode an Düll“

  1. Es ist lieb gewordene Tradition in unserer jungen Familie, passend zum Beginn der Weihnachtszeit für den ersten Advent bei Füll zu bestellen.
    Auch wenn regelmäßig neue Produkte dazu kommen – am genehmsten sind die Klassiker mit Schokolade in Vollmilch und Zartbitter sowie Zuckerglasur. Plus Dominosteine mit Rum für den Papa und gemischte ohne Alkohol für Frau und Nachwuchs. Zudem sehr positiv: Preisanpassungen fallen in der Regel sehr moderat aus – ohne dass die Qualität nachlässt. Einfach ein Träumchen.

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