Bei uns in Deutschland hat man den 38-jährigen Mathieu Pacaud kaum „auf dem Schirm“. Insofern könnte der ein oder andere Besucher einer guten französischen Buchhandlung ratlos vor diesem mehrere Kilo schweren Monsterwerk stehen und sich wundern, wieso denn da jemand etwas in dieser Ducasse-und-Alléno-Dimension veröffentlichen kann, der bei uns bei weitem nicht deren Namen hat. Des Rätsels Lösung liegt natürlich im Nachnamen „Pacaud“, der auf Bernard Pacaud verweist, den schon legendären Senior-Chef des „L’Ambroisie“ am Pariser Place Vosges, auf eines der teuersten Restaurants der Welt und dazu eines, in dem ein Maximum an Produktqualität mit einem Maximum an handwerklichem Können und viel Foie Gras, Trüffel und Kaviar zusammenkommen. Das hat Mathieu natürlich verinnerlicht und außerdem ist er seit etlichen Jahren auch Küchenchef im „L’Ambroisie“. Anders als sein Vater treibt es den Sohn allerdings auch noch weiter um. Dass er ein Buch mit diesem nicht gerade bescheidenen Titel auf den Markt bringen kann, hat etwas damit zu tun, dass er mittlerweile ein kleines gastronomisches Imperium besitzt, zu dem auch das berühmte Fischrestaurant „Le Divellec“, das bekannte Gourmetrestaurant „Apicius“ und weitere Adressen in Paris, in der Provinz und in Macau gehören. In diesen unterschiedlich konzipierten Küchen sind natürlich jede Menge an Rezepten notwendig, die nun die Basis für dieses Buch bilden. Die Konkurrenz in diesem Großmeister-Fach ist in Frankreich beträchtlich: Alain Ducasse, Yannick Alléno, Joel Robuchon oder Guy Martin (um nur einige zu nennen) haben schon ähnliche Werke geschrieben.
Das Buch
Man kann nicht umhin, dieses Buch von Mathieu Pacaud mit dem in goldenen Farben gehaltenen „L’Ambroisie“ von Vater Bernard aus dem Jahre 2012 zu vergleichen. Die Rezepte in diesem beeindruckenden Buch sind so gnadenlos französische Luxusküche, dass man bei der Lektüre immer wieder schmunzeln muss. Gleichzeitig sind sie aber auch so puristisch und klar entwickelt, dass sie Bernard Pacaud eine Ausnahmestellung verschafft haben. Ganz so extrem geht es bei Mathieu – trotz des Rezeptes auf dem Titel – nicht zu, weil er eben ganz unterschiedliche Rezepturen braucht, die zu den unterschiedlichen Restaurant-Formaten passen.
Die Gliederung geht dann aber nicht auf die verschiedenen Formate ein, sondern hält sich an die alphabetische Reihenfolge der Hauptprodukte. Unter A finden sich also Agneau, Anguille, Araignée de mer, Artichaut, Asperge, Aubergine, unter L Langouste, Langoustine, Lapin, Légumes, Lieu Jaune, Lièvre, Limande, Linot und Lotte, darunter fünf Rezepte mit Languste und acht mit Langustine. Vom Lamm unter A gibt es gleich 17 Rezepte von diversen Teilen – von den „Lammnüsschen aus Lozère mit Barigoule von Artischocken und Zitrusfrüchten“ über das „Lamm mit Nusskruste, Steinpilzen und weißen Trüffeln“ bis zu einer Lammvariation mit Kräutern und Blüten. Hier und auch im weiteren Verlauf der durchgehend klassisch präsentierten Rezepte fällt immer wieder eine gewisse Ähnlichkeit mit Alain Ducasse und eher weniger die Nähe zu Vater Bernard auf.
Was immer eine Rolle spielt, ist die Interpretation klassisch-französischer Rezepte. Zum Beispiel bei „Artischocke und Foie gras Facon Mère Brazier“, also nach Art der berühmten Lyonnaiser Sechs-Sterne-Köchin (kein Druckfehler, sie hatte zwei Restaurants mit jeweils drei Sternen…) Mère Brazier). Das Gericht ist ein Ausbund an klassischem Geschmack mit eher krokant gehaltenen Artischocken, kalten/rohen Foie gras-Röllchen, Trüffelscheiben und einer mächtigen Trüffelcrème auf der Basis eines Fond blanc. Oder: es gibt einen Wolfsbarsch mit Kaviar und einer Noilly Prat – Emulsion mit einem runden Fischmedaillon, einer dicken Schicht Kaviar obenauf und der Emulsion mit ein paar kleinen Stückchen Dill. Oder: den Lièvre à la Royale mit süß-sauren Navets, aber vor allem einer Sauce, in der ein Löffel stehen kann.
Mathieu Pacaud ist ein durch und durch französischer Koch. Das bedeutet für dieses Buch, dass man weder größere spanische noch italienische weder asiatische noch skandinavische Einflüsse von Belang erkennen kann. Wer andererseits die Entwicklung der französischen Spitzenküche in den letzten Jahren verfolgt hat, wird immer wieder Bezüge erkennen können. Die Köche im Lande befassen sich eben weitgehend mit den eigenen Vorbildern, die ja schließlich in der Gesellschaft des Landes eine große Wertschätzung erfahren. Da braucht man einfach nicht über die Grenzen zu sehen und sich von dort irgendwelche „Schwierigkeiten“ einhandeln. Und so geht es an das „Schweinefilet mit Aprikose und Blumenkohl-Taboulé“, an ein „Croustillant vom Kalb mit einem Bärlauchcoulis und konfierten Kartoffeln“, an ein „Tartelette von alten Tomatensorten“, an Filets von Felsenrotbarben mit einer Variation von Erbsen“ oder auch einmal dezent asiatisch an eine Taube mit gemischten Nüssen und Trockenfrüchten und kurz gebratenem Pak Choi.
Handwerklich dominiert französische Großmeister-Kochtechnik, die sich in den Rezepten bei diversen Meistern ihres Faches manchmal fast formelhaft liest. Aber – das ist eben die Folge einer über viele Jahre entwickelten Technik, die niemand leichtsinnig oder in Anflügen von kulinarischem Größenwahn einfach ändert. Man kann die Rezepte also nicht mal eben mit der linken Hand realisieren, sondern nur immer präzise und aufwändig nach den Regeln der Kunst, die hier ganz klar noch vollständig ihre Gültigkeit besitzen. Wer sich darin auskennt, wird dieses Buch als eine Wohltat empfinden. Wer diese Techniken nicht beherrscht, wird sie sich wohl erst einmal aneignen müssen – zum Beispiel mit Hilfe einer großen Anzahl von Basis-Rezepten am Ende des Buches.
Fazit
Man sollte drei Sterne im Prinzip nur für Bücher vergeben, die auch einen guten Schritt nach vorne tun. Insofern wäre es schwierig diesem Buch die Höchstwertung einzuräumen. Mathieu Pacaud ist kein revolutionärer Kreativer, und seine Erfindungen halten sich in den engen Grenzen einer Art fortgeschriebenen Kreativität, die also ohne wirkliche Neuigkeiten auskommt und sich darauf beschränkt, kreative Akzente etwa durch ungewöhnliche Kombinationen zu setzen. Andererseits muss man einfach sehen, dass hier ein großer Koch und Praktiker am Werk ist, der mit seiner „Cuisine gastronomique, Volume 1“ (was noch folgt, ist im Moment noch nicht klar) ein Handbuch für Gastronomen abgeliefert hat, die auf sehr hohem Niveau arbeiten wollen und können. Insofern ist dieses Buch auch ein sehr gutes Lehrbuch und eines von der Art, in dem man stundenlang stöbert und eine Art entspannter Inspiration bekommt.
Und weil es hier mit rund 800 Rezepten von hohem und höchstem Niveau eine Menge Material gibt, gibt es auch die Höchstnote.
Das Buch bekommt 3 grüne BBB
Lieber Herr Mihm,
ja, das kommt vor und zwar sogar eher regelmäßig. Ich würde auch niemals Buch und Restaurant gleichsetzen, sondern bestenfalls zu einem Besuch des Restaurants nach der Lektüre neigen. Der extremste Fall in dieser Hinsicht war für mich Michel Brae, dessen Bücher ich Wort für Wort studiert habe. Für mich war im Buch (das zweite, große) vor allem die Sensorien unglaublich interessant. Ich habe danach gearbeitet (ohne die Rezepte zu kopieren) und fand das wegweisend. Leider war im Restaurant gerade die Sensorik eine mittlere Katastrophe. Ich hatte den Eindruck, als ob man in der Küche in Laguiole die Sache einfach nur „aus dem Bauch heraus“ angeht und die tatsächlichen Perspektiven der eigenen Arbeit gar nicht überschaut hat. Trotzdem ist das Buch nach wie vor sehr gut.
Das Problem ist leider, dass es in den Restaurants von Mathieu Pacaud meist einfach nicht besonders gut schmeckt(e), sondern oft plump und schwer. Kein Vergleich zum L’Ambroisie. Hexagone und Histoires mussten ja auch bald wieder schließen. So haben wir hier ein schönes Beispiel für den Unterschied zwischen Theorie und Praxis.