Die neue Ausgabe des berühmten spanischen Gastronomie-Kongresses „Madrid Fusión“ ist abgewickelt und setzt eindeutige Tendenzen. Obwohl man in Spanien schon seit Jahren eine deutlich stärkere regionale Orientierung pflegt, als das bei uns der Fall ist, geht es nun noch einmal stärker auf Umwelt und Nachhaltigkeit. Der Bericht in dem spanischen Informations- und Presseportal „Foods and Wines from Spain“ formuliert für Madrid Fusión 2021 als Schlüssel-Komponenten folgende fünf Punkte. Ich erläutere und kommentiere.
1. Eine Gastronomie, die sich der Umwelt verpflichtet fühlt
Selbstverständlich ist dies ein schöner Schwerpunkt, der üblicherweise immer die Tendenz hat, ein wenig wie die Beteuerungen der Bio-Szene zu klingen, also kulinarisch unspezifisch zu sein. Zumindest bei uns in Deutschland ist dies häufig so. In Spanien wird er allerdings vor allem mit einer sehr modernen bis avantgardistischen Küche verbunden, die üblicherweise nicht im Focus der Bio-Bewegung steht. Man muss sich dabei vor Augen halten, dass Spanien ein gigantischer Erzeuger von Gemüse und anderen Lebensmitteln ist, die oft auch außerhalb der Saison die Regale unserer Supermärkte füllen und qualitativ auch schon einmal gerne kritisiert werden. Davon ist man in der Spitzenküche natürlich weit entfernt, beginnt aber stärker als bei uns, auch gastronomische Formate zu realisieren, die in die Nähe des täglichen gastronomischen Bedarfs kommen. Die Vorreiterrolle der kreativen Küche für die Küche der Zukunft bekommt hier bereits eine deutlich andere Strahlkraft, als das etwa bei uns der Fall ist. Wenn die besten Köche nicht nur von ihren verwendeten Produkten sondern auch von der Machart ihrer Küche her zu Vorbildern werden, ist das eine sehr gute Entwicklung. Eine Küche, die die Verbindung von avantgardistisch-kreativem Denken und einer neu interpretierten Regionalität (Nova Regio Küche) im Fokus hat, muss einfach auch immer daran arbeiten, populär zu werden.
2. Die Wiederbelebung von Produkten, die dabei sind, zu verschwinden und die Förderung der Beziehung zu Produzenten und Lieferanten
Ein weiterer gut klingender, bereits weit verbreiteter Vorsatz, der im Idealfall allerbeste kulinarische Qualitäten hervorbringen kann, aber in der Realisierung sehr schwierig ist. In Spanien verrät das Programm vieler Spitzenrestaurants eher, dass man im ersten Teil dieses Forderung schon beträchtliche Fortschritte gemacht hat. Die Verwendung aller möglichen Teile von Tieren oder Pflanzen in der Spitzenküche hat in Spanien schon eine Art neue Tradition. Vor allem Köche wie Quique Dacosta oder – für den vegetarischen Bereich – der kürzlich hier besprochene Xavier Pellicer scheinen Freude daran zu haben, auch mit einfachsten Produkten, selten genutzten oder vergessenen Produkten ein neuartiges kulinarisches Erlebnis zu realisieren.
Beim Kongress in Madrid zog vor allem Eneko Atxa vom „Azurmendi“ viele Besucher an, weil er in seltener Konsequenz beide Aspekte bedient. Seine Produkte kommen von Erzeugern, die in maximal 30 km Entfernung vom Restaurant arbeiten, er nutzt alle Teile von jedem Produkt und betreibt in dieser Richtung geradezu Forschung. Sein Restaurant vermittelt mit den diversen Räumlichkeiten für spezielle Vorhaben, Demonstrationen und Ausstellungen unbedingt einen Eindruck von kulinarischer Zukunft unter ganzheitlichen Aspekten. Der Eindruck, dass Spitzenköche wie Eneko Atxa nicht nur Geschäfte machen wollen, sondern ein ganz bestimmtes Konzept von Küche verfolgen, ist selten irgendwo so ausgeprägt zu erleben wie im „Azurmendi“.
3. Hervorhebung der Restaurants „Aponiente“ und „Disfrutar“ als ganz besonders innovative Plätze
Die beiden Restaurants sind schon seit Jahren eine Speerspitze der Bewegung. Das Drei-Sterne-Restaurant „Aponiente“ von Angel León in Cadiz vor allem wegen seiner quasi ausschließlichen Verwendung der lokalen Meeresfrüchte. Das „Disfrutar“ in Barcelona gehört zu den typischen „Nach-El Bulli-Restaurants“, die eine nach wie vor sehr technisch innovative Küche mit der Regionalität verbinden. Beide Restaurants gehören in den oben erwähnten High-End-Bereich. In beiden ist die Küche im Grunde komplett anders als in anderen Ländern, mit minimalen (wenn überhaupt) klassischen Spuren und einem Geschmack, der sich weitgehend an den neuen spanischen „Traditionen“ orientiert
4. Hervorhebung von Wein als einem Thema, das aktueller ist denn je
Die Diskussionen in der Weinwelt laufen schon längere Zeit in eine ähnliche Richtung wie bei den Köchen, haben aber – sagen wir: keinen ganz so effektiven und evidenten Output. Während – zumindest bei den Freuden kreativer Küche – die Produkte der kreativen Köche schon weitgehend als allerhöchste Qualität gesehen werden, fehlen einfach noch viele Weine, die neuartig oder wiederbelebt sind (also etwa die spontan vergorenen) und gleichzeitig so überzeugend, dass sie in den Mittelpunkt der Betrachtung auch der Weinfreunde im engeren Sinne treten. Das könnte sich zum Beispiel ändern, wenn die Verbindung Wein und Speisen stärker als ein genuines Fach gesehen wird. Hier nämlich eröffnen sich großartige Perspektiven für innovative oder ungewöhnlichere Weine, hier kann der Wein als Mitspieler glänzen und inszeniert werden, spezifisch an ein spezifisches Essen gekoppelt, als eine singuläre Erfahrung und eben weitgehend von der selektiven Preisgestaltung der Spitzenweine traditionellen Typs befreit.
5. Preise und Auszeichnungen
Zu den in Spanien traditionell vielen Auszeichnungen muss man nicht viel sagen. Wichtig ist vielleicht, dass der Best Chef Award gleich an insgesamt acht Köche ging, die sich wegen ihrer nachhaltigen Arbeit besonders verdient gemacht haben, darunter Andoni Luis Aduriz und der oben schon einmal erwähnte Xavier Pellicer. Der Nachwuchspreis plus zwei weitere Preise gingen an Javier Sanz und Juanjo Sahuquillo vom „Canitas Maite“, einem Hotelrestaurant in Casa-Ibanez, etwa 80 km westlich von Valencia.
Ich darf vielleicht im Zusammenhang mit diesem Thema darauf hinweisen, dass sich in meinem Buch „Pur, präzise, sinnlich“ von 2017 ein kompletter theoretischer und praktischer Rahmen für eine ganzheitliche Gourmandise findet, und das von der täglichen Küche bis zur Spitzenküche.
Fotos © Foods an Wines from Spain/Madrid Fusion
Glückliches Spanien! Während man sich hierzulande (mit wenigen Ausnahmen) noch in internationalem Mainstream übt und avantgardistische Strömungen arrogant als Blendwerk oder Hype abtut, ist man dort schon weit voraus. Interessant ist der Punkt „Wein“. Im Gegensatz zu dem hier Behaupteten hat sich dort einiges getan. Mich wundert es schon seit langem, dass die in skandinavischen Avantgarderestaurants ausschließlich servierten natural wines bislang in hiesigen Besprechungen gänzlich unerwähnt bleiben. Bieten sie doch eine vorzügliche Begleitung gerade zu Nova Regio Gerichten und eröffnen durch ihren nur minimalen Schwefeleinsatz ebenfalls völlig neue Geschmackserlebnisse. Ihr ungewöhnlicher Geschmack und das mitunter ausschließliche und alternativlose Angebot in einigen Spitzenrestaurants mag allerdings so manchen Gast und mutmaßlich Michelin-Tester abschrecken.Gleichwohl finden diese Weine in Städten mit einer lebendigen Avantgardeszene auch in Mittelklasse-Restaurants eine immer größere Verbreitung, so dass man von einem weniger „effektiven output“ eigentlich nicht sprechen kann.