Olivier Canal: Lyon. Mon p‘tit bouchon. 100 Recettes Lyonnaises à souhait. Portraits, produits & autres joyeusetés. Éditions de La Martinière, Paris 2024. 384 S., Hardcover, 45 Euro (in französischer Sprache)
Nein, ich bin jetzt nicht auf einem Retro-Trip, sondern eher auf der Suche nach möglichst authentisch erhaltenen Traditionsküchen. Dahinter steckt auch keineswegs eine Abkehr von der Moderne und Avantgarde, sondern – durchaus im Zusammenhang mit meiner Arbeit für das sich hervorragend entwickelnde Geschmacksarchiv an der Sächsischen Landesbibliothek – Staats – und Universitätsbibliothek in Dresden – eine veränderte Sicht auf historische und/oder traditionelle Formen der Küche. Man hat sich leider daran gewöhnt, dass die Kochkunst sehr ahistorisch gesehen wird. Vor allem Kulturwissenschaftler (die ja meist nicht unbedingt viel mit der Kochkunst im engeren Sinne zu tun haben) vermitteln den Eindruck, als ob jede Ausprägung der Küche („Kulturtechnik Kochen“ genannt) vor allem von der jeweiligen Zeit bestimmt sei, also – etwas vereinfacht und in heutigen Kategorien gesprochen – als ob Küche immer mehr oder weniger Mode ist. Wenn man so denkt, nimmt man natürlich Vieles nicht wirklich ernst. Und nicht präzise wahr. So, wie der Vorgang des Essens als im höchsten Maße vergänglich gilt (was natürlich nur sehr teilweise stimmt), hält man auch die Kochkunst insgesamt für eine kaum fassbare Erscheinung. Ich habe vor, dieses Bild zu verändern und werde in naher Zukunft auch die entsprechenden Theorien und Texte dazu vorlegen können. So gesehen wird klar, dass man vor allem dann besonders interessiert ist an Quellen ist, wenn es um Formen der Küche geht, die eine hohe vertikale Stabilität haben, also nicht nur traditionell sind, sondern in ihrer Art auch noch hochgradig authentisch bleiben konnten.
Die Bedeutung solcher Küchen ist dann auch nicht die von irgendeinem Vorläufer oder Irgendetwas, das noch nicht das Niveau der Arbeit von heute hat. In der Kochkunst als überzeitliches Kontinuum (diesen Begriff benutze ich in meiner Kontinuum-Theorie) ist es nicht wie zum Beispiel in der Leichtathletik, wo es – zumindest in einem Zeitraum, in dem das Training der Disziplinen erst noch richtig entwickelt werden musste – Leistungen gab, die heute ohne Wenn und Aber messbar übertroffen werden. Es ist auch nicht so wie etwa beim Bau von Fahrzeugen, wo die traditionellen Fuhrwerke heute selbst den schwächsten Wagen von heute in ihren Leistungen weit unterlegen sind. In der Kochkunst ist es eher so, dass zu bestimmten Zeiten bestimmte Dinge entwickelt wurden, die aber nicht unbedingt später verbessert oder „überholt“ wurden. Niemand wird heute – ein weiterer Vergleich – anzweifeln, dass die wenigen Bilder von Jan Vermeer oder anderen Künstlern früherer Jahrhunderte von einer gerade aus heutiger Sicht sagenhaften handwerklichen Qualität sind. Das wiederum hat sehr viel mehr mit der Kochkunst zu tun: glaubt wirklich jemand, dass die luxuriösen Essen in den Grandhotels der Belle Epoque schwächer waren, als Essen heute? Dass autokratische Herrscher mit riesigen Küchenbrigaden nur irgendwelche Grobheiten servieren ließen?
Man muss vor diesem Hintergrund die Kochkunst anders denken – vor allem so, dass man immer und immer wieder von ausgezeichneten Köchen jeder Zeit lernen kann oder es sich immer wieder lohnt, dorthin zu blicken, wo Geschmacksbilder von großer Überzeugungskraft entstanden sind und immer noch entstehen.
Das Buch
Und da kommt dann Olivier Canal ins Spiel, der nicht nur Chef des Lyonnaiser Bouchons „La Meunière“ ist, sondern auch noch Präsident der Assoziation der Lyonnaiser Bouchons, jener oft kleinen Bistros, die mit großer Konsequenz die Küche der Region pflegen. Und diese Region ist für viele Kenner schon seit vielen Jahren nicht nur so etwas wie die Brutstätte der „Michelin-Küche“, sondern auch das zweite kulinarische Zentrum des Landes nach Paris, wobei es auch Leute gibt, die es für das erste halten, weil es hier sehr viel authentischere Zusammenhänge als etwa in Paris gibt. Olivier Canal ist nicht umsonst Vorsitzender der Vereinigung, weil sein Programm vom ersten bis zum letzten Gericht eine außergewöhnlich klare Linie zeigt. Er hält sozusagen eine Linie der Bodenständigkeit/Rustikalität, und das ohne dass man das Gefühl hat, er würde irgendwo forciert arbeiten. Seine Linien sind außergewöhnlich klar bei den Ausgangsprodukten und der gradlinigen Begleitung, die ohne jede Einschränkung zur Sache kommt, die weder Butter noch Sahne noch Fett noch Mehlschwitzen scheut, sondern einen traditionellen Wohlgeschmack par excellence anstrebt. Insofern sind die Rezepte meist kurz, wirken aber immer so, als ob hier jemand ganz genau wüsste, was er zu tun hat.
Das „Grosse côte de cochon du Pilat, sauce charcutière“ ist so ungefähr das Gegenteil von unseren anämischen Kotelett-Fassungen. Bei den „Saucisson de Lyon à cuire et pommes vapeur“ habe ich zufällig gerade ziemlich frische Erinnerungen, weil ich das Produkt in Frankreich selber verarbeiten konnte. Ich kam dabei aus, die Wurst anzubraten damit sie fester wird, dann in Scheiben zu schneiden und von der Pelle zu befreien, damit sich besonders viele Röstnoten bilden. Dazu die besten Noirmoutier-Kartoffeln, einzelne Salatblätter (mit einer speziell feinen Säure aromatisiert) und natürlich kalte Butter – ebenfalls die beste. Seine Fassung geht da einen auffällig ähnlichen Weg. Man muss anscheinend bei bestimmten Dingen da auskommen, wo es irgendwie automatisch hingeht. Dann ist es gut. Alle seine Füllungen und Terrinen und Ähnliches wirken bestechend, der Quenelle de Brochet kommt natürlich mit Sauce Nantua und sonst nichts, und immer wieder wird auch die Nähe zu Paul Bocuse erkennbar, wobei sie vor allem bei den bekannten Klassikern groß ist.
Die „Caillettes de volaille aux queues d’écrevisse et pieds de cochon“ wirken nicht nur wunderbar klassisch, sondern auch wie eine große Anregung, mit dieser Idee zu „spielen“. Bei der „Ballotine de pintade au foie gras“ ist man schon nah daran ins Buch zu beißen und ahnt, dass das gradlinige Rezept irgendwie bei weitem nicht alles ist, sondern der nicht notierte Teil der Vorbereitung und Zubereitung eine große Rolle spielen wird – ganz unabhängig davon, dass manche Rezepte eben dringend einen Hinweis darauf bräuchten, wie sie denn schmecken sollen. Das „Blanquete de veau“ hat solche Details, deren Wirkung man schnell übersieht, die aber das Rezept ausmachen. Und selbstverständlich gibt es auch seltene Dinge wie das Lammhirn „meunière“.
Auch in diesem Buch geht es um Lieferanten, Produkteure, Winzer usw., und selbst der berühmte Chocolatier Bernachon kommt vor. Nur – hier passt es, wirkt glaubhaft, es ist so, es funktioniert so, es ist tägliches Geschäft, hier ist das ganze System aufeinander bezogen und die Tradition eine immer und überall spürbare Grundlage des Ganzen.
Ein sehr anregendes Buch. Ein echter Schmöker, eine Medizin, ein Grund, bessere Saucen zu machen, ein Grund die Röstnoten bewusster einzusetzen, ein Grund, die Produkte kompletter sprechen zu lassen und sie nicht in Miniaturen zu verwandeln. Und so weiter und so fort. In Frankreich hat man jedenfalls immer noch eine ganze Reihe von Leuten, die so etwas können und ein Publikum, das so etwas unterstützt. Ob man unsere Regionalküche in dieser Art „rustikalisieren“ könnte, ist eine schwierige Frage. So etwas wird ja hin und wieder versucht und kommt dann am Ende doch nur wieder wie kulinarischer Nippes daher.
Irgendwo sagt Olivier Canal, er habe sich immer gewünscht, ein Buch über seine Küche zu schreiben, habe sich aber dann immer gesagt, das sei nur etwas für die „Grands Chefs“. „Andererseits“, fährt er fort, „was ist denn eigentlich ein Grand Chef?“
Na ja, irgendwie ist er genau das.
Leider kann ich mit Büchern in Französisch nichts anfangen 🙁