Was für eine Freude! Endlich liegt einmal wieder ein richtig großes, prall gefülltes, hochinteressantes und auch noch schönes Kochbuch eines deutschen Spitzenkochs auf dem Tisch! Die Zeiten für Kochbücher unserer Meister sind naturgemäß nicht so richtig gut. Im In- und Ausland hält sich die Branche erkennbar zurück, und alle warten anscheinend erst einmal ab, bis sich die Lage wieder grundlegend stabilisiert hat. Der Buchmarkt folgt da der Gastronomie. Um so erfreulicher also nun das neue Großwerk von Nils Henkel, der nicht nur einer unserer besten, sondern mittlerweile auch einer unserer profiliertesten Köche ist. Ich kenne ihn seit dem Ende der 1990er Jahre, also seit seiner Zeit als rechte Hand von Dieter Müller in Lerbach. Schon damals fiel er mir als eine Art wandelndes Lexikon der Kochtechnik auf. Im Jahr 2004 hat er zusammen mit Dieter Müller die erste FAZ-Gourmetvision bestritten. Es folgte 2011 eine weitere mit ihm als Küchenchef von Schloss Lerbach und 2014 dann eine sehr beeindruckende „Gourmetvision Spezial vegetarisch“. Henkel hatte sein großes Thema gefunden und sollte sich in den kommenden Jahren als Spezialist von internationalem Rang profilieren.
Dass nun, wo er ganz entspannt in einem Restaurant noch ohne Sterne und andere größere Auszeichnungen kocht, dieses Buch erscheint, ist schon ein wenig bizarr. Müsste er nicht eine größere Bühne haben, um sein ganzes Können jederzeit präsentieren zu können? Nein, nicht unbedingt. Was ich im „Papa Rhein“ bisher gegessen habe, war hochwertig und immer wieder auch für hohe Bewertungen geeignet.
Henkel selber sagte einmal zu einem Gang, dass er dieses Gericht in genau der gleichen Form auf Burg Schwarzenstein serviert habe, und dort habe er zwei Sterne dafür bekommen. Aber – das Programm im „Papa Rhein“ ist eben breit aufgestellt und hat auch einfachere Gerichte. Für solche Dinge haben die Führer noch kein Schema. Wir haben das hier auf eat-drink-think.de ausführlich diskutiert.
Das Buch
Nils Henkel, Fotograf Wonge Bergmann und Projektleiter Jürgen Mann (alle einschlägig bekannt und erfahren) haben sich viel Mühe gegeben, ein „wertiges“ Buch zu schaffen, das vom Einband über das verwendete Papier bis zu den Bildern eine klare Linie verfolgt. Und diese Linie hat ausschließlich etwas mit den Kreationen zu tun. Es gibt keinerlei Personenkult und keine Kompromisse. Hier geht es um das, was Henkel im Laufe der Jahre im vegetabilen Bereich geschaffen hat, und das spricht für sich selber. Das einzige Porträtfoto zeigt ihn in der bekannten Pose am Rhein, selbstbewusst, ein wenig so – meint man bei diesem Bild immer – als ob er sagen wolle: Ich weiß, was ich kann, hier ist es, ich habe Spaß daran und wünsche Ihnen ebenfalls viel Vergnügen.
Nach eher knappen Vorbemerkungen, die ausschließlich von Henkel selber stammen, geht es an das aktuelle „Brot und Butter“-Setup. Es folgt der Prolog (also einige Amuse), dann der Hauptteil „Flora – salzig“, dann „Flora – süß“ (Desserts), „Flora – Epilog“ (Fruchtgummi, Macarons etc.), „Flora – Grundrezepte“, Glossar, Geräte & Utensilien, Produzenten und Partner, Nils Henkel/Teamgeist etc.
Schon nach den ersten Rezepten fällt auf, was das Spezielle an der Arbeit von Nils Henkel ist. Andere Gemüsespezialisten neigen zum Minimalismus, zu eher knappen Formulierungen, die schnell ein wenig didaktisch wirken können. Solche Rezepte sehen dann immer ein wenig nach einer ganz frühen Auseinandersetzung mit Gemüse und Co. als Mittelpunkt von Gerichten aus, so, als ob man dem in diesen Dingen noch wenig erfahrenen Publikum erst einmal nahebringen will, was es überhaupt gibt. Bei Nils Henkel ist das deutlich anders. Seine Arbeit war eben schon zu früheren Zeiten in Lerbach nicht die eines Newcomers. Er musste von vornherein die vegetarischen Konzepte in das Programm eines Drei Sterne-Restaurant integrieren. Da konnte man nicht mit ein paar Blättern hier und ein paar Wurzeln da reüssieren, da musste es genau so gut werden, wie das „normale“ Programm.
Nils Henkel schafft also jeweils (bei fast allen Gerichten) rund um sein Kernprodukt eine komplexe kulinarische Konstruktion mit einer ganzen Reihe von Elementen, Aromen, Texturen, Temperaturen, warm-kalt-Kontrasten usw. usf. Es ist ein Ansatz 2.0 sozusagen, ein Ansatz, der lange Jahre der intensiven Beschäftigung voraussetzt. Henkel „dockt“ an die Aromen des Hauptproduktes an, er spielt mit all dem, was er aus seinen umfangreichen Erfahrungen gelernt hat, er erweitert die bisher ja oft sehr kargen Vorstellungen von dem, was man mit bestimmten Gemüsen und Co. machen kann, er eröffnet neue Perspektiven und schafft sich so ganz automatisch und selbstverständlich eine eigene Welt, einen Stil. Und dabei merkt man dann, dass er aus dem Drei Sterne-Bereich stammt, weil er eben – salopp gesprochen – 100 Schritte geht, wo andere nur 4 oder 10 oder 30 schaffen.
Hier ein paar Gerichte: „Wilder Broccoli mit Tempura, Peperonivinaigrette und schwarzer Sojamurmel“ (Amuse), „Avocado geröstet, Koriandertapioka, Erbsenmiso, Zitrone“ (2019). Ich möchte in diesem Zusammenhang einmal „dazwischengrätschen“ und ein zusammenhängendes Stück zitieren, das deutlich macht, wie kompromisslos hier gearbeitet wird, und dass Henkel exakt das wiedergibt, was er im Restaurant macht. Es geht um das Anrichten des oben erwähnten Avocado-Rezeptes:
„Die warmen Avocadoscheiben mit einer Lötlampe rösten. Anschließend mit Birkenrauchöl einpinseln, mit Salz und Pfeffer würzen und je zwei Scheiben auf vorgewärmte Teller platzieren. Einige Tupfer von der Erbsenmiso auf die Avocado dressieren, dazwischen einige Tupfer Zitronengel spritzen. Die angeschwenkten Erbsen auf das Erbsenmiso platzieren und die restlichen Erbsen in der Mitte zwischen den Avocadoscheiben anrichten. Je einen Löffel Koriandertapioka mit Korianderöl verrührt zwischen die Avocadoscheiben gießen. Die Erbsenblüten, Erbsensprossen, Korianderkresse und Kornblumenblüten anrichten. Zum Schluss die knusprigen Tapiokacracker und die gebackenen weißen Kichererbsen platzieren und etwas Sumach um die Avocado streuen.“
Wohlgemerkt: Hier geht es um Präzision, nicht darum, den Gästen etwas Kompliziertes zu präsentieren. Beim Essen lösen sich solche Gerichte in schieren Wohlgeschmack auf und nicht etwa in sensorische Ereignisse, die ratlos machen oder verkopft wirken. Ein Koch der absoluten Spitze muss so etwas können und durchdenken, der Gast genießt – kann sich aber auch jederzeit auf eine Reise in die erheblichen geschmacklichen Tiefen machen.
Es geht weiter: „Blaue Kartoffel, Wachteleier, Périgordtrüffel, Veilchen“ (ein echter Hingucker von 2013), eine fast dekonstruierte Version von „Caesar Salat – Romanaherz, Parmesan, Olive“ (2019), ein prachtvoller „Grünkohlsalat – Maronen, Sanddorn, Knollenziest“ (2019), mit dem Henkel den Grünkohl endgültig auf Feinstschmecker-Niveau hebt und dabei eben auch ganz nebenbei beweist, dass man sozusagen mit jedem Produkt Bestes produzieren kann, wenn man denn eine Lösung findet. „Salatstiele“ gab es bei ihm übrigens schon 2014, begleitet von einigen feinen Mikroelementen, Trüffel und Haselnuss.
Es gibt das „Zwiebelherz mit Wachtel-Solei, Petersilienwurzel und Trompetenpilzen“ (2018), ein Selleriesandwich mit Trüffel und Pfifferlingen“ (2019), den „Seidentofu mit Soja, Küstengemüse und Algen“ (2018) oder die „Klettenwurzel mit Schwarzwaldmiso, Ponzu und Shiitake-Gyoza“ (2018). Dass hat alles beste Qualität, ist präzise beschrieben, dazu gibt es jeweils eine Weinempfehlung und – leider – keine weiteren Anmerkungen zu den Rezepten. – Die Desserts sind – bei aller Grundqualität – ein wenig anders. Hier könnte man sich vorstellen, dass etwas konsequenter modernisiert wird, eben dem herzhaften Bereich ähnlicher. Während Henkel bei Gemüse und Co. auf seinem eigenen Planeten angekommen ist, ist er bei den Desserts noch nicht ganz auf dem gleichen Niveau. Vielleicht würde hier eine kleine Verschiebung in den Gemüse-Crossover-Bereich spannende Ergebnisse bringen.
Fazit
„Flora“ ist ein exzellentes Buch voller Ideen und Überraschungen ohne je in plakative Extreme zu verfallen. Nils Henkel demonstriert mit viel Engagement, dass er einer unser ganz wenigen großen Köche ist – egal, wo er gerade kocht. Mit „Flora“ dokumentiert er ein Werk, das diese Bezeichnung jederzeit verdient: konsequent über Jahre erarbeitet und perfektioniert, unverwechselbar in Form und Geschmack. Das Buch ist natürlich erst einmal etwas für die Profis und avancierten Privatköche, die technisch das ganze Spektrum zwischen Klassik und Moderne beherrschen. Wie in solchen Fällen üblich kann man aber die Unmengen von Einzelzubereitungen und Grundrezepte auch in einem weniger aufwändigen Zusammenhang nutzen.
Das Buch gehört in jede gute kulinarische Bibliothek und bekommt natürlich 3 grüne BBB
Nils Henkel/Wonge Bergmann (Fotos): Flora. Hampp Verlag, Stuttgart 2021. 320 S., geb., Hardcover mit Prägedruck, 95 Euro
…die Teller sind ja alle furchtbar maniriert angerichtet, es handelt sich doch hier um Gerichte zum Essen und nicht um Collagen auf Tellern fürs Museum!
Ich verstehe Ihre Kritik nicht ganz. Wie Jürgen Dollase schreibt: es geht nicht darum kompliziert, sondern präzise zu sein – um dann beim essen ein Wohlgefühl auszulösen, eine Harmonie im Gaumen zu erreichen. Haben Sie schon mal ein Gericht von Nils Henkel genossen?
Ich kann Ihnen versichern, es passt alles wunderbar zusammen! Und was Sie als manieriert bezeichnen – ich finde es schön! Ganz alter Spruch: das Auge isst mit!
Herzliche Grüße!