Lernt essen, nicht kochen!

Die Gastronomie hat Probleme, nach dem Neustart wieder zu einem akzeptablen Geschäftsbetrieb zurück zu finden. Zu den Gründen, die für das Ausbleiben der Gäste genannt werden, gehören bei weitem nicht nur solche, die direkt etwas mit der Corona-Sicherheit zu tun hätten. Mittlerweile wird auch immer wieder ein verändertes Verhalten der Gäste beklagt, die in der Phase des Lock-Downs gelernt hätten, sich auch ohne Gastronomie kulinarisch zu vergnügen. Sie grillen selber, sie kochen selber und haben sich dabei ein Know How und Einkaufsverhalten angewöhnt haben, das für die Zukunft – aus der Sicht der Gastronomie – nichts Gutes verspricht. Man bleibt auch dann vielleicht zu Hause, wenn man wieder essen gehen dürfte.

Was kaum gesehen wird, ist die Tatsache, dass die Köche in Form ihrer TV-Köche selber seit vielen Jahren als Totengräber auftreten. Wenn den potentiellen Kunden der Gastronomie beigebracht wird, dass sie nicht in die Gastronomie brauchen, weil sie ja selber kochen lernen können, schadet das weiten Teilen der Gastronomie. Die einzigen Nutznießer sind dann die TV-Köche. Zu ihnen kommen die Leute natürlich, weil sie mal sehen wollen, was sie in der Praxis machen.

Ich habe das Problem schon im Jahre 2009 in meiner Kolumne „Geschmackssache“ im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aufgegriffen. Der Text fiel mir vor ein paar Tagen wieder ein. Er hat eine erschreckende Aktualität – auch 11 Jahre nach seinem Erscheinen.
Hier ist der Text – nur minimal bearbeitet:

Lernt essen, nicht kochen! (aus: Jürgen Dollase, FAZ-Geschmackssache, 2009)
Es gab gute Gründe dafür, der medialen Forcierung des Hobbykochens und dessen Folgen für das Kulinarische – von einem veränderten Warenangebot bis zur Gastronomie – zunächst zurückhaltend und in der Hoffnung auf positive Transfereffekte zu folgen. Es hätte ja sein können, dass sich eine veränderte Wertstruktur oder eine größere Sensibilität ergibt, die letztlich zu einer qualitativen Verbesserung der Esskultur führt. Nun aber scheint es an der Zeit, einen grundlegenden Paradigmenwechsel ins Auge zu fassen und die vielen negativen Auswirkungen der oberflächlich-hektischen Herdaktivitäten als etwas zu erkennen, das der Sache deutlich mehr schadet als nützt.

Die Bilanz ist ernüchternd. Die oft erwünschte Nähe des Hobbykochs zur besseren Küche wird mehr und mehr zu einer Fiktion. Weil die Medien weitgehend unsystematisch arbeiten, ergibt sich kein wachsender Sockel an Kenntnissen, sondern immer mehr Oberflächlichkeit. Laien beherrschen oft nach wie vor nicht einmal die harmlosesten Grundtechniken, wie etwa eine zuverlässig zarte Garung für alle Fleischsorten. Dieser Stagnation gegenüber steht eine sich sprunghaft entwickelnde Kochkunst, deren Rezepte von Laien, die die Entwicklung meist überhaupt nicht mitbekommen haben, buchstäblich nicht mehr verstanden werden.

Ein besonderes Problem ist mittlerweile in der Gastronomie das vermehrte Auftreten eines klassischen Hobbykünstlersyndroms. Der trügerische Glanz der Eigentätigkeit mit einigen kleinen Anfangserfolgen lässt Laien oft jedes Maß verlieren. Immer wieder klagen Köche über durchmediatisierte Besserwisser und Besserkönner unter den Gästen, die das alles natürlich zu Hause besser hinbekommen und sich fragen, warum sie den eigentlich in ein Sternerestaurant gehen sollen. Sie erinnern in ihrer ganzen Verblendung an Hobbykünstler, die partout nicht erkennen wollen, dass ihre Van Gogh-Kopie ein ästhetisches Grauen ist und mit der Qualität des Originals aber auch gar nichts zu tun hat.

Dass heute Lidl, Aldi, Netto und Co. den Schulterschluss mit der Gourmandise suchen, ist ein Ergebnis der neuen, oberflächlichen kulinarischen Geschwätzigkeit. Locker wird mit Balsamessigen, mehreren Sorten Olivenölen, Himalayasalz oder Chorizo hantiert, wohlwissend, dass man dem hysterisierten Medien-Gourmet keine gute Qualität vorsetzen muss, sondern die Sache sich mehr in Signalen und Symbolen abspielt. Wie es um die Qualität steht, kann er ja ohnehin nicht erkennen. Drei Sterne-Koch Dieter Müller zum Beispiel provoziert bei Lidl mit einer groß angelegten Werbeaktion den Kurzschluss, dass man mit Lidl-Produkten – darunter auch allerlei Tiefkühlware – sozusagen Drei Sterne-Küche kochen könne. Hier wird an einem Haus ohne Statik und Fundamente gearbeitet, vor allem deshalb, weil man den alles entscheidenden Geschmack und die damit verbundene Möglichkeit zur Entwicklung von Qualitätsvorstellungen medial nicht vermitteln kann.

Den Kern einer lebendigen kulinarischen Kultur mit einer für weitere Entwicklungen erfolgversprechenden Struktur bildet das reflektierte Schmecken und die möglichst gut entwickelte Fähigkeit differenziert essen zu können. Ein entwickeltes Geschmacksbild mit der Möglichkeit Produkte und ihre Qualitäten zu identifizieren und sensorische Zusammenhänge wahrzunehmen, ist das Merkmal, das auch bei den besten Köchen die Spreu vom Weizen trennt. Ein hervorragender Koch ist vor allem jemand, der eine entwickelte Geschmackvorstellung besitzt. Alles andere, also vor allem die von Laien so fetischisierten handwerklichen Elemente, lassen sich auch ohne viel Talent und im Prinzip von fast jedem erlernen. Das entwickelte Geschmacksbild bringt den Meister dazu, im ständigen Wechselspiel mit seinen Kreationen den Punkt des besten Geschmacks zu treffen, zu sagen, wann es genug oder zu wenig ist. Dass er über die handwerklichen Mittel zur Umsetzung seiner Konzepte verfügt, ist – so komplex dies auch sein mag – eine nachgeordnete Funktion.

Der Laie kocht oft ohne eine tragfähige geschmackliche Vorstellung. Er delegiert die Geschmacksentscheidung an ein Rezept, tut dies aber in der Fehlannahme, dass dies automatisch zu einem guten Ergebnis führt. Tatsächlich ist die Anzahl der Variablen in einem Rezept aber so groß, dass das Ergebnis quasi zufällige Züge trägt. Gibt man das nämliche Rezept einem Profi mit entwickeltem Geschmack, wird er klar entscheiden können und eine gute Lösung finden. Die Praxis setzt den Laien zudem so unter Druck, dass er schnell die notwendige Distanz zum Objekt verliert. Verstrickt in handwerkliche Unzulänglichkeiten wird der Geschmack zweitrangig und damit ein auch nur annehmbares Resultat unwahrscheinlich.

Das systematische Erlernen der geschmacklichen Wahrnehmung sieht völlig anders aus und beruht gerade auf dem konsequenten, ausgesprochen stark objektivierenden Reflex auf die Wahrnehmung. In hierarchisierter Form beschrieben geht es darum, die geschmackliche Wahrnehmung zu öffnen und auszuweiten, dann sie zu intensivieren, über den Geschmack und die eigene Wahrnehmung zu reflektieren und schließlich neue geschmackliche Wahrnehmungen zu initiieren. Geschieht dieses Erlernen konsequent, vermittelt es auch schnell Erkenntnisse über noch vorhandenen Grenzen und Möglichkeiten der Wahrnehmung – mit der dann wirklich erwartbaren Transferleistung für den eigenen Konsum, und damit – und nur auf diese Weise – auch für eine qualitativ strukturierte kulinarische Kultur. Nebenbei bemerkt ist dieser sensibilisierte Umgang mit Essen und Geschmack eine Leistung, die ohne weiteres auch Nicht-Köchen möglich ist und durchaus im Range einer wertvollen kulturellen Betätigung gesehen werden kann. Beginnt man, sich mit einigem Erfolg irgendwie in diese Richtung zu entwickeln, lohnt auch wieder der Griff zu Kochmesser und -löffel. Dann auch mit einiger Aussicht auf Erfolg.

Soweit der Text von 2009. Der Appell muss also lauten: Geht essen, lernt schmecken, lernt die grandiose Welt der guten Küche kennen. Jetzt erst recht, weil Ihr es sonst verlernt und Euch noch weiter in den Untiefen des Hobbykochens verstrickt!

5 Gedanken zu „Lernt essen, nicht kochen!“

  1. Idioten und Rechthaber gibt es doch immer und überall. Viel mehr sollte man sich doch daran erfreuen, dass offenbar immer mehr Menschen Gefallen daran finden, sich wirklich mit dem auseinanderzusetzen, was sie in ihren Töpfen und auf ihren Tellern sehen und schmecken wollen.
    Und die Welt ist in der Sternegastronomie längst nicht mehr so rosa, wie man uns glauben machen will. Auch dort kommen immer mehr Convinienceprodukte zum Einsatz, die uns dann als „im Haus mit grösster Sorgfalt und Liebe kreiert und zubereitet“ aufgetischt werden. Das finde ich deutlich peinlicher als einen Gast, der glaubt die Welt erklären zu müssen. War es nicht Paul Bocuse selbst, der mit Dosenfutter warb?
    Zuletzt ist es auch eine Geldfrage und je nach Familienstand auch die Frage danach, ob man mit Kindern jüngeren Alters überhaupt erwünscht ist. Und da wird man eben kreativer und mutiger und macht viele Dinge vielleicht nicht so, wie es ein Profi gelernt hat. Um so dankbarer bin ich für die ungezählten Beiträge im World Wide Web. Denn lernen kann man immer, wenn man offen bleibt und ich selbst nicht als Deutungshoheit verkennt.

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  2. Welch ermüdende (sich wiederholende) Diskussion!
    Mein Vater war von Beruf Bäcker, Konditor und Koch und hatte den Traum eines eigenen Restaurants, was er, da meine Mutter schwerst krank war, nicht realisieren konnte. Ich bin mit „Essen und Trinken“ und tagelangen freudigen „Kochorgien“ meines Vaters aufgewachsen. Damals schon (mit ca.10 Jahren) habe ich die Restaurantkritiken von Herrn Dollase mit Begeisterung gelesen. Das war vor ca. 35 Jahren…? Ich habe mir viel von meinem Vater abgeschaut und habe, nachdem er viel zu früh starb, nach Kochbuchanleitungen gekocht. Viele Jahre nur das, was ich kannte. Durch die modernen Medien mit ihren Kochsendungen, Warenbestellservices (wie z.B. Boos-Food) oder auch „Kochboxen“ wurde ich experimentierfreudiger. Habe interessante Geschmackskompositionen kennen gelernt und ausprobiert. Bin schließlich wieder bei Herrn Dollase bei „Eat-Drink-Think“ gelandet und auf das (inzwischen digital erhältliche) Kochbuchwerk von Escoffier, von dem jener in diesen Tagen schrieb, gestoßen. Habe nun nach dem Rezept von Escoffier meine erste Krustentierglace hergestellt- was ich mir vorher nie zugetraut hätte. Ich bin fasziniert, wie aus zwei Litern Flüssigkeit ein kleines Gläschen Geschmackserlebnis entstehen konnte!
    Natürlich messe ich mich nicht mit den Könnern des Fachs. Aber ich zeichne auch gerne, obwohl ich keine Malerin bin, gärtnere gerne, obwohl ich keine Gärtnerin bin….Warum dieser Standesdünkel? Wenn jeder nur das machen dürfte, in dem er professionell ausgebildet ist, dürfte niemand ein Hobby haben.
    Ich hochachte das Können der großen und manchmal auch kleinen Köche und versuche mit den mir gegebenen Möglichkeiten, etwas davon zu lernen.
    Natürlich muss man bescheiden bleiben. Aber je mehr und freudiger ich koche, umso mehr weiß ich die Arbeit der professionellen Köche zu würdigen, freue mich umso mehr, in ein gutes Restaurant zu gehen und die ein oder andere Idee mit nach Hause zu nehmen.

    Hochachtungsvoll
    Jessica Schäfer, München

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  3. Ich finde die ganze Argumentation höchst befremdlich. Kochen und essen findet primär zuhause statt. Für uns ist das Essen im Restaurant genussvoller Überbau, eine Auszeit, etwas Gelegentliches. Das eigene Kochen derart zu entwerten und als stümperhaft darzustellen, finde ich anmaßend. Ich würde mir nie erlauben, so über die Bemühungen meiner Mitmenschen zu urteilen. Dass Lebensmittelketten auf die Gourmetschiene aufspringen, hat mit deren Marketing zu tun und missfällt mir, weil ich dahinter viel Schein vermute. Der Umgang damit bleibt dem Verbraucher überlassen. Ich sehe mich auf allen Feldern da grundsätzlich in der Defensive, nicht nur im kulinarischen Bereich. Es ist ein Merkmal unserer Zeit, mit Superlativen im Konsumerbereich bombardiert zu werden, und den Umgang damit muss man ebenso lernen wie den geschickten Umgang mit Messer und Gabel. Es ist quasi eine Kulturtechnik.
    Sich vernünftig und genussvoll zu ernähren, lernt das Kind in der Familie. Das kann natürlich genauso scheitern wie alles andere, und mir sind Familien lieber, die zuhause was bruzzeln als solche, bei denen positive Geschmackserlebnisse nur außerhalb des Hauses stattfinden. Was wird das dann für ein ärmliches Ernährungsleben?
    Ich profitiere übrigens von dem einen oder anderen Fernsehkoch. Von dem einem mehr als von dem anderen. Das würde mich nicht davon abhalten, in seinem Restaurant zu essen, eher im Gegenteil. Und selbstverständlich kommt ein Alltagskoch nicht an die Spitzenleistung der einschlägigen Gastronomie heran, wie auch? Das sind völlig verschiedene Felder. Problematisch ist doch nur der Gast, der das nicht unterscheidet. Schlichthirne und Besserwisser sterben halt nicht aus, sind aber höchstens ein Ärgernis für den Koch, mit dem er klarkommen muss. Jedes Business hat so seine Drawbacks.
    Übrigens gehe ich zu Corona Zeiten nicht in Restaurants. Mir tun die Chefs zwar leid wegen ihrer Existenznöte, aber mir schmeckt es einfach nicht, wenn ich Leute mit Mundschutz um mich habe und ich mich mit Fremden in einem Raum befinde, Stichwort Aerosole.

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    • „Und selbstverständlich kommt ein Alltagskoch nicht an die Spitzenleistung der einschlägigen Gastronomie heran, wie auch?“

      Ja, natürlich ist das so, aber lesen Sie den Text doch bitte noch einmal – (zu) viele wissen das nicht und wähnen sich im Besitz von Fähigkeiten eines Berufskochs. Hier wird auch nicht generell das häusliche Kochen abgewertet, sondern darauf hingewiesen, dass dies (zu) oft mit unzulänglichen Mitteln geschieht und die Ergebnisse daher zu stark schwanken. Wo ist da die Anmaßung, wenn eine Tatsache beschrieben wird?

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  4. Lieber JD,
    wie könnte ich Ihnen jemals nicht recht geben. Nur ein paar Anmerkungen:
    Wer da meint, er könne von einem Fernsehkoch kochen lernen, der möge das tun. Am besten noch von Clemens Wilmenrodt. Und die Zahl der Sterneköche, die mittlerweile als drittes Standbein eine Kochschule betreiben ist Legion, geschweige die ungezählten Kochbücher, die sie auf den Markt bringen – Zielgruppe? Daß die Discounter Aldi und Lidl zu den Feiertagen eine „Goumetlinie“ fahren sei ihnen doch gegönnt. Interessant ist jedoch, daß die Lieferanten der gehobenen Gastronomie, genannt seien nur Frischeparadies, Deutsche See oder Bosfood, an den Hobbyköchen besser verdienen als an der Gastronomie (Auch wenn sie der Gastronomie dadurch bessere Konditionen bieten können).
    Der Gast muß wieder ein unverkrampftes Verhältnis zur Spitzengastronomie gewinnen, da sind jetzt die Gastronomen der jungen Generation gefordert.

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