Neues von einem sehr sensiblen Punk

Guillaume Sanchez/Henry Michel: Post-Cuisine. Éditions du Chêne/Hachette Livre, Paris 2020. 328 S., geb., Hardcover, 39,90 Euro (in französischer Sprache, z.B. bei Amazon erhältlich)

Der französische Sternekoch Guillaume Sanchez (30) ist einer der bemerkenswertesten Köche seiner Generation. Das scheint natürlich erst einmal an seinem wirklich punkigen Aussehen zu liegen, das ihm frühzeitig allerlei Bilder in allerlei Zeitungen eingebracht hat. Seine Tätowierungen wirken eben nicht wie nach Hipster-Art sorgsam geplant und zusammengespart, sondern teilweise ziemlich spontan und entsprechend schräg und authentisch. Und weil er auch schon früh interessante Kochbücher geschrieben hat, konnte er schon im Jahre 2015 mit dem „Nomos“ in Paris sein erstes Restaurant aufmachen. 2017 gehörte er dann zum ersten Mal zum Team von „Top Chef“, einer TV-Kochshow, die in Frankreich kulinarisch oft weitaus seriöser als fast alle deutschen Shows wirkt. Wegen seiner ungewöhnlichen Performance brachte ihm das eine beträchtliche Publizität ein und führte noch während der Staffel zur Eröffnung des „Neso“ in Paris, seinem aktuellen Restaurant, für das er 2019 einen ersten Stern bekam.

Foto © Guillaume Sanchez/Neso

Der „Witz“ an der Sache ist aber nicht das Aussehen oder der manchmal überraschend große Kontrast mit seinem manchmal (nicht immer) zurückhaltenden, fast ein wenig scheu wirkenden Auftreten, sondern die Tatsache, dass er ein exzellenter Koch ist, der zum Beispiel in seinen Anrichteformen manchmal von der Schiene Joel Robuchon-Frederic Anton beeinflusst ist, andererseits die Moderne in allen Details beherrscht und – noch überraschender – ein extrem hohes Reflektionsniveau zeigt. Sanchez denkt enorm viel über alle Details nach und hat das in diesem neuen Buch in einer ganz erstaunlichen Ausführlichkeit zu Papier gebracht.

Das Buch – eine vorsichtige Annäherung
Erst einmal muss man sich von dem Cover des Buches freimachen. Auch wenn im Vordergrund des Bildes ein paar Gemüse ausgebreitet sind, kommuniziert dieses Cover nicht unbedingt moderne Küche. Dann muss man damit klarkommen, dass es in diesem Buch kein einziges Foto, sondern nur Zeichnungen gibt. Davon gibt es allerdings recht viele, so dass sich die Sprödigkeit in Grenzen hält. Und dann kommt die Sache mit der Theorie.

Zwischenbemerkung
Inhaltlich fällt zuerst einmal auf, dass Sanchez dazu neigt, sich seine eigene Systematik zu entwickeln. Sie hier darzustellen würde bei weitem den Rahmen sprengen, sie hier zu diskutieren erst recht. Insofern beschränke ich mich darauf, die wichtigsten Grundzüge zu erwähnen. Das ganze System halte ich auf alle Fälle für sehr interessant, bedenkenswert und durchaus auch hilfreich bei der Konzeption von Gerichten. Wie immer in solchen Fällen besteht natürlich die Gefahr, dass man sich in den Systematiken verheddert und irgendwann mehr für die Systematik als für ein Gericht arbeitet, das ganz offensichtliche Qualitäten hat. Ich empfehle da bei der kreativen Arbeit eher einen regelmäßigen Wechsel der Perspektiven – zwischen Intuition und Reflektion, sozusagen. Es hat sich bei mir immer bewährt, Ideen zu sammeln, ohne lange nachzudenken, und sie dann in verschiedenen Stufen und auf verschiedene Arten zu bearbeiten. Warum ich diese Bemerkungen hier zwischenschieben muss, wird im weiteren Verlauf der Besprechung schnell sichtbar werden.

Einige Details
Die „Sechs Wege der Küche“ sind bei Sanchez „Säure“, „Jodiges“, „Fett“, „Texturen“, „Kurze Zeiten“ und „Lange Zeiten“. Zu diesen sechs Wegen gibt es jeweils eine Reihe von Rezepten. Diese Rezepte schlüsselt Sanchez jeweils nach seinem Spezialschlüssel von Kriterien auf, mit dem er anzeigt, welches der 13 in 4 Gruppen aufgeteilte Merkmale bei einem Gericht wie intensiv wirksam ist. Die 4 Gruppen sind die „Primären Geschmacksmerkmale“ (Anm. er benutzt das Wort „Saveurs primaires“, das man in diesem Zusammenhang schlecht anders übersetzen kann), die „Sekundären Geschmacksmerkmale“, „Mechanische Merkmale“ und „Kulturelle Aspekte“. Die primären Geschmacksmerkmale sind: süß, salzig, säuerlich und bitter, die sekundären Umami, fettig und jodig.

Diese Unterteilung geht also über die normalerweise benutzten Grundaufteilungen hinaus. Zusätzliche benutzt er hier auch noch die Kategorie „Parfüm“, die sich aber irgendwo zwischen den französischen Begrifflichkeiten rund um den Geschmack verläuft. Die mechanischen Merkmale sind „Texturen“, „Adstringenz“ und „Temperaturen“, wobei man natürlich sofort anmerken muss, ob denn die Wirkung des Grundmerkmals „Säure“ wirklich eine weitere Kategorie braucht. Die kulturellen Aspekte sind dann „Logik“ und „Zeitgebundenheit“ („Air du Temps“), also Aspekte, die aus der primären kulinarischen Logik – wie etwa der Saisonalität – stammen und solche, die sich nicht nur aus aktuellen Tendenzen ergeben (Anm. so wird Air du Temps oft benutzt), sondern auch andere kulinarische Zeiten und Moden etc. betreffen.

Das klingt erst einmal sicherlich nicht unkompliziert und ließe sich auch ausführlich diskutieren. In der Praxis nähert sich Sanchez den Gerichten sehr detailliert. Hier ein Beispiel, das vergleichsweise übersichtlich ist:

„Konfierte Zwiebel, Jus von geräuchertem Aal, Heringsrogen und Poutargue“

Die einleitenden Sätze lauten:

„Vor Ihnen liegt eine dicke Scheibe Zwiebel, bedeckt von einer gebutterten Jus von geräuchertem Aal und von Heringsrogen, auf den einige Gramm Poutargue gerieben wurden. Das Messer schneidet sehr leicht durch diese schmelzend weiche Komposition.

Aber am Gaumen gibt es Überraschungen: trotz der gegarten Textur hat die Zwiebel noch etwas von ihrer pikanten Attacke und der Säure des rohen Zustands behalten. Die Jus vom Aal hat ein dichtes Aroma, mit viel Geschmack und ist nachhaltig am Gaumen“….usw.

Es folgt die Analyse mit den 13 genannten Kriterien, bei der hier die Schwerpunkte bei „bitter“, „fett“, „Parfümierung“ und „Texturen“ liegen. Die Beschreibung des eigentlichen Rezeptes danach ist nicht mit den üblichen Beschreibungen zu vergleichen. Die handwerklichen Aktionen sind in eher komplexe Beschreibungen und Reflektionen eingebunden, sie sind eher maximal als minimal und sorgen in der Summe dafür, dass in diesem Buch eine Menge an Material zusammenkommt. Die Rezepte gehen ein wenig in Richtung einer Moderne wie wir sie beim neuen französischen Drei Sternekoch Alexandre Mazzia oder bei Marco Müller finden, manchmal auch in Richtung Gauthier, manchmal auch ein wenig in Richtung Alléno und eben auch in Richtung der Maximalfinesse im Stil von Robuchon oder Anton. Die Kompositionen sind kleinformatig und sehr sensibel aufgebaut, es handelt sich also keineswegs um groben Rock’n’Roll oder sonst etwas, das der ein oder andere Beobachter vielleicht mit Guillaume Sanchez assoziieren könnte. Hier einige Gerichte: „Konfierter Kabeljau und Chlorophyll von wilder Brennnessel, Erbsen, Brennnessel in Texturen, Wasserminze, Vinaigrette von Tanne und Buttermilch“, „Muscheln, Algencreme mit Nussbutter, Flan von Algen und Salicornes“ oder „Steinbutt, in einem Gelee von Meerwasser gegart, Sauce und Gelee von einem Pot-au-Feu“.

Zusätzlich gibt es noch allerlei zur Küche insgesamt und in Details, Reflektionen also auch zur Entwicklung der Küche, der Gastronomie und der gesellschaftlichen Funktion der Küche, die tendenziell eine gewisse Nähe zu Redzepi und seinem MAD-Projekt zeigen.

Fazit
Das Buch ist sehr speziell und sehr individuell, es ist oft eine Meinung, und nicht unbedingt Wissenschaft – auch wenn es manchmal ein wenig so aussieht. Am Ende zählt, was auf dem Teller stattfindet, und da muss man dann den Eindruck haben, als ob Sanchez mit seinen detaillierten Ideen durchaus sehr gute Arbeit leistet, die ihn noch ein gutes Stück weiter bringen könnte.

Das Buch wird vermutlich nie in deutscher Sprache erscheinen, was allerdings auch für eine ganze Reihe anderer wichtiger internationaler Bücher gilt. Es sollte bei uns dennoch gelesen werden, weil es viel Inhalt und System hat, weil es eine Position ist, von der aus man moderne Gerichte entwickeln kann und weil diese Gerichte auch die Traditionen nicht außer Acht lassen. Es ist ein Buch für Hardcore-Spezialisten mit viel Interesse an der Moderne.

Das Buch liegt zwischen zwei BB und drei BBB.

Fotos © Éditions du Chêne/Hachette Livre

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