Die Zahlen von gestern kennen Sie ja mittlerweile, man kann sie auch überall finden. Ich persönlich warte immer auf die Listen, in denen sich auch die Stern-Verluste finden und atme überhaupt immer erst ein wenig durch bevor ich etwas schreibe. Mir fällt dann zum Beispiel das Interview ein, das der deutsche Michelin-Chef Ralf Flinkenflügel der ZEIT gegeben hat (veröffentlicht am 16.3.) und das ein paar Dinge klar macht. Einmal ist natürlich auch dieses Interview wieder nicht besonders aussagekräftig, weil man dazu kenntnisreichere Gesprächspartner als Jana Gioia Baurmann braucht. Gerade bei Interviews mit den geheimniskrämerisch veranlagten Michelin-Leuten muss man an Punkte kommen, die interessanter sind als das, was sich dann in ewiger Wiederholung auch in diesem Interview wieder ausbreitet. Immerhin macht Flinkenflügel aus meiner Sicht wieder den Fehler, bestimmte Dinge zu favorisieren. So etwas sollte ein auf Objektivität bedachter Chef eines Restaurantführers nicht in dieser unreflektierten Form tun. Die Anzahl der Elemente auf einem Teller etwa – ein beliebtes Diskussionsthema – ist kein Kriterium. Man kann mit vielen Elementen ein völlig sinnloses Chaos auf dem Teller erzeugen. Man kann aber auch ein exzellentes Hauptprodukt mit diversen Mikroelementen genial begleiten. Von diesen logischen Schwächen in der „Beweiskette“ des Michelin-Chefredakteurs gibt es dort eine ganze Reihe. Und wenn ein aufstrebender Koch das Interview ganz genau liest, weiß er ein paar Punkte mehr, die im Moment bei Michelin positiv gesehen werden.
Wie dem auch sei: über das, was gestern an Sternen vergeben wurde, muss man nicht dringend Kritisches anmerken, weil es bei uns eine Menge von Bewegung vor allem in einigen Großstädten gibt und diese Bewegungen hier durchaus berücksichtigt wurden. Die hohe Zahl neuer Ein-Stern-Restaurants von 34 spricht dafür. Es ist wieder eher so, dass eine ganze Reihe von Köchen sich fragen wird, warum sie nicht höher bewertet werden. Die seit Jahren üblichen Verdächtigen für drei Sterne geraten langsam aus dem öffentlichen Bewußtsein, und die neuen Verdächtigen, die teilweise mit viel publizistischem Druck nach vorne drängen, sind ebenfalls nicht wirklich vorgekommen. Immerhin zeigt die Auswahl der neuen Zwei Sterne-Restaurants neben Selbstverständlichem (Kellermann, Natmessnig) auch ein paar schwungvolle Entscheidungen (Votum, Coeur D‘Artichaut, Sein). Ich möchte auf ein paar Schwerpunkte eingehen.
Man ist bei Michelin im Falle der drei Sterne für Jan Hartwig sicher über einen kleinen Schatten gesprungen, weil es für eine Neugründung nach fünf Monaten eher selten sofort drei Sterne gibt. In weniger wertigen Fällen hat man manchmal ähnliche Dinge als „Umzug“ gewertet – zum Beispiel als vor vielen Jahren Alfons Schuhbeck aus Waging nach München ging und er und seine Freunde die Sorge hatten, er würde – wie damals üblich – erst einmal keinen Stern bekommen. Bei Hartwig war zu Beginn sogar unklar, ob er wirklich wieder so weitermachen wollte, wie er das dann getan hat. Die Entscheidung, ganz klar wieder „Gourmet“ zu machen und wieder drei Sterne anzustreben, kam erst mit der Zeit, dauerte aber nicht wirklich lange. Und dann entwickelte Hartwig wieder das, was er wie kaum ein anderer Koch kann, nämlich eine unglaubliche Mischung aus Energie, Kenntnis, Offenheit und der Fähigkeit, sich selber immer richtig einzuschätzen. Mit solchen Voraussetzungen (die man wirklich sehr selten findet) hat er nicht nur seine schon erarbeiteten Qualitäten erhalten, sondern sich auch noch weitere Felder erschlossen, wie etwa Gerichte der traditionellen Gourmetküche und viele weitere regionale Ressourcen. Ich kenne mittlerweile viele der Rezepte, die im Herbst in seinem ersten großen Kochbuch erscheinen werden und kann nur von staunenswerten Dingen berichten. Hier ist ein großartiger Koch an der Arbeit und das hat man sofort erkannt.
Bei Joachim Wissler hätte man bei Michelin wohl über einen größeren Schatten springen müssen und hat dies nicht getan. Die Entwicklung nach dem Verlust des dritten Sterns war so, dass Wissler tatsächlich erst einmal mit allen möglichen Optionen „gespielt“ hat. Das ist verständlich wenn man der festen Überzeugung ist, dass man auf allerhöchstem Niveau arbeitet. Dann ging es sehr schnell. Wissler hat eine lange geplante Kreativpause vorgezogen, den Sterneverlust angenommen und mit einer intensiven, zwei Monate dauernden Kreativ-Phase begonnen, während der er an 6 Tagen der Woche 10 Stunden in der Küche stand. Das Ergebnis ist höchst beeindruckend. Das habe nicht nur ich so festgestellt. Mir haben diverse Kenner der Szene ihre Eindrücke so geschildert, dass sie diese Wissler-Küche irgendwo deutlich im oberen Bereich des Drei-Sterne-Niveaus sehen. Das – soweit bin ich mir sicher – wird man auch bei Michelin bemerkt haben müssen, wenn man denn das Restaurant so kurz nach der Abwertung schon wieder besucht hat. Hätte man das Gesicht verloren, wenn man Wissler den dritten Stern direkt wieder gegeben hätte? Nein, eine solche Denkweise würde den eigenen Maximen widersprechen. Eine neuerliche Vergabe des dritten Sterns wäre keine Revision der eigenen Entscheidung gewesen, sondern das präzise Reagieren auf das, was ist. In meiner Sicht wäre eine solche Entscheidung keinerlei Gesichtsverlust gewesen, sondern nur der Beweis dafür, dass man seine Arbeit wirklich akribisch und ohne falsche Regeln betreibt. Vor allem hätte eine solche Entscheidung Souveränität ausgestrahlt. – Es ist nicht dazu gekommen, und das ist künstlerisch nicht zu rechtfertigen. Man sollte sich bei Michelin daran erinnern, daß es besser ist, durch die Qualität der Bewertungen zu überzeugen, als in irgendeiner Weise zu taktieren. Glaubwürdigkeit ist ein hohes Gut, man hätte sehr dazugewonnen. Außerdem muss man einmal darauf hinweisen, dass Leute, die die Macht haben, durch ihre Bewertungen wirtschaftliche Gewinne und Verluste zu produzieren, auch so etwas wie eine Sorgfaltspflicht haben. Man muss so präzise wie möglich arbeiten, und wenn man in einem Jahr einen Stern streicht, muss man auch in der Lage sein, ihn im nächsten Jahr wieder zurückzugeben.
P.S. Den Sternverlust für Frank Rosin (2 nach 1) muss man wohl auch erst einmal etwas genauer erforschen…
Noch etwas zum Ablauf und zur Präsentation. Man wird sich bei Michelin fragen müssen, welche Seriosität eigentlich zu einer solchen Veranstaltung gehört. Wie schon früher war der Moderator für mich eine klare Fehlbesetzung. Während Michelin-Chef Poullennec eine absolut adäquate, sachlich seriöse Ausstrahlung ohne jede Verstellung hat, erinnerte der Moderator, der sich als TV- und Eventmoderator vorstellte, eher an den Kölner Karnevals-Komiker Guido Cantz und seine unsäglichen, abgedroschenen Sprüche. Wahlweise fühlte man sich auch an einen Moderator von Kaffeefahrten erinnert. Das unsägliche Spielchen mit dem Koch von „Sein“ gehört nirgendwo hin, und ganz sicher nicht in eine solche Veranstaltung. Außerdem sollte man in diesem Umfeld das Wort „Baiersbronn“ fehlerlos aussprechen können – und vieles andere mehr.
Die Veranstaltung war eigentlich in weiten Teilen reines Trash-Format. Ein Promoter, der noch nicht einmal den Namen seines Brand korrekt aussprechen kann, der sinnfrei platzierte lateinische Aphorismen noch falsch betont, es war mehr aspera als astra, mit dem erklärten Ziel, den Tränenfluss am Laufen zu halten. Da sie bei Michelin vermutlich wissen, wofür sie ihr Geld ausgeben, ist die Frage, ob unsere Altersklasse mit solchen Veranstaltungen überhaupt noch angesprochen werden soll, damit beantwortet. Sehr nahe liegt, der Schluss, dass das auch für die Relevanz der Bewertungen gilt. Insofern darf man den Sternezirkus auch nicht ernst nehmen.
Lieber Herr Dollase,
mein Problem mit Ihrer Aussage bezüglich Ihrer „kritischen Distanz“ ist, dass Sie diese Distanz meist sehr auf den Guide Michelin beziehen und eigentlich nie auf ihren „Liebling“ J. Wissler, dessen Küche ich bereits seit Jahrzenten, also auch schon zu Zeiten im „Marcobrunn“ kenne! Er war immer ein herausragender Küchenchef, zeitweise und vor allem zu Zeiten als er seine klassische Schule modernisiert auslebte, war er mein/unser absoluter Favorit im gesamten deutschsprachigen Raum!! Meine Frau und ich haben zu dieser Zeit oft seine Küche genossen, sie war ausdrucksstark, finessenreich, generös, herrlich pointiert und sie zeigte immer sein ganz persönliches Fingerspitzengefühl, einfach köstlich! Danach seine Transformation hin zur aufgesetzten Avantgarde, war vielleicht sein Wunsch, seine Herzensangelegenheit, aber wirklich sein „Können“, sein Stil? Aus meiner Sicht leider nicht! Das mögen andere anders sehen, kein Zweifel, meine Meinung ist sicher nicht das Maß aller Dinge, doch ich wünsche mir die Zeiten zurück zu seinen modernen Klassikern, dem „Rehrücken im Périgordtrüffelmantel“, das Perlhuhn aus dem Holzkohlegrill, seine herrlichen Krustentier- und Fischkreationen usw.! Dafür lasse ich dann gerne diese unausgewogen-kreativen „Möchtegern-Gerichte“ von heute à la „Zander in Bienenwachs gereift, Petersiliensahne, Zanderschaum, Haferwurzel“ stehen! Entwicklungen können manchmal auch in die falsche Richtung gehen….!
Lieber Herr Dollase,
da ist es wieder, das Ihnen offensichtlich angeborene „Michelin-Kritische“! Natürlich muss, darf und kann man alles kritisch hinterfragen, aber das bei all den positiven Entscheidungen des gestrigen Tages bei Ihnen wieder mal nur Ihre Lieblingsaufreger hängenbleiben, das ist doch wirklich irreführend und irritierend! Wer sind denn diese sogenannten Branchwnkenner die Ihnen zur Seite springen, wenn es um Ihren Liebling Wissler geht, bei dem ich nach seiner „Besinnungspause“ deutlich unreifer und geschmacklich blasser gegessen habe, als es vor der aus meiner Sicht absolut richtigen Streichung des 3. Sterns war! Warum liest man nichts darüber dasder Michelin ein herausragendes Talent in der Mühle in Schluchsee nicht quälend lange warten ließ und das z. B. auch ein TV-Liebling der seit Jahren die fast gleiche langweilige und eintönige Karte, wie übrigens oft auch eindimensionale und brachial gewürzte, aber selten finessenreiche Gerichte hat, nicht vor einer Abwertung geschützt ist! Na wir werden uns sicher noch zu weiteren Nettigkeiten hören und lesen….
Lieber/liebe MK, ich bin Journalist und bemühe mich immer um kritische Distanz. Die habe ich dann übrigens auch über das veröffentlichte Maß hinaus. Ich habe darauf hingewiesen, dass ich ein paar Punkte erwähnen will und nicht nur – wie es quasi die gesamte Presse tut – die Michelin-Daten völlig unkritisch übernehmen will. Wissler war vor der Pause/Arbeitsphase so, dass ich hier bei eat-drink-think ausführlich kritisiert habe, dass man bei Michelin diesen Stil nicht verstanden hat, Das habe ich in vielen Details gemacht. Ich fand seine. Arbeit damals sehr, sehr gut und im übrigen auch sehr fortschrittlich. Seinen. Stil nach Änderung fand ich anders, aber nicht schlechter. – Die weiteren von Ihnen angesprochenen Köche kann man natürlich ebenfalls breit diskutieren…versteht sich von selber. Im Moment schien mir dieser Text so richtig, wie er jetzt es.
Lieber M.K.
Auf nur einen Punkt ihrer Kritik möchte ich eingehen. Der Koch der Mühle Schluchsee hatte bei unserem letzten Besuch leider nur das Talent in jedem Gericht zu viel Salz und in jeder Sosse Miso zu verwenden was einen total überwürzten Einheitsgeschmack in jedem gericht ergab. Er war bei unserem vorletzten Besuch auf einem deutlich besseren Weg.
Die „Kenner“ in Bezug auf Wissler müssten Sie mal benennen. Ich war seit dem Verlust 2x dort und kenne auch niemanden, der das aktuelle Schaffen bei klaren 3 Sternen sieht. Gerade im Vergleich mit anderen (auch internationalen) Dreisternern (man denke an Bartolini, Mazzia oder Donckele, aber auch Hartwig und Natmessnig). Einzelne Gänge durchaus, aber vieles schmeckt einfach nicht gut genug.
Lieber Peter W., es sind echte Kenner, und sie erzählen mir auch sehr genau, wenn etwas nicht so gut ist oder es Formschwankungen gibt. ich verstehe Ihren Kommentar aber durchaus. Das ändert nicht die Tatsache, dass man diesen Fall wirklich diskutieren sollte.
Gruß JD