Nils Henkel (Rezepte und Texte), Wonge Bergmann (Fotos): Fauna. Messidor Verlag/Hampp Verlag, Stuttgart 2023. 376 S., Hardcover, Großformat, 98 Euro
Nils Henkel hat unter den deutschen Spitzenköchen eine ganz besondere Rolle. Der 54-jährige hat wesentliche Zeiten im Drei Sterne-Restaurant von Schloß Lerbach verbracht, wo er 1997 begann, 2004 Küchenchef neben Dieter Müller wurde und 2008 komplett übernahm. Er wechselte ins „Schwarzenstein“ im Rheingau und bekam wieder zwei Sterne, dann ins „Bootshaus“ im Hotel „Papa Rhein“ in Bingen und in eine Art offene Gastronomie, mit Gerichten zwischen Brasserie- und Spitzenküche, zuletzt dann auch Sylt mit einem wieder anderen Programm. Es gibt Leute, die bei dieser scheinbaren Abkehr von der Höchstleistungsküche an irgendeine Form von Abstieg denken. Aber – es sollte klar sein, dass Familienmensch Henkel immer Nils Henkel bleibt, nur die Arbeitsplätze eben schon mal wechseln. Und das bedeutet gleichzeitig, dass er überhaupt nicht daran denkt, seine Linie aufzugeben, sondern eher sein kulinarisches Spektrum erweitert. Freunde des „Bootshauses“ wissen, dass man hier immer wieder Gerichte bekommt, bei denen man sich fragt, wieviel Sterne das denn eigentlich wert wäre, wenn man bei Michelin denn schon eine Form gefunden hätte, auch solche Restaurants präzise einzuordnen.
Nils Henkel hat im Laufe der Jahre und mit Konzepten, die immer in Bewegung waren und sind, einen enormen Fundus an Kenntnissen aufgebaut. Dabei ist er so ungefähr das Gegenteil von TV-Köchen geworden, die sich immer wieder – wenn sie es denn selber tun – Rezepte aus dem Finger saugen müssen, um den Buchmarkt zu bedienen. Bei Henkel bekommt man mit „Flora“ (2021) und „Fauna“ eine erprobte Sammlung von Zubereitungen, die im besten Sinne handwerklich gereift sind. Nach dem auch auf EDT bereits ausführlich gewürdigten „Flora“ – Band gibt es nun endlich auch die „Fauna“ – Rezepte rund um Fisch und Fleisch. Die beiden Bände zusammen sind dennoch nicht so etwas wie ein „Lebenswerk“. „Gereift“ sind die Rezepturen, weil man die massive Erfahrung in kochtechnischen Dingen spürt. Stilistisch ist alles, was man hier findet, eher Up-to-Date, gedacht, um dem Leser heute und jetzt ein breites Spektrum an Qualitäten und ein feines, ebenso entspanntes wie spannendes Essen zu bieten.
Das Buch
Wie schon „Flora“ ist auch „Fauna“ ein sehr auf die Sache konzentrierter Band. Im Kern stehen 75 Rezepte – Foto rechts, Rezept links (manchmal auch auf vier Seiten) – und auf fast einhundert Seiten rund 300 Grundzubereitungen. Dazu gibt es ein Glossar von 10 Seiten, etwas über „Geräte & Utensilien“, Biographisches, die Teams und einen Index. Es geht um die Rezepte und sonst nichts, insofern gibt es bis auf ein Doppelporträt von Henkel keine weiteren Bilder von der Person, der Küche oder dem Making-Of. Fotografiert ist bis auf wenige Ausnahmen auf weißen Tellern, meist aus der Sicht des Essers, etwas seltener glatt von oben und weitgehend schattenfrei. Die Farbe kommt also von den Gerichten.
Den Beginn macht ein „Prolog“ mit Snacks wie etwa der „Flammkuchen – Frischkäse, Sauerampfercreme, Eiszapfen“, ein Hauch von einem Flammkuchenteig mit einer ganzen Reihe von Elementen obenauf, bei dem – man ahnt es – der Flammkuchen eine definierte kulinarische Funktion als krosses Element und als Brotteig bekommt. Es gibt regionale Handkäsekugeln und eine frisch-würzig-zeitgenössisch begleitete Gillardeau-Auster mit Sojaperle, Gurke und Dashi. Das klassische Rindertatar wird umgebaut zu einem Tapiokacracker plus Tatar, Pulpo und Mojocreme, und die traditionelle Entenleber wird mit Papadam, Granatapfel und Gewürzjoghurtcreme eher zu einem Zitat. Ich beschreibe diese Prolog-Elemente so ausführlich, weil sie die Denkweise von Henkel schon recht klar andeuten.
„Fauna Fisch“ geht auf 94 Seiten von „Aal bis Zander“. Es gibt beeindruckende Interpretationen, die immer solche sind, aber auch immer das Hauptprodukt klar in den Mittelpunkt stellen. Dann wird begleitet und umspielt aus dem großen Fundus des Meisters, der diesen aber – siehe oben – immer frisch erhält. Wenn man sich ab und zu die Frage stellt, inwieweit sich hier eine Art Mainstream etabliert, sorgt in jedem Fall der Blick auf die Details für einen klaren Zugewinn an Individualität und kreativer Klasse. Es gibt zum Beispiel den „Bachsaibling – mild geräuchert mit Albatrüffel und Rapskernmilch“, die „Jakobsmuschel nach Teriyaki-Art mit Algen und Ingwer“, den „Kaisergranat mit Chorizosud, Artischocke und Gewürzzwiebel“, eine wunderschöne „Sardine gefüllt mit Gulaschsud, Zitrone und Fenchel“, ein „Taschenkrebs mit grüner Papaya, Mandelcouscous und Sultaninen“ oder eine „Tristan Languste mit Kokosmilch, Erbsen und Kalamansi“ (und immer auch noch allerlei Mikroelementen). Die Einflüsse aus verschiedenen Esskulturen sind bei Henkel dabei ganz klar gefiltert und überdacht. Er macht eben kein Couscous von XY, sondern lässt sich von der Zubereitungsform inspirieren und nutzt sie, um seine Vorstellungen umzusetzen.
Beim Fleisch gibt es „Bauch vom Landschwein bis Wildhase“ mit Gerichten wie: „Bauch vom Landschwein“ mit Birne, Bohne und Speck und natürlich in hochfeiner Machart, „Kalbsbries mit Haferwurzel, Kräuterporridge und Steinpilzen“ oder dem „Rehbock mit Wacholderessigjus, Sonnenblumenwurzel und Cassis“. Man muss nicht mehr Gerichte zitieren, der Stil sollte klar werden. Die Desserts natürlich jetzt nicht auch „Fauna“, sondern gewissermaßen neutralisiert. Eine große Besonderheit ist – wie schon bei „Fauna“ – die riesige Sammlung von Grundzubereitungen, die ein wahres Kompendium der Henkel-Küche sind und in ihrer enormen Breite einen sehr hohen Nutzwert haben. Sie sind in den Rezepten jeweils vermerkt. Ein Beispiel: das gerade erwähnte Reh hat die Grundrezepte Wacholderessigjus, Rehbeuscherlkugel, Malzige Pilzerde, Cassisbeeren, Gemüsefond, Cassisholzsirup und Cassisholzessig. Mit einem solchen, sehr praxisnahen „Baukastensystem“ von entwickelten Zutaten, die aber nicht nur in einem einzelnen Zusammenhang zu nutzen sind, kann man sehr gut arbeiten. Die hohe Anzahl der Variablen sorgt dann dafür, dass sich immer wieder neue Kombinationen ergeben. Weitere Angaben im Rezept betreffen das Entstehungsjahr und die Weinbegleitung.
Fazit
„Fauna“ ist natürlich kein Lehrbuch im engeren Sinne, sondern der zweite Teil von einer Art Werkverzeichnis der besten Arbeiten Henkels aus den letzten rund 10 Jahren. Henkel ist sich treu geblieben und pflegt seinen immer leichten, sehr präzise strukturierten Stil in allen Formaten, in denen er kocht und gekocht hat. Dabei fällt auch auf, dass er sein stilistisches Fähnlein bei weitem nicht so stark nach den aktuellen Moden ausrichtet wie viele seiner Kollegen, also weder in asiatischen Gewürzen versinkt noch südamerikanische oder selbst mediterrane Elemente über die Maßen einsetzt. Er lässt sich inspirieren, bleibt aber bei seiner Linie, die er von den damals noch intensiven klassischen Grundlagen in Schloß Lerbach in vielen Teilen befreit hat – vermutlich um sich ohne Butter- und Sahnefluten in einem differenzierteren Bild zu entwickeln. Natürlich hat er das beste aus seinen Erfahrungen behalten, aber er hat seine Palette erweitert und damit seinen Stil gefunden.Der Inhalt bekommt in seiner schieren Breite selbstverständlich dann doch einen Lehrbuchcharakter, allerdings mehr den eines Nachschlagewerkes. Wer Techniken und Aromen für bestimmte Zusammenhänge sucht, wird kaum ein besseres Buch für gute Lösungsvorschläge finden.
Und so fällt es nicht schwer, dieses Buch in die Riege der besten aus deutschen Landen einzuordnen – wegen der nicht zu unterschätzenden Kreativität, Individualität und Präzision. Der Preis ist stramm, aber er wird sich für Hobbyköche wie für Profis schnell als gute Investition erweisen.