Am 27. Januar gibt es die neue Ausgabe des französischen Guide Michelin – befeuert von den üblichen „Micheleaks“ Spielereien, die in jedem Jahr zuverlässig dafür sorgen, dass möglichst viele Leute das Erscheinen eines neuen Führers auch mitbekommen. In diesem Jahr hat die Ankündigung, dem Restaurant Bocuse seinen dritten Stern zu entziehen, allerdings nicht nur für Gischt an der Oberfläche, sondern – um im Bild zu bleiben – für schwere Grundseen gesorgt. Der Grund ist nicht wirklich die Abwertung für das Restaurant des legendären Altmeisters. Man kann und konnte seit vielen Jahren jederzeit der Meinung sein, dass, auch bei aller Liebe zur Klassik, die Leistungen nicht durchweg höchstes Niveau hatten. Ich hatte bei verschiedenen Besuchen in verschiedenen Etablissements des Bocuse-Imperiums häufig den Eindruck, dass man dort ein sagenhaftes Selbstbewusstsein kultiviert, das mit den Realitäten oft nicht viel zu tun hat. Der Höhepunkt dieses völlig überinszenierten Selbstverständnisses war für mich eine Szene in einer seiner Brasserien in Lyon, wo ein junger Servicemitarbeiter einen Wolfsbarsch am Tisch so in Grund und Boden zerlegt hat, dass man nur noch Matsch auf dem Teller hatte. Da nützt es dann auch wenig, wenn irgendwo im Hintergrund Köche auftauchen, deren Kragen sie als Inhaber des Titels „Meilleur Ouvrier de France“ ausweist.
Das Pendel schlägt in die Gegenrichtung aus
Nein, das Hauptproblem in den Diskussionen in Frankreich ist im Moment, dass man befürchtet, es könne auch andere treffen. Im letzten Jahr war es Marc Haeberlin, jetzt ist es Paul Bocuse. Trifft es auch weitere Altmeister wie Georges Blanc und Co.? Ist eine junge Garde von Michelin-Testern unterwegs, die die Werte der klassischen Küche nicht mehr schätzt oder – schlimmer – nicht mehr schätzen kann?
Das Pendel scheint nun in die andere Richtung auszuschlagen. Lange Jahre mussten Freunde der Moderne oder Avantgarde darum kämpfen, dass andere als klassisch-orientierte Küchen so bewertet wurden, wie es ihrem Empfinden entsprach. René Redzepi hat es als einer der größten Küchenrevolutionäre bisher noch nicht zu drei Sternen gebracht und musste mit ansehen, wie die skandinavischen Kollegen Rasmus Kofoed, Esben Holmboe Bang oder Björn Frantzen in der Michelin-Bewertung an ihm vorbeizogen. Ich war immer dafür, Leistungen von Küchen zügig einzuordnen und der Kreativität dabei einen größeren Stellenwert einzuräumen – handwerkliche Präzision natürlich vorausgesetzt. Kreative Restaurants brauchen eine schnelle Unterstützung, sonst besteht immer die Gefahr, dass sie im Pro und Contra „aufgerieben“ werden und sich nicht so lange halten können, wie es für eine echte Durchsetzung am Markt notwendig wäre. Warum etwa hat Andreas Rieger vom „Einsunternull“ in Berlin nicht zügig zwei Sterne bekommen? Wieso Michael Hoffmann nicht drei?
Nun aber haben die Klassiker, die sich bisher immer als fundamentale Bestandteile des Michelin-Systems sehen konnten, den Verdacht, dass eine neue Generation von Testern genau umgekehrt denkt: Neu ist gut, was sollen wir mit dem alten Kram? Und – noch schlimmer – sie haben den Verdacht, dass jüngere Tester ihre Arbeit gar nicht verstehen können, weil ihnen die entsprechende Erfahrung fehlt. Eine solche Diskussion mag bei uns ganz normal stattfinden, in Frankreich geht sie an die Grundfeste des gesamten Systems. Es geht dort auch nicht – wie bisweilen bei uns – um die Frage, ob sich überhaupt eine nennenswerte Zahl von Leuten ernsthaft für die Bewertungen in Restaurantführern interessiert. In Frankreich hat die Esskultur einen komplett anderen Rang als bei uns, und der Guide Michelin steht mit seinen Einstufungen mitten in der Gesellschaft. Die Bocuse-Geschichte dürfte für die ganz überwiegende Mehrzahl der Franzosen ein großes Thema sein.
Neue Tester braucht das Land
Auch bei den hier bei uns geführten Diskussionen um die Qualität von Altmeistern der klassischen Küche schleicht sich bei mir immer der Verdacht ein, dass der ein oder andere die Sache nicht ganz überblickt, also weder eine gute Kenntnis der klassischen Küche hat, noch deren Bedeutung im Zusammenhang übersieht, noch je daran denkt, wie sich das System „Kochkunst“ eigentlich zum allgemeinen Nutzen am besten entwickeln und verkaufen lässt. Der Verdacht, dass eine neue Generation von Testern nicht nur eine andere Orientierung hat, sondern Wissenslücken, die man nicht haben sollte, wenn man über die Qualitäten von Küchen befindet, ist nicht aus der Welt zu schaffen. Und – es sind eben nicht etwa Lücken im Verständnis, sondern Lücken im Grundwissen des real nicht existierenden Berufs des Kochkunst- und Restaurantkritikers.
Wenn es aber um Wissenslücken geht, braucht man dringend ein System, das dafür Sorge trägt, dass den Profis hinter dem Herd auch solche vor dem Herd entgegenstehen. Das System „Kochkunst“ braucht den ausgebildeten und zertifizierten Kritiker, bei dem sichergestellt ist, dass er weiß, wovon er redet und die Kochkunst und ihre Qualitäten kennt und beurteilen kann. Ich habe bei meinem Text zur Abstufung von Marc Haeberlin und der Auberge de l’Ill bereits anklingen lassen, wie sich eine solche Zertifizierung auswirken könnte und würde, wie man erst Werbung mit dem Vorhandensein solcher zertifizierten Kritiker machen wird, wie sich dann jene, die sich mit solchen Testern schmücken können, von denen absetzen, die das nicht können und wie sich dann ein qualitativer Druck entwickelt, den man aus vielen anderen Bereichen des Lebens her ebenfalls kennt. Ich habe schon vor mehr als 15 Jahren einen solchen Weg vorgeschlagen, habe für die Deutsche Akademie für Kulinaristik auch zwei Kurse abgehalten und vor allem im Verlauf ein System entwickelt, das geeignet ist, zu solchen Zertifizierungen zu kommen. Aber – man sollte sich da von keiner Seite her Illusionen machen: Eine solche Ausbildung wird hohe Anforderungen stellen, und diese Anforderungen müssen weit über das hinaus gehen, was etwa der Beruf des Kochs verlangt. Wer über andere urteilt, und wer mit diesem Urteil vielleicht sogar erhebliche Auswirkungen auf die Existenz des Beurteilten hat, muss das einfach in einer seriösen Form tun.
Für die Einstufung von „Klassikern“ möchte ich einen Vorschlag wiederholen, den ich im Zusammenhang mit Marc Haeberlin schon einmal gemacht habe. Bis zu einer Lösung, bei der die Leistungen von Restaurants in jeder kulinarischen Richtung wirklich sinnvoll erfasst und bewertet werden können, sollte man den Altmeistern die Sterne belassen, und einen Lorbeerkranz dahinter setzen. Wenn man dann noch das Jahr hinzufügt, in dem der Lorbeerkranz vergeben wurde, wird eine Menge transparent. Also etwa *** (2017) und den Lorbeerkranz… Will sagen: dieses Restaurant hatte bis zum Jahr 2017 drei Sterne, danach haben wir es in die Ruhmeshalle aufgenommen.
Olivier Nasti (nicht Knasti) 😉
Ein Lorbeer mit Datum für klassische Küche wäre dasselbe wie die „Hall of Fame“ bei den „50 best“ — haben Sie das nicht selbst kritisiert? — und würde nichts darüber aussagen, ob diese klassische Küche auch wirklich in bester („klassischer 3-Stern-„) angeboten wird.
Ein Guide muß schon die aktuell angebotene Leistung bewerten, dies aber unabhängig von Trends tun.
Es ist richtig und wichtig, wenn auch klassische Küchenstile weiter bestehen und angeboten werden — Escoffier, Point, Bocuse, Guerard, Adria, etc., genauso wie die momentan trendige „kreative“ Küche — die ich sehr schätze! — mit ihren Einheitsmenus (auch dann, wenn diese einmal unmodern werden sollten).
Restaurants, die einen — den von ihnen gewählten — Stil nicht mehr in gewohnter Perfektion anbieten, gehören abgewertet. Sinnvoll wäre ein Zusatz zur Wertung (auf jedem Niveau), für welchen Stil diese Wertung vergeben wurde.
Das ist sehr konservativ. Man könnte auch meinen, das Pendel schlüge nun – nicht bei Michelin, sondern – bei Jürgen Dollase in eine genau andere Richtung aus als in diejenige, die er jahrzehntelang hochgehalten hat.
Tatsächlich zeigt schon ein einfacher Vergleich der Speisekarten etwa von Marc Haeberlin und Olivier Nasti, was die Gründe für die Realitätsanpassung der überkommenden und nicht mehr vertretbaren Bewertung gewesen sein dürften.
Der Gault-Millau nimmt darüber hinaus jetzt auch Dollases Vorschlag eines kulinarischen Areopags (also einer Académie Culinaire mit Eichenlaub, Schwertern und Brillanten) auf, wie mir scheint.
Lieber Herr Eichener,
das ist vielleicht im besten Sinne konservativ: wenn die Pendel unterschiedlich ausschlagen, muss man sehen, das das Ganze keinen Schaden nimmt.
Selbst der Vergleich der Karten von Olivier Knasti und Marc Haeberlin sollte zugunsten von Marc Haeberlin ausgehen, weil man dort sofort sieht, dass es hier auch große Klassiker gibt. Bei Knasti habe ich immer eine deutliche Diskrepanz zwischen Kartenlyrik und Geschmack erlebt.
Lieber Herr -Dollase,
Der erste Satz Ihrer Entgegnung ist so schön und doch knapp gesagt; er erinnert mich an ein Ernst-Jünger-Zitat. Gefällt mir sehr.
Speisekartenlyrik (ob das mal modisch gewesene und vielenorts immer noch anzutreffende knapp-aggressive Bellen „Kalb . Kartoffeln . GRÜNZEUG !!!“ auch dem Begriff unterfallen soll, weiß ich nicht) hat über den reinen Informationsgehalt ja auch eine Funktion. Sie soll den Gast nicht nur informieren, dass seine Paprikaallergie einen Genuss der Sauce ausschlösse, oder dass es vom Reh eben die Haxen sind und nicht die Rückenstücke – mit etwas mehr Messerarbeit für den Esser -, sondern sie soll neugierig machen, Appetit machen. Eine Karte, die sich langweilig liest, tut das erst einmal nicht. Sie verlockt nicht.
Nun kann es natürlich sein, dass die Karte von Olivier Nasti (dem ich die Realisierung des Wortspieles mit seinem Nachnamen nicht wünsche) in diesem Sinne der Verlockung dann nachher dieser durch die Leistung am Tisch nicht gerecht wird. Wer das aus Erfahrung weiß – Sie können es gewiss beurteilen, ich war noch nicht dort, auf den Spuren Anthony Bourdains… -, der hat natürlich einen Vorsprung.
Indessen haben schon viele Rezensenten in verschiedenen Online-Fora auch bei Haeberlin enttäuschenden Geschmack bei etlichen Gerichten wieder und wieder bemängelt. Klassik heißt ja nicht Flauheit oder Langeweile.
Letztens: Serge Dubs ist kein Sommelier mehr, sondern eine legendäre Institution. Dennoch verwundert es mich – vielleicht ist das aber meine sehr deutsche Erwartung – dass über die Weine des Hauses so nichts, aber auch so gar und überhaupt nichts auf der eigenen Website der Auberge de l’Ill ausgesagt wird. Völliges Schweigen. Wenn die Speisekarte für den interessierten Gast vorab lesbar ist (außer der „Formule Jeunes“, die wird bzw. wurde geheim gehalten), warum nicht auch die Weinkarte?