Magnus Nilsson: Fäviken. 4015 Days, Beginning to End. Phaidon, London/New York 2020. 324 S., geb., Hardcover/Ganzleinen, Amazon-Vorbesteller Preisgarantie ca. 38 Euro (in englischer Sprache)

Für viele Hardcore-Gourmets war es ein Schock, als Magnus Nilsson im letzten Jahr ankündigte, er werde sein schnell weltweit berühmt gewordenes Restaurant „Fäviken Magasinet“ im schwedischen Fäviken am 14. Dezember 2019 schließen. Nilsson (geb. 1983) hat schon in jungen Jahren und mit seltener Konsequenz ein Avantgarde-Konzept realisiert, das für Furore sorgte, weil er den skandinavischen Nova Regio – Ansatz so konsequent umsetzte wie keiner sonst. Ob er überhaupt „Avantgarde“ im Sinn hatte, kann übrigens durchaus diskutiert werden, weil es ihm im Prinzip vor allem um eine radikal lokale Küche ging, die durch die besonderen Umstände in Fäviken eine avantgardistische Außenwirkung erzielte.

Vorab noch einmal etwas zu den bisweilen etwas verdreht wiedergegeben Fakten. Nilsson hat eine beträchtliche Spitzenküchenerfahrung durch eine jahrelange Arbeit bei Pascal Barbot im „L’Astrance“ in Paris – also bei einem Koch, der schon früh mit einem radikalen Minimalismus gearbeitet hat und jahrelang zu den modernsten französischen Köchen zählte. Nach seiner Zeit in Paris wollte sich Nilsson eine Auszeit nehmen und half Freunden in einem Weinrestaurant in Fäviken. Das „Fäviken Magasinet“ existierte damals schon als Restaurant mit stark regionaler Prägung und viel Wild im Angebot. Als man dort keinen neuen Chefkoch fand, übernahm Nilsson das Restaurants mitsamt einem riesigen Areal mit Feldern, Wald und einem Stück See und begann zügig, sich auf die lokalen Produkte und ihre Möglichkeiten zu konzentrieren. Dabei spielte eine Rolle, dass man in Fäviken wegen der Witterung nur etwa ein halbes Jahr lang mit frischen Produkten arbeiten kann. Die andere Hälfte wird üblicherweise mit Produkten bestritten, die in irgendeiner Weise haltbar gemacht werden, also etwa in Salz eingelegt, getrocknet, gepökelt, fermentiert oder eingekocht. Es ist klar, dass dieser Ansatz zu dieser Zeit wie das I-Tüpfelchen auf den Bemühungen anderer Köche wirkte, die auch lokal bis regional orientiert waren, dabei aber nicht die Radikalität an den Tag legten, wie Nilsson sie praktizierte. Das Ganze dauerte schließlich 4015 Tage. In seinem neuen Buch schreibt nun Magnus Nilsson die Geschichte dieses Restaurants.

Das Buch
Grundsätzlich fällt erst einmal auf, wie hoch das Reflexionsniveau bei Magnus Nilsson ist. Er hat buchstäblich detailliert über alles nachgedacht, was rund um seine Arbeit und mit ihm passiert, und das in einer lockeren, klaren Weise. Dass die Medien aus aller Welt bei ihm Schlange standen und er zu den ganz wenigen Köchen gehört hat, über die wirklich weltweit berichtet wurde, kommt nicht von ungefähr. Man spürt förmlich, wie im „Fäviken Magasinet“ jeden Tag stundenlang über die Küche und die Ernährung allgemein diskutiert wurde. Wer sich unter den Köchen also fragen sollte, warum er nicht auch nur annähernd eine ähnliche Aufmerksamkeit bekommt, sollte nicht nur bei der spektakulären Stilistik dieser Küche suchen, sondern auch bei der Person und dem, was sie zu sagen hat.

Nilsson beginnt mit einer lückenlosen Aufstellung aller Gerichte, die je im Restaurant serviert wurden, also vom „Gerösteten Markknochen vom Elch mit einer Scheibe vom rohen Elchherz, dünn geschnittenem Kohl, Toast und Kräutersalz“ bis zu den „Gegrillten Karden mit fermentierten Beeren und Getreidesauce“. Das ist natürlich prächtig und verschafft einen klaren Überblick über das, was man wirklich ein „Werk“ nennen muss – wie in der Kunst. Das weitere Buch hat keine besonders zwingende Gliederung, sondern befasst sich mit einer Reihe von Einzelaspekten, die in die beeindruckende Reihe von Rezepten eingeflochten sind.

Die Themen sind z.B.: „Wie man sich um einen Apfelbaum kümmert“, „Warum Fäviken wirklich geschlossen werden musste“ (Nilsson war einfach „fertig“. Wie zum Beispiel auch bei Sergio Herman war ihm der anhaltende Erfolg und Druck – bei gleichzeitiger Vernachlässigung aller anderen Sachen wie etwa des Familienlebens – zu viel geworden. Die kreative Arbeit in der Küche passte zu seiner Persönlichkeit, das Drumherum nicht). Es geht weiter mit „Ja, ich habe eine Familie“, „Haute Cuisine“, „Spitzenküche braucht Spitzenprodukte“, „Spitzenküche braucht Spitzenhandwerk“, „Ich koche für Dich“, „Über Kreativität“, „Kreative Abfolgen in der Kochkunst, Plagiate und die DNA der Gastronomie“, „Die Heuchelei von der Nachhaltigkeit in Restaurants“ usw. bis hin zu „12. Mai 2020“ mit dem Ende des „Beobachtungszeitraums“ und der Ankündigung, dass er – falls er jemals wieder das Gefühl bekommen sollte, ein Restaurant zu eröffnen, keine Sekunde zögern werde, das auch zu realisieren. Aber – es gäbe eben auch noch viele andere Dinge im Leben.

Das Alles ist sehr interessant zu lesen und gibt Einblicke, die eben nicht dadurch gefiltert sind, dass da ein Koch für die Leute auf der Straße schreiben will. Im Kern stehen trotzdem die Rezepte, die hier glücklicherweise ausführlich kommentiert werden. Diese Kommentare sind ein besonderes Plus, weil sie natürlich im Zusammenhang mit der markanten Stilistik und Kreativität der Küche wichtige Informationen bringen. Und Nilsson liefert, reichlich und klein gedruckt. Man bekommt quasi zu allen Rezepten die Geschichte ihrer Entstehung oder die Gründe, warum bestimmte Zubereitungsformen oder Kombinationen zum Einsatz kamen. Das hier sichtbare Bemühen um Dokumentation der eigenen Arbeit ist zudem kein abgehobenes Gerede, sondern eine echte „down-to-earth“ Beschreibung der Arbeit. Auch Ferran Adrià ist ja ein großer Dokumentierer, der z.B. Hefte besitzt, in denen er jede Änderung in einem Menü an jedem Abend (etwa wenn Vegetarier Sonderwünsche hatten) aufgeschrieben hat. Adrià aber schien immer ein weltweites Publikum im Visier gehabt zu haben. Nilsson beschreibt vor allem seine Arbeit – ein wenig im Ton seiner Generation, der ja oft Starallüren im alten Stil weitgehend unbekannt sind, und die sich deshalb von den Starköchen alter Prägung sehr deutlich unterscheiden.

Magnus Nilsson hat in diesem Buch auch einige Passagen aus seinen anderen Büchern benutzt, um den Zusammenhang herzustellen. Die Rezepte aufzulisten, macht in dieser Rezension wenig Sinn, sie sind den Interessierten ja weitgehend bekannt. Dennoch verblüfft in der Summe nach wie vor die Klarheit, Radikalität und Konsequenz.

Fazit
Ein solches Buch ist nichts für normale Kochbuchfreunde, sie werden sich nicht durch diesen massiven Wald an Informationen durcharbeiten können. Es ist aber so etwas wie eine Pflichtlektüre für alle diejenigen Leser, die die Kochkunst in ihrer ganzen Größe und Weite im Auge haben. Für sie wird dies eines der besten kulinarischen Lesebücher sein, das es in der kreativen Küche je gegeben hat, ein Musterbeispiel dafür, wie intensiv man sich mit der Kochkunst auch als Koch und Kreativer befassen kann. Dabei ist Magnus Nilsson keineswegs ein Intellektueller, der sich in die Kochkunst verirrt hat, sondern ganz einfach ein sehr, sehr guter Koch, der sich voll und ganz auf sein Fach eingelassen hat, mit Haut und Haaren, mit großer Intelligenz, ohne links und rechts zu schauen, aber immer in die Tiefe gehend und bis es ihm in Form des Restaurants zu viel wurde. Ich kenne einen deutschen Koch, bei dem Ähnliches passieren könnte bzw. hätte passieren können. Aber dazu später einmal mehr.

Das Buch ist natürlich für die erwähnte Zielgruppe eine klare Pflichtlektüre. Es bekommt ganz, ganz locker 3 grüne BBB und eine dringende Kaufempfehlung.

Fotos © Phaidon Verlag

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