Prolog: Wie meine Restaurantkritik entsteht. Wenn ich aktuell Restaurantkritiken zum Beispiel für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung schreibe, gibt es eine recht große Transparenz. Als einzige Zeitung in Deutschland drucken wir seit mittlerweile rund 20 Jahren die Belege der Besuche ab. Wann ich was gegessen habe, kann man üblicherweise diesem Beleg entnehmen. Aus der Sicht eines Statistikers gesehen ist das eine im Vergleich zu vielen anderen Restaurantbewertungen sehr zuverlässige Basis. Üblicherweise schreibe ich auch nicht darüber, was es hier ansonsten gibt, nicht darüber, was es hier früher schon einmal gegeben hat oder dass es gerade nicht so besonders gut ist, weil seit zwei Wochen ein neuer Koch am Herd steht. Außerdem esse ich in der Regel fünf Gerichte à la carte, was mehr ist als das, was viele Restaurantführer ihren Bewertungen als Stichprobe zugrunde legen. Die Stichprobe ist also vergleichsweise korrekt. Dass ich ein routinierter Kenner der Szene bin, der das Ganze schon sehr lange macht, kommt dann unter diesen Aspekten noch dazu – wobei ich mich immer bemühe, möglichst frisch und unvoreingenommen an ein Essen heranzugehen. Die Leistungen und die Stilistik werden aufgrund dieser Stichproben eingeordnet. Und wenn ich etwas im Detail positiv oder negativ einordne, gebe ich in der Regel auch die Begründung dafür.
Natürlich gibt es immer eine ganze Reihe von Punkten, die die Gültigkeit einer solchen Aussage begrenzen können. Wenn der Küchenchef wechselt oder das Konzept des Restaurants geändert wird, kann die Kritik schnell überholt sein. Oder: ich kann bei der Auswahl der Gerichte wenig repräsentativ vorgehen und zum Beispiel nur eher klassische oder nur eher kreative Gerichte auswählen. Oder: ein Kritiker arbeitet hochgradig parteiisch (wie das oft bei neuen, kreativen Restaurants vorkommt), macht das aber nicht transparent. Im Grunde gilt also die Momentaufnahme eines Restaurantbesuches ganz allgemein so lange, wie sich dort nicht viel ändert.
Ich erläutere meine Arbeit an dieser Stelle aber nicht deshalb, weil ich demonstrieren will, wie vergleichsweise korrekt sie ist, sondern weil ich diese Praxis unter statistischen Aspekten mit der Praxis der Weinbewertung vergleichen möchte.
Fragen über Fragen. Unter statistischen Aspekten gesehen sind Weinbewertungen sehr wenig aussagekräftig
Das, was wir bei den meisten Weinbewertungen bekommen, ist so pauschal und undifferenziert, dass man sich fragt, welchen praktischen Nutzen es überhaupt haben kann. Im Grunde geben die Bewertungen – unabhängig davon, was sie eigentlich aussagen (könnten) – meist nur eine grobe Orientierung. Die in der Regel zu hohen Bewertungen bleiben dann allerdings im Handel auf ewig und alle Zeiten mit dem Wein verbunden. Heute trinken viele Leute keine bestimmten Weine mehr, sondern einen 90er, 93er oder 88er (womit nicht Jahrgänge, sondern Punkte gemeint sind), die man dann auch schon bei Discountern und in Getränkemärkten bekommt – von allerlei international – sagen wir: aktiven Punkteverteilern.
Die Bordeaux-Bewertungen zum Beispiel habe ich zum ersten Mal 1986 wirklich ernst genommen und danach auch eingekauft. Sie waren durchweg zu Beginn sehr gut, wurden im Laufe der Jahre aber deutlich schlechter, und was bei mir im Glas landete, war dann noch einmal schwächer. Es gab eigentlich nur einige wenige Weine, die hielten, was einmal versprochen wurde. Oder: vor einiger Zeit habe ich einmal zwei Flaschen 1998er Lafite-Rothschild (ich weiß den Jahrgang nicht mehr ganz genau) hintereinander trinken können. Die erste schmeckte ganz hervorragend, genau so, wie man es erhoffen durfte. Die zweite war vollkommen anders, vor allem sehr viel schwächer. Beide Flaschen wurden gleichzeitig gekauft und haben seit dem Kauf eine völlig identische Lagerung gehabt. Was soll man dazu sagen? Wer die eine Flasche zu einem strammen Preis im Restaurant bestellt hätte, hätte sich mächtig gefreut. Wer die andere „erwischt“ hätte, hätte – weil sie keinen wirklichen Schaden hatte – ein gewaltiges Nachsehen gehabt. Was nützt in einem solchen Falle die hohe Bewertung? Noch vor kurzem ging ich zu einem großen Weinhändler und kaufte mir für eine Woche einen kleinen Vorrat von 6 Flaschen, die wir dann abends ganz entspannt getrunken haben. Alle Flaschen hatten recht hohe Bewertungen, also im Bereich von 93–95 Parker-Punkten. Eine einzige Flasche fand ich adäquat gut und sogar überraschend gut. Alle anderen waren auf einem Niveau, das natürlich annehmbar, eigentlich aber eine Enttäuschung war. In allen diesen Fällen zeigten sich deutliche Schwächen im Verlauf der Degustation der Flasche, also nicht unbedingt zu Beginn, sondern im weiteren Verlauf.
Am ehesten vergleichbar mit der erwähnten Restaurantstichprobe sind Verkostungen diverser Flaschen zu einem bestimmten Zeitpunkt. Diese Verkostungen betreffen zumindest einen fixen Zeitpunkt. Der Jahrgang xy war zu diesem Zeitpunkt in einem xy-Zustand. Damit könnte man zumindest besser leben als mit der Information, dass es sich bei diesem Jahrgang um einen empfehlenswerten und trinkreifen Jahrgang handelt.
Und trotzdem geht es auch hier um eine ganze Reihe von Variablen, von denen man nicht weiß, inwieweit sie eine Rolle spielen. Diese Variablen könnten ermittelt und mitgeteilt werden, aber genau das passiert quasi nie. Wie gesagt: die Sicht ist hier die eines Statistikers, der sich Gedanken über die Stichprobe und ihre Gültigkeit macht (mein älterer Bruder ist Spezialist für so etwas…).
Dass die Variablen nicht erfasst werden, führt die Bewertungen ad absurdum
Wenn man sich ansieht, wie das Leben eines Weines abläuft, entdeckt man eine ganze Reihe von Variablen, die für den Geschmack oft entscheidend sind, aber bei den Verkostungen der Tester entweder keine Rolle spielen oder nicht kommuniziert werden. Hier nur eine kleine Liste von Fragen dazu – sie ließe sich sehr viel weiter ausbauen:
– Wann ist der Wein verkostet worden? Noch aus dem Faß oder schon abgefüllt? Hat diese Verkostung irgendetwas mit der „normalen“ Trinksituation zu tun? Der Run auf frühe Bewertungen zwingt zu frühen Verkostungen, die daraus folgenden Prognosen liegen oft falsch oder haben keinen längeren Bestand, sind aber in der Welt und in der Regel von den Testern auch bereits vermarktet.
– Wie lange war der Wein an der Luft? Eine Verkostung direkt aus der Flasche, möglicherweise noch in winzigen Dosen ist Irgendetwas, aber keine seriöse Weinverkostung. Der mögliche Hinweis auf die Routine der Tester ist angesichts der sich im Laufe der Zeit oft entwickelnden Diskrepanzen zwischen Ersteinschätzung und Entwicklung kaum von Interesse.
– Der Wein hat – egal ob jung oder schon älter – ein Leben, das ich hier einmal „Leben 1“ nennen möchte. Es entwickelt sich vom Öffnen der Flasche bis zum letzten Schluck. Alle möglichen Weine von einfachen bis zu Spitzenqualitäten zeigen dabei oft ganz erhebliche Unterschiede vom ersten bis zum letzten Schluck, die nicht ermittelt werden, wenn man nur kurz probiert. Egal, ob man hier nun von Unmöglichkeiten der Verkostung redet oder nicht: die Entwicklung ist einfach so, dass man im Grunde eine oder sogar mehr als eine Flasche in unterschiedlichen Geschwindigkeiten probieren müsste, um den Einfluss von Luft auf den Wein festzustellen. Seriös wären – mindestens – präzise Angaben zum eventuellen Dekantieren oder auch zur Größe der Gläser.
– Die Trinktemperatur wird bisweilen genannt, aber scheinbar nie richtig ernst genommen. Bei einer Degustation spielt der Zusammenhang zwischen Raumtemperatur und Weintemperatur oft eine beträchtliche Rolle. Die Degustationen in kühlen Weinkellern mit kühlen Weinen unterscheiden sich gewaltig von denen bei warmem Wetter und manchmal gewaltigen Diskrepanzen zwischen Wein- und Raum/Außentemperatur
– Der Wein hat ein „Leben 2“, das weitgehend außer Kontrolle der Tester ist und quasi nirgendwo systematisch erfasst wird. Das erwähnte Beispiel mit dem 86er Bordeaux-Jahrgang ist jederzeit auf alle möglichen Weine aller möglichen Regionen zu übertragen. Wie ein Wein in welchem Alter schmeckt (von dem, was ihm in der Zwischenzeit widerfahren ist, will ich gar nicht erst anfangen zu reden) ist weitgehend unbekannt. Hinweise auf Trinkreife oder Abbau der Qualitäten erscheinen häufig zufällig oder werden nur für wenige große Weine kommuniziert. In unseren digitalen Zeiten wäre es ohne weiteres möglich, zumindest Einschätzungen internationaler Experten im Laufe der Zeit zu aktualisieren – wenn denn irgendjemand Interesse daran hätte, in dieser Weise wirklich etwas für den Kunden zu tun. Interessant wären auch vereinfachte chemische Analysesysteme, die den Lebenslauf eines Weines (und davon reden wir) abbilden könnten.
Gibt es Lösungen?
Natürlich. Die meisten richtig guten Sommeliers sind in der Lage, das Leben eines Weines aus ihrem Bestand zu kommunizieren oder sollten zumindest dazu in der Lage sein. Im Handel herrscht dagegen auf allen Ebenen das Diktat der früh und unter unklaren Umständen vergebenen Bewertungen. Eine Sensibilisierung der Kunden für einen für alle ersprießlichen Umgang mit dem, was der jeweilige Wein zu bieten hat, findet nicht statt. Man ist in einer vorsintflutlichen Zeit stecken geblieben und hat es komplett versäumt, die digitalen Möglichkeiten der Neuzeit adäquat einzusetzen. Der Weingenuss kann erheblich optimiert werden – von den ersten Proben der Experten bis zum Genießer, der weiß, was er bekommt und damit so umgehen kann, dass Gutes sich optimal entfalten kann.
Bei mir waren Sie ein einziges Mal, haben eine Vorspeise gegessen und mein damaliges Lokal zerrissen. Das trifft mich und meine Mitarbeiter bis heute.
Sie irren und scheinen mich zu verwechseln. So etwas ist noch nie vorgekommen. Wenn ich irgendwo esse und darüber schreibe, gilt mein normales Programm.Punkt.
Profi sind sie nicht Herr Dollase und ihr Hausblättchen fas auch nicht,kann doch nicht so schwer sein das zu akzeptieren.
Es ist immer merkwürdig: wenn man die Weinbewertungen kritisiert, regen sich immer sehr viele Leute auf. Die Profis haben übrigens sehr viel sachlicher reagiert.
Was die Restaurantkritik angeht: ich habe in erster Linie beschrieben, was ich mache. Sonst nichts. – Was die Anonymität angeht: ich habe immer wieder erklärt, wie das alles funktioniert, und dass sich leider die Leute immer völlig falsche Vorstellungen machen. Aber – die Vorurteile bleiben.
Die Verblindung ist schlichtweg eine Voraussetzung für eine seriöse Studiendurchführung und kein Vorurteil. Dies in Zweifel zu ziehen ist ignorant.
Sie sollten Ihre Bewertungen auch mal überdenken!! Und dann noch Ihr hausblatt loben ist ja der Journalistische Witz… Aber es darf sich ja mittlerweile jeder Journalist nennen. Nennen sollten sie sich aber nicht als Weinexperte das sind sie natürlich nicht, mittlerweile geht es einem auch echt auf dem Senkel das sie sich selbstbeweihräuchern und alle anderen haben keine Ahnung die nicht ihrer Meinung oder ihrem Geschmack sind, sie müssen noch sehr viel lernen herr dollase.
Ist doch wohl ein Witz das sie ihre hauszeitung emporheben, gerade von ihrem hausblatt wurden Wein Bewertungen abgegeben die haarsträubend sind. Hauptsache die Konkurrenz schlecht reden und sich selber mit seinem Blättchen hervor tun.
Absolute Zustimmung Marius…. Da können sie ihre Arbeit noch so hoch im Himmel loben Herr dollase aber da verlasse ich mich lieber auf den Michelin guide.
Es ist in der Tat verblüffend, dass die Weinkritik dermaßen hinter der Restaurantkritik qualitativ zurückfällt. Die disparaten Bewertungen der gerade beendeten Bordeaux primeur Kampagne sprechen hier Bände. Ein und der selbe Wein kann von unterschiedlichen Kritikern sowohl als Weltklassewein als auch als nah an der Ungenießbarkeit eingestuft werden. Aber es gibt auch bei uns Beispiele: Ein harmloser 10 EUR Basisriesling wurde von Ihrem FAS Kollegen jüngst mit bizarren 94 Punkten im wineadvocate bewertet. Dem Verdacht einer Kumpanei mit dem Winzer wird zumindest Vorschub geleistet.
Zur Ehrenrettung muss man allerdings schon einige vorgebrachte Punkte entkräften: Bei relevanten Weinen werden mehrere samples von einem Verkoster getestet und die Bedingungen auch grob angegeben (teilweise inkl. analytischer Daten). Zusatzinformationen erhält man außerdem, wenn man Abonnent des entsprechenden Weinmagazins ist. Zudem werden insbesondere die großen Weine über die Zeit immer wieder getestet. Dass aktuelle Bewertungen von Weinhändlern ignoriert werden, kann man den Kritikern schwerlich anlasten. Die Problematik qualitativ unterschiedlicher Flaschen des gleichen Weines ist vermutlich auf Korkfehler zurückzuführen, auch wenn diese nicht unmittelbar als „Korkschmecker“ wahrgenommen werden. Solche Weine werden dann unter Umständen aus der Kritik herausgenommen und nur fehlerfreie Weine berücksichtigt. Generell gilt ohnehin, dass Weine als Naturprodukt in Bewertungen nicht so exakt abgebildet werden können, wie wir uns das als Konsumenten vielleicht wünschen.
Ein statistisches Problem haben Sie übrigens aber auch bei Ihren Restaurantkritiken: Für einen ausreichenden Stichprobenumfang sind sicherlich mehrer aufeinanderfolgende Restaurantbesuche nötig. Mehrere a la carte Gerichte geben Ihnen lediglich einen guten Überblick über die Tagesleistung der Küche. Des weiteren sollten Köche eigentlich auch „verblindet“ sein, d.h. sie dürfen von dem Besuch eines Testers nicht unterrichtet sein. Dies dürfte sich allerdings bei einem prominenten Tester mit markanter Erscheinung als schwierig erweisen. Die eigentliche Qualität Ihrer Kritiken liegt dann auch weniger im statistischen Bereich als in ihrer überragenden inhaltlichen Qualität.