Wie untauglich das Bewertungssystem des Guide Michelin sein kann, und wie sehr es geradezu Desinformationen verbreitet, kann man nirgendwo sonst so gut erkennen wie bei Nils Henkel und dem „Bootshaus“ im Hotel „Papa Rhein“ in Bingen. Ganz abgesehen davon beschäftigen sich die Pressemeldungen zum neuen Guide Michelin in vielen deutschen Zeitungen und Online-Portalen in scheinbar völliger Unkenntnis der Lage eher mit dem Verlust der zwei Sterne in Henkels ehemaligem Restaurant auf Burg Schwarzenstein und mit keinem oder kaum einem Wort mit seinen Leistungen im „Bootshaus“. Hier erst einmal der aktuelle Text von der Michelin-Website zum „Bootshaus“:
Das Restaurant des Lifestyle-Hotels „Papa Rhein“ verbindet geschmackvollen maritimen Vintage-Look mit guter, frischer Küche, z. B. als „Kabeljau in der Kartoffelkruste mit Balsamico-Gemüselinsen und Pistou“. Toll der Blick auf den Rhein und die umliegenden Weinberge – da lockt im Sommer die herrliche Terrasse!
Sie werden zustimmen, dass das mehr nach Frauenzeitungs-Journalismus, Abteilung „Wo kann man denn schön sitzen und lecker essen“ klingt (wenn ich das einmal so überspitzt formulieren darf) und keineswegs auch nur nach dem Versuch, die Arbeit von einem der besten deutschen Köche zumindest annähernd zu erfassen. Es klingt außerdem so, als ob noch nie jemand von Michelin dort gewesen sei, weil man eine solche Charakterisierung auch schreiben kann, ohne das Restaurant zu betreten. Tatsächlich war aber durchaus ein Michelin-Tester im „Bootshaus“ und die Online eingesetzten Fotos sind auch bei diesem Essen entstanden. Dass das Ergebnis des wie immer sehr knappen Essens (die meisten Michelin-Tester essen im Gegensatz zu anderen Kritikern oft nur 3 Gänge) dennoch so banal klingt, muss enttäuschen. Im übrigen – das noch zusätzlich nebenbei – essen die Michelin-Leute offensichtlich ungern reine Gemüsegerichte, die allerdings bei Henkel, einem der besten deutschen Gemüsespezialisten, stilprägend sind.
Nils Henkels Arbeit im „Bootshaus“ bringt die herkömmlichen Bewertungssysteme an ihre Grenzen
Das „Problem“ im „Bootshaus“ ist eines, dass die Gäste, die dort tatsächlich sitzen, oft überhaupt nicht haben. Sie essen, was sie bestellen und freuen sich gegebenenfalls über die überragende Qualität.
Möglicherweise kommen sie auch überhaupt nicht wegen irgendwelcher Bewertungen, sondern weil sie irgendwo Gutes gehört haben und das einmal selber ausprobieren wollen. Möglicherweise sind sie auch nur zufällig dort und differenzieren beim Essen nur wenig – vielleicht zwischen „ja, ganz gut“ oder „ist o.k.“. – Je mehr man über solche praktischen Gründe für Besuche und Einschätzungen redet, desto irrelevanter werden natürlich die Führer, deren Relevanz andererseits vor allem bei einer eher überschaubaren Zahl von Höchstinteressierten und Köchen zu finden ist. Was schwerer wiegt, ist da schon die flächendeckende Berichterstattung in den Medien. Hier wird abgedruckt, was herausgegeben wird – entweder von Michelin selber oder zum Beispiel von der dpa. Eigene Recherche findet dort kaum jemals statt, man berichtet auch ohne Kenntnisse, weil Michelin und Co. einfach irgendwie für wichtig gehalten werden. Man möchte wetten, dass eine Fake-Pressemeldung, nach der Michelin fünf deutschen Drei-Sterne-Restaurant den dritten Stern entzogen hätte, gute Chancen hätte, in weiten Teilen der deutschen Presse abgedruckt zu werden. Aber das nur nebenbei.
Nils Henkel kocht im „Bootshaus“ Gerichte, die man mit einem Bib, einem Stern, zwei Sternen oder unter Umständen auch drei Sternen bewerten könnte. Dazu eine kleine Anekdote. Ich hatte „Kalbsfilet & Bäckchen, Lavendeljus, Grüner Spargel und Kartoffelpüree“ (30 Euro) bestellt und bekam ein Filet-Zubereitung, die mich sofort an Dieter Müller erinnerte. Das ganze Gericht schmeckte sehr gut, ohne jede Macken, zuverlässig und absolut mehrheitsfähig. Später fragte ich Henkel dazu und brauchte nur eine kleine Geste zu machen. „Klar“, sagte Henkel, „das ist die Pochiertechnik mit Kräutern von Dieter Müller. Er hat damals für solche Gerichte drei Sterne bekommen. Ich habe das jahrelang bei ihm so gekocht.“
Henkel mischt im „Bootshaus“ munter Stücke aus seiner eigenen Vergangenheit – auch aus der mit zwei Sternen bewerteten Arbeit auf Burg Schwarzenstein. Henkel weist darauf hin, dass er auch Gerichte 1:1 macht, zum Beispiel bestimmte Gemüsekompositionen wie etwa „Grüner Spargel, Soja, Miso, Umeboshi“ (18 Euro). Ich habe bei meinen Essen eine ganze Reihe von Gerichten probiert und musste selbstverständlich zu dem Schluss kommen, dass es sich hier um einen Mix aus Gerichten handelt, die man wahrlich nicht über einen Kamm scheren kann. Ihre Qualität ist immer gut, oft aber eben auch so hoch, dass sie ohne weiteres Teil eines mit einem oder mehreren Sternen bewerteten Restaurant-Programms sein könnten. Wie lässt sich so etwas erfassen?
Die Michelin-Zwickmühle
Wie eigentlich immer in solchen Fällen fallen die Bewertungen bei Michelin schwächer als die Realitäten aus. Es ist ein wenig so, als ob man im Zweifel das schwächste Gericht als Maßstab nimmt. Ich habe – das ist dann die umgekehrte Logik – im Laufe der Zeit vielen aufstrebenden Köchen gesagt, dass jedes einzelne Gericht zwei Sterne wert sein muss, wenn man denn zwei Sterne bekommen will, unter anderem deshalb, weil die Tester immer so wenig essen. Mittlerweile haben sich die Zeiten aber sehr geändert. Es gibt viele Köche, die ein „Casual“-Format anbieten und dabei nicht darauf achten, ob sie Gerichte im Programm haben, die – sagen wir: Bib-Qualitäten haben oder eigentlich „Sterneküche“ sind. In vielen Restaurants, in denen Casual Fine Dining angeboten wird, gibt es immer wieder auch Gerichte, die Sterne wert sind.
Michelin kommt mit seinem starren System da nicht weiter. Es gibt 5 Stufen, also Erwähnung, Bib, 1, 2, 3 Sterne und selbstverständlich muss in vielen Restaurants eine Art Mittelwert gebildet werden. Es dürfte normal sein, wenn in einem Sternerestaurant auch einmal etwas unterhalb des Sterne-Niveaus stattfindet, gleichzeitig aber auch Gerichte existieren, die besser sind. Wenn man allerdings bei Kurzmenüs von drei Gängen bleibt, wird – schon statistisch gesehen – Fehlerhaftes programmiert sein. Früher hat man bei Michelin darauf verwiesen, dass es Karteien gibt und man schließlich die Restaurants oft schon jahrelang besucht und entsprechend viele Daten hat. Heute aber fallen die Entscheidungen über Sterne oft schon sehr schnell. Da entstehen also auch auf diese Weise schnell statistische Schwächen und möglicherweise „schiefe“ Bewertungen.
Das Problem ist die Starrheit des Systems, das Setzen auf Symbole und nicht auf Erläuterungen. Warum geht man nicht hin und sagt im Falle von Nils Henkels „Bootshaus“: „Das Niveau ist immer gut. Es gibt aber auch Gerichte, die ohne weiteres einen oder zwei Sterne wert sind.“ Würde man sich da selber ad absurdum führen?
Ich finde: nein, ganz im Gegenteil. Ein solcher, erkennbarer Ausdruck einer differenzierten kulinarischen Wahrnehmung (die sich natürlich kaum mit Vorspeise, Hauptgericht und Dessert ergeben kann) würde ein wesentlich sympathischeres, aber auch ernsthafteres Bild der Michelin-Arbeit vermitteln. Man würde souverän wirken und nicht wie Leute, die mit ihrer Aufgabe allzu oft nicht zurecht zu kommen scheinen. Allerdings scheint man dazu aber auch sprachlich oft einfach nicht in der Lage zu sein.
Man könnte sich für die Zukunft – vor allem auch im Zusammenhang mit der verstärkten Online-Aktivität – vorstellen, dass sich der Kern der Aussagen bei Michelin in Richtung von Texte verschiebt und die Auszeichnungen zusätzlich „on top“ kommen. Das würde dann auch helfen, neue gastronomische Formate wie das „Bootshaus“ nicht irgendwo im Graubereich zu lassen, sondern auch hier sinnvoll zwischen Küchen und Gästen zu vermitteln.
Ich finde dieses ewige Gekritele an den Führern total überflüssig. Als Benutzer muss man wissen, dass so ein Führer nur eine grobe Orientierung bietet, weil sich a) Vieles schnell ändert, b) die eigenen Maßstäbe immer von denen anderer unterscheiden, c) die Bewerter häufig zögerlich sind, notwendige Veränderungen durchzuführen und d) nicht schnell genug sein können in gedruckten Werken, neue Stätten aufzunehmen. Also was tun, wenn man nicht reinfallen will oder einfach nur in einer unbekannten Gegend gut essen will? Voll umfänglich informieren. Wozu gibt es elektronische Medien, die die o.g. Nachteile ausgleichen? Ich glaube nicht, dass jemand heutzutage nur noch in gedruckte Führer schaut, oder wenn, dann selbst schuld. Trotzdem sind sie nützlich, und unser Erstblick landet immer dort, was daran liegt, dass wir mit Büchern aufgewachsen , also älter sind. Dann folgt Recherche: was halten andere von diesen Urteilen, ist dem zu trauen? Was hat sich neu getan? Aber so verhält man sich als Verbraucher doch gegenüber allen Produkten. In unserer komplizierten Welt weiß man ja nie, wie Urteile zustande kommen, worauf sie basieren, wer sich wie durchgesetzt hat. Auch die Stiftung Warentest wird von uns konsultiert, aber ihre Urteile kritisch beäugt. Man nennt das den kritischen Verbraucher. Wir bewegen uns in einem Umfeld von Urteilen über alles und jedes und sind doch daran gewöhnt, Urteile untereinander abzuwägen?
Lieber Herr Dollase,
vielen Dank für Ihre ausführliche und anregende Stellungnahme zu den Praktiken des Guide Michelin. In diesem Kontext möchte ich das Augenmerk auf einen speziellen Aspekt der aktuellen Ausgabe legen und würde mich freuen, wenn Sie dieses Thema in einem weiteren Beitrag behandeln, da es u.a. in unserem Gourmet-Freundeskreis diskutiert wird:
Meine Freunde und ich haben erhebliche Zweifel an der Validität und Grundlage der Bewertungen in der Ausgabe 2021. Leider findet man auf den Michelin Webseiten keine Antwort auf folgende wichtigen Fragen:
1) Wie konnten überhaupt alle in Frage kommenden Restaurants in Corona-Zeiten besucht werden?
Insbesondere sollte das ja auch mehrfach geschehen, um ein basiertes Urteil zu fällen,
was im letzten und in diesem Jahr wegen der Restaurant-Schließungen gar nicht möglich war.
2) Von wann stammen die Bewertungen?
Hier wäre eine ehrliche Aussage des Michelin notwendig gewesen. Es wird so getan, als ob es keine
Probleme für die Bewertung gegeben hat und alles so wie sonst auch war.
Andererseits beklagen sich die Gastronomen zu Recht, dass sie geschlossen sind.
Natürlich soll man die Gastronomie in diesen schwierigen Zeiten unterstützen, aber wäre es nicht konsequent gewesen, wenn man den Guide für 2021 einfach hätte ausfallen lassen ?
Meine Gourmet-Freunde und ich sind gespannt auf Ihre Antwort.
interessanterweise arbeiten die michelin-reaktionen in anderen ländern durchaus eher so, wie hier vorgeschlagen wird: der michelin HK zeichnet beispielsweise eine reihne von lokalen mit bibs oder gar stern aus und will diese wertung bewusst für eine ganz spezifische gruppe von zubereitungen in diesem lokal verstanden haben. das heisst dann konkret: dim sum oder entengerichte auf *-niveau, der meist noch erkleckliche rest auf der karte ganz gut, aber auch nicht besser als in andren lokalen. ob das für den gast so eine grosse hilfe ist, wage ich zu bezweifeln, setzt die konkrete einordnung des lokals und die daran gekoppelte „geschickte“ speisenwahl schon wieder quasi insider-wissen voraus, was hier besonders gut und was oke ist. ähnlich vielleicht auch bei henkel, der eine gast fahndet gezielt nach „schwarzenstein“-gerichten, einem anderen ist mehr nach der süffigen klassik der müllerküche, wieder andre gäste wollen „nur“ gut essen oder nur die location geniessen, die küche ist breit aufgestellt und kann einer vielzahl von ansprüchen gerecht werden. das ist lobenswerte flexibilität, aber schwer in michelinkriterien zu erfassen. zumindest noch jetzt.
Der Guide Michelin bewertet in der Tat jedes einzelne Gericht. Dies erhält eine Punktzahl, mit einer Tendenz nach oben oder auch unten. Da wir aber (offiziell) nicht wissen, was die Inspektoren bestellen (nehmen sie ein ganzen Menü, oder nur einen Teil davon, dazu ein a la Carte Gericht, oder NUR – wenn möglich – a la Carte).
Dazu sollte man wissen, dass es einen erheblichen Unterschied macht, aus welcher Karte bestellt wird. Haben wir gerade im Top-Segment jedesmal erlebt. Es gibt auch Köche, die wenn Auswärts Essen gehen – nur a la Carte bestellen. Des Weiteren wissen wir nicht, was im Hintergrund läuft, oder hier gelaufen ist. Es kann durchaus sein, dass Herr Henkel hat durchblicken lassen, dass er gar nicht mehr in irgendeiner Form in dem Buch erscheinen will – unabhängig, ob man sowas überhaupt äußern kann und Beachtung findet, oder auch nicht.
Ich habe in persönlichen Gesprächen von einigen Köchen erfahren, wie und was in solchen Telefonaten mit dem Guide Michelin (die öfters stattfinden) kommuniziert wird. Und darüber kann man sich auch ab und zu mal wundern.
Ich persönlich denke, dass das gesamte System auf den Prüfstand gehört, viel öfter auch bei den Bewertungen drauf gepackt werden muss, aber auch einige zügiger Abgestuft gehören. Das, was der Guide Michelin immer kommuniziert – Bewertung gilt nur für ein Jahr – hat ja noch nicht wirklich funktioniert.
Was also Nils Henkel und sein Team (das ist entscheidend) betrifft, können wir nur spekulieren, weshalb da beim Guide Michelin bewertet wurde, wie wir es heute im Falle des Bootshaus sehen.
Nur soviel: Herr Henkel könnte von jetzt auf gleich wieder ins Büchlein rein, aber vielleicht will er das einfach nicht mehr.
Es ist aus bekannten Gründen ein schwieriges Jahr für die Gastronomie – und eben auch für den Guide Michelin, der sich zudem im Umbruch befindet. Da kann man nachsichtig sein und stumm bleiben. Besser ist es, wie durch Jürgen Dollase geschehen, auf die besondere Könnerschaft von Nils Henkel hinzuweisen, die man sicher auch in dessen „einfacheren“ Gerichten schmeckt. Das hat G.M. allerdings versäumt. Und, man erinnert sich: 2008 übernahm Henkel die Küchenleitung im Schloßhotel Lerbach. Gault Millau kürte ihn im gleichen Jahr zum „Koch es Jahres“, Guide Michelin zwickte den dritten Stern weg. Vermutlich haben die Michelin-Inspektoren, wie Dollase es andeutet, doch grundsätzliche Probleme mit „Pure Nature“, der produktfokussierten Hochküche von Nils Henkel. Auch damit rechtfertigt Dollase seinen Ruf, einer der wichtigsten Gastrosophen des Landes zu sein …
Lieber Herr Dollase,
vielleicht akzeptieren Sie auch einfach nur, dass sich Herr Henkel mit der neuen Position zwei Nummern „kleiner“ gesetzt hat. Das ist ja nicht unehrenhaft. Die Bewertung des Michelin ist vor diesem Hintergrund in Ordnung und ausreichend infornativ. Weitere Informationen bekommt der interessierte Gast problemfrei auf der website des Hauses.
Da ja die Beendigung der Arbeit auf „Burg Schwarzenstein“ auch finanzielle Gründe gehabt hat (s. Pressemitteilung der Burg Schwarzenstein), war es vielleicht nicht einfach, kurzfrisitg wieder einen Sponsor für eine Zwei-Sterne-Küche zu finden. Von den persönlichen Präferenzen von Herrn Henkel ev. mal ganz abgesehen.
Dass Herr Henkel in seiner neuen Position auch Zubereitungen und Gerichte aus seiner vorherigen Arbeit verwendet, die sich von Aufwand und Kosten gut ins neue Konzept fügen, ist nur verständlich. Die Ambitionen gehen aber sicher in eine andere Richtung.
Ihre mediale Unterstützung für Herrn Henkel ist daher freundlich, würde aber auch vielen anderen Köchen zu wünschen sein.
Ich wünsche Herrn Henkel, da ich selbst Gastronom bin, recht viel Erfolg!
Bon courage!
Irgendeinen vergleichbaren Massstab zum Vergleich muss man ja nehmen! Und da finde ich es richtig, dass man das schwächste Gericht ranzieht.
Aber die Idee, der ausführlichen Kommentierung finde ich gut!
Mit so einer Bemerkung „Das Niveau ist immer gut. Es gibt aber auch Gerichte, die ohne weiteres einen oder zwei Sterne wert sind“ weiß jeder Erfahrene, wie er zu wählen hat, wenn er auf Nummer sicher gehen will.