„Guten Morgen Herr Unterweg, Polizei Köln. Ein silberner Opel Corsa C ist auf ihren Namen zugelassen, ist das richtig?“, begrüßte mich eine nüchterne, aber dennoch freundliche Frauenstimme am Sonntagmorgen. Wieviel Uhr war es überhaupt? „Ja, das ist richtig…“, antwortete ich und mein Herz begann bereits im Kopf zu hämmern. „Herr Unterweg, ihr Auto ist heute Nacht in eine Straftat verwickelt worden“, führte die Polizistin weiter aus.
Mein Auge begann zu zucken und unweigerlich kamen mir die obskursten Gedanken. Mein Auto wurde aufgebrochen und für einen Bankraub entwendet. Ich beobachtete den Corsa in einer wilden Verfolgungsjagd und einem Schusswechsel mit zwei Streifenwagen. Diesen Gedanken konnte ich schnell wieder verwerfen, als ich mich daran erinnerte, dass der Wagen nur 60 PS hatte und an der Ampel nicht wirklich aus dem Quark kam. Ich stellte mir vor, wie das Auto von einem multinationalen Verbrechersyndikat entwendet und schließlich im Kölner Rheinauhafen in Brand gesetzt wurde. Ein jämmerliches, kaum wahrzunehmendes „Oh oh…“, entglitt meinem Mund inmitten einer erschrockenen Maske.
„Herr Unterweg, sind Sie noch dran?“ „Ja, ja. Tut mir leid. Können Sie etwas konkreter werden?“, horchte ich nach.
„Ich versuche es. Es hat ein Fall von Vandalismus stattgefunden und ich würde Sie bitten, zu meinen Kollegen in der Brückenstraße zu gehen, wenn sie irgendwie können.“ „Vandalismus? Können Sie vielleicht noch konkreter werden?“, mein Auge zuckte derweil so heftig, dass ich mir mit der flachen Hand dagegen schlug – was auch immer ich damit bezwecken wollte, außer, dass meine plötzlich auftretende Migräne verschlimmert wurde. „Ich sitze hier in der Zentrale und soll sie nur informieren. Es könnte sich um eingeschlagene Scheiben, aufgestochene Reifen, abgebrochene Spiegel und ähnliches handeln. Bevor ich Sie weiter beunruhige, würde ich Sie bitten, das Fahrzeug selbst in Augenschein zu nehmen.“
Als ich auflegte, hatte ich das Gefühl, dass mir etwas Magensaft in den Mund gewandert war. Unangenehme Sache, was? Aber vielleicht sollte ich noch etwas früher beginnen. Oktober 2015. Ich war wieder einmal mit meiner Freundin auf einem Antikmarkt gewesen und hatte fleißig für unsere neue gemeinsame Wohnung eingekauft. Das Highlight des Tages war ein Spiegel. Es war kein echtes antikes Stück, aber er war solide verarbeitet und mit einem goldenen Holzrahmen eingefasst. Ein Schnäppchen war es obendrein – acht Euro hatte der Mann auf dem Campingstuhl dafür haben wollen. Wir brauchten gar keinen Spiegel – aber sich ein solches Angebot entgehen lassen? Als wir den VW Bus abgestellt hatten, packten wir alles, was wir gekauft hatten zusammen, klemmten es uns unter die Arme und verstauten es in Tüten. Nur für den kleinen Spiegel war kein Platz mehr da. Ich wollte ihn im Auto lassen, ihn später holen. Als wir alle neuen Dinge aufgestellt, uns an unseren Schnäppchen erfreut und darauf ein Glas Wein getrunken haben, blieb der Spiegel im Bus zurück, zwischen Fahrer- und Beifahrersitz geklemmt und wurde schließlich vergessen. Als ich zwei Tage später meine Schwester besuchen wollte, ging ich zum vermeintlichen Parkplatz des Busses. Ich stand vor einer leeren Parklücke und war etwas verdutzt. Zugegeben, oft bin ich mit den Gedanken schon ganz woanders. Insgesamt hatte ich circa acht Plätze, an denen ich parkte. Diese fuhr ich meist hintereinander ab und einer von diesen war immer frei. Ich ging also zum nächsten, weil ich glaubte, mich geirrt zu haben. Als ich beim vierten Platz angekommen war, machte sich ein flaues Gefühl in meinem Magen breit. Ich merkte, dass ich schneller ging und als die acht Plätze abgelaufen waren, ging ich weitere ab, an denen ich irgendwann einmal geparkt hatte. Aus dem flauen Gefühl war eine Gewissheit geworden. Ich ging wieder zum ersten Platz zurück, als ob ich den Bus dort nun vorfinden würde, in die Hände klatschen und sagen würde: „Helge, Helge, was für ein Schreck, du hast ihn einfach übersehen. ÜBERSEHEN, den 2,5 Tonnen schweren Koloss, kann sich das einer vorstellen?“
Doch nichts war dort, als ich wiederkam. Eine noch immer leere Parklücke, die schon bald einem anderen Auto Platz bieten sollte. Mit Tränen in den Augen zückte ich mein Handy. „Polizei Köln“, meldete sich eine Stimme am anderen Ende prompt.
„Guten Tag, Unterweg mein Name. Ich muss mein Auto als gestohlen melden…“.
Geknickt saß ich in meinem Ohrensessel und sah zu, wie der Regen gegen die Scheibe peitschte. Ich hatte einen Kaffee getrunken und meine Gedanken zu ordnen versucht, als mein Handy klingelte. „Herr Unterweg. Polizei Köln. Wir haben eine gute und eine schlechte Nachricht…“ Es war dunkel, als ich mich auf dem Parkplatz der beschlagnahmten Fahrzeuge der Polizei Köln wiederfand. Sie arbeiteten mit einem ADAC Abschleppdienst zusammen, auf dessen Parkplatz ein eigenes Abteil für die Polizei eingeräumt war. Mein Herz hüpfte beinahe, als schon von weitem und im strömenden Regen das Indienblau des VW wiedererkannte. Er sah traurig aus, mit den beiden eingeschlagenen Scheiben. Wieder brannte es in meinen Augen, als ich sah, dass einige Innenraumleuchten zerschlagen und ein heilloses Durcheinander angerichtet worden war.
„Sie können die Kiste mitnehmen, wobei ich Ihnen das in dem Zustand nicht empfehlen würde. Vielleicht kennen Sie ja irgendwen, bei dem Sie das Auto unterstellen können, bis sie neue Scheiben haben.“, überraschte mich ein Mann im gelben ADAC Regenmantel hinter mir. „Nur Arschlöcher machen so etwas…“, sagte er versöhnlich. „Wie gesagt. Nehmen Sie ihn mit. Aber vorher bekomme ich noch 240 Euro von Ihnen. Sie wissen schon. Für das Abschleppen, das einlagern und so weiter.“ Ich warf einen weiteren Blick in das Auto und plötzlich überkam mich ein ungutes Gefühl. Der Spiegel! Der Spiegel war gestohlen worden. Den gepflegten PROXXON Werkzeugkasten (ohne den man keinen Kilometer mit einem alten VW Bus fahren sollte) hatte man dagelassen und anstelle dessen einen auf antik gemachten Spiegel mitgenommen, der einen Marktwert von acht Euro nirgendwo übertreffen würde.
Was Autos angeht, bin ich ein gebranntes Kind. Vandalismus, eingeschlagene Scheiben, ein Auffahrunfall in einem Auto, das erst einen Tag zugelassen war, verursacht durch einen Transporterfahrer der Tetris oder Bubble Popper oder weiß der Himmel was auf seinem Handy gespielt hatte. Immer wenn ich diese Geschichten erzähle, dann bekomme ich zu hören, was ich für ein Pechvogel sei, dass das Glück mir wirklich nicht wohlgesonnen sei und dass es immer mich träfe. Doch soll ich Ihnen etwas sagen? Ich bin ein Glückspilz. Die beiden Fragen, die sie sich gerade stellen kann ich mit einem ehrlichen „Ja“ beantworten. Ja, es ist mein Ernst. Ja, ich habe noch alle Tassen im Schrank. Aber wie wäre es zuerst mit einem Drink?
Für unseren „Lucky Penny“ brauchen wir einen Boston Shaker voller Eiswürfel. Wir geben 3cl Plantation Stiggins Fancy, 3cl Faradai, 1cl Limettensaft, 1cl Zuckersirup und einen Dash Grapefruit Bitters in diesen und schütteln einige Sekunden lang kräftig. Mit einem Hawthorne Strainer wird der Drink in eine vorgekühlte Champagnerflöte abgeseiht.
Immer, wenn ich nach diesen Strapazen heimkehrte, sah ich eine wundervoll eingerichtete Wohnung. Zwei gesunde Katzen kamen mir entgegen und ich konnte mir ein Bier aus einem prall gefüllten Kühlschrank nehmen, oder etwas zu essen. Ich setzte mich in ein gemütliches Sofa und konnte aus dem Fenster in die Kälte blicken. Natürlich hatte ich mich über diese Vorfälle geärgert, doch wenn ich endlich zur Ruhe gekommen war, mit besagtem Drink in der Hand und den Regentropfen auf ihrem Weg an der Scheibe entlang zusah, wurde mir genau dieser Gedanke klar. Ich bin ein echter Glückspilz. Der Bus wurde nicht gestohlen. Er ist nicht in Einzelteilen nach Osteuropa geschafft worden. Der Opel wurde nur leicht beschädigt, Scheibenwischer und Spiegel abgebrochen. Aber was hätte ich getan, wenn ich ein ausgebranntes Wrack vorgefunden hätte? Ich konnte zwei Wochen nicht arbeiten, als mir der Kleintransporter in meinen geliebten Micra gerast ist. Mit ein paar Stundenkilometern mehr wäre ich aber vielleicht in einer Zinkwanne abtransportiert worden, anstelle von einer Trage. Ein Lächeln machte sich auf meinem Gesicht breit, bevor ich mir einen weiteren Schluck dieses Drinks genehmigte. Vielleicht ist das Pech, das uns erspart bleibt einfach das Glück, von dem wir behaupten, dass es uns nicht widerfährt.
Und Glück ist doch immer eine Frage der Perspektive.
In diesem Sinne,
Der heilige Helge
Zutaten bei BOS FOOD zu bestellen: 3 cl Stiggins Fancy (Art. Nr. 45789) • 3 cl Faradai Blütenspirituose (Art. Nr. 48398) • 1 cl Limettensaft (frisch gepresst oder Art. Nr. 29327) • 1 cl Zuckersirup (Art. Nr. 13137) • 1 Dash Fee Brothers Grapefruit Bitters