Am letzten Sonntag sprach ich wieder einmal mit Stéphane Gass, dem aus dem Elsaß stammenden Sommelier der „Schwarzwaldstube“ in Baiersbronn. Es ging um die elsässer Weine, um den Stand der Dinge bei bestimmten Weingütern, um interessante Entwicklungen. Wir machen das schon seit vielen Jahren, weil ich mich im Elsass gut auskenne. Aber dann kam Gass schnell auf die aktuelle Lage zu sprechen, auf seine Eltern und seine Familie, die fest im Elsass verankert ist und die er wegen des Shutdowns nach Monaten ohne Kontakt erst kürzlich wieder einmal besuchen konnte. Dann äußerte er eine große Sorge und eine Bitte. Die Deutschen sollen bitte die Elsässer nicht vergessen und dringend ihre Besuche wieder aufnehmen. Es sei eine Katastrophe, wie schwerfällig der Tourismus wieder anläuft, und es könnten jetzt, wo man mitten im Sommer wieder ohne Probleme reisen darf, die größten Schäden im Tourismus entstehen.
Für meine Seite konnte ich ihn beruhigen. Einen Tag später fuhren wir bei Kehl und völlig unbehindert wieder ins Elsass, das für uns so etwas wie eine zweite Heimat ist, die wir seit Jahrzehnten regelmäßig besuchen. In Straßburg sah man vom Auto aus einen eher normalen Betrieb, manche Leute hatten Masken auf, manche nicht, es schien so normal, wie es mittlerweile bei uns ist. Wir haben nicht in Straßburg angehalten, sondern sind weitergefahren, in die Region um Colmar, also das touristische Zentrum der Region mit Colmar, Eguisheim, Kaysersberg, Riquewihr, Ribeauvillé usw.
Ich erinnere mich an etwas, das unsere Freundin Astrid vor vielen Jahren einmal gesagt hat. Wir waren damals im Frühjahr oder Herbst im Elsass, aber nie im Sommer. „Wie ist das denn eigentlich mit dem Tourismus im Sommer?“, wollten wir wissen. „Es ist so wahnsinnig voll wie Ostern“, antwortete Astrid, „nur eben jeden Tag.“ Und dann fahren wir in eine der Hauptstraßen und erstarren geradezu. Wenn die Straße denn überhaupt für den Verkehr geöffnet ist, dann ist es hier normalerweise nicht sehr sinnvoll, hineinzufahren. Heute sehen wir kaum ein Auto und nur eine handvoll Fußgänger. Das mag man im Winter und bei schlechtem Wetter so antreffen. Bei strahlender Sonne und bestem Wetter wirkt das bizarr und sehr fremd, weil man keine Ursache für diese merkwürdige Leere erkennen kann. Die Geschäfte sind meist offen, die Leute räumen auf und versuchen sich zu beschäftigen.
Wir fahren weiter und kommen zu unserem Hotel. Normalerweise ist der Parkplatz am späteren Nachmittag komplett gefüllt. Heute ist er leer. Später wird ein Wagen aus Holland dort stehen, mehr nicht. Normalerweise gibt es hier viele Dänen, viele Deutsche, Niederländer, Belgier und im Sommer französische Familien. Sie sind nicht da. Nirgendwo. „Wie ist denn die Auslastung des Hotels“, frage ich unsere Gastgeberin. „30% haben wir“, sagt sie, „wenn es gut geht“. Ein paar Schritte weiter steht ein alteingesessenes Hotel zum Verkauf, das in den letzten Jahren mit neuen Konzepten versuchte, den Anschluss an die Zeit nicht zu verpassen. Gestern war die zweite Runde der Kommunalwahl, die Stellwände mit den Wahlplakaten stehen noch überall. Die Wahlbeteiligung war nur 40% und die Grünen haben mächtig zugelegt.
Im örtlichen Intermarché gib es noch ein paar kleine Lücken im Angebot, Schwächen beim Gemüse und etwas ganz Auffälliges beim Wein, das ich in einem normalen Supermarkt noch nie gesehen habe: Es gibt Großflaschen zu kaufen, nicht nur Magnums, sondern auch Doppelmagnums, Jeroboams und sogar Imperials, und das auch von Qualitäten, die man normalerweise nicht als Großflaschen erwarten kann. Nicht zu fassen. War der Durst in der Abgeschiedenheit mit einer Stunde Ausgang am Tag so groß? – An der Kasse gibt es einen größeren Stau, weil man nur zwei Kassen geöffnet hat (sonst ist man hier sehr flexibel), an denen Plastikstellwände für eine Art Tunnel sorgen. Und – ich habe eine Maske an, weil ich mich ganz selbstverständlich daran gewöhnt habe. Es gibt nur wenige andere Kunden, die ebenfalls eine Maske tragen. Die Schilder mit Erklärungen und Aufforderungen sind da, aber sie scheinen nicht so recht zu wirken. Natürlich gibt es auch Aufforderungen, dass nur eine begrenzte Zahl von Kunden einen Laden betreten darf. In einem Laden hängt ein Schild mit der Aufschrift „Nur 5 Kunden bitte gleichzeitig“, womit er völlig überfüllt wäre. In einem größeren Geschäft steht etwas von 65 Kunden gleichzeitig. Wer zählt das? Das simsende Sicherheitsperssonal?
In den Zeitschriftengeschäften steuere ich sofort die Abteilung mit den kulinarischen Zeitungen an. Vielleicht gibt es ja noch Ausgaben aus den letzten Monaten, weil ich die natürlich verpasst habe. Ich übersehe die Abteilung fast, weil es anscheinend sehr viel neue Zeitschriften gibt, die aber mit der Spitzenküche rein gar nichts zu tun haben, sondern aussehen, wie die Auslagen von Apotheken, blass, grünlich, rosé, bläulich, rötlich. Nichts macht an. Alles sieht aus wie Diät und Krankenhausessen. Meine favorisierten Gourmetzeitschriften fehlen fast alle. Wenig später gehe ich zu FNAC und in ein anderes großes Buchgeschäft. Ich hatte mich auf Enttäuschungen vorbereitet. Darin werde ich nicht enttäuscht. Es gibt kaum Neues, auch dieser Markt scheint gründlich zusammengebrochen zu sein. Immerhin merkt man in Colmar nicht so viel von geringen Touristenzahlen, weil die Stadt so oder so immer belebt ist.
Das Warenangebot scheint weitgehend stabil zu sein, weil in Frankreich eben auch bei den guten Produkten die Supermärkte (vor allem natürlich die ganz großen) gute Abnehmer waren und sind. Die (nicht nur) auf Gemüse spezialisierte Kette Grand Frais sieht weitgehend aus wie immer – wenn auch im Detail hier und da zu lange Lagerungen sichtbar werden. Bei den Restaurants haben fast alle geöffnet, und das angebotene Programm ist auch durchaus „normal“. Was im Moment noch stark verändert ist, sind die Öffnungszeiten. Man kann sich kaum auf feste Zeiten verlassen, weil viele ihr Angebot auf wenige Tage konzentrieren. Auch manche Spezialgeschäfte öffnen nur am Wochenende, wenn die Touristen dann endlich in etwas größerer Stückzahl kommen. Im Prinzip ist also alles wieder möglich – wenn denn nur endlich die Gäste wieder anrücken würden. Die Regeln in den Restaurants sind ansonsten ganz ähnlich wie bei uns – nur die Abstandsregel ist mit 1 Meter etwas geringer.
Also: kommen Sie wieder zurück ins Elsass und sorgen Sie mit dafür, dass sich hier nicht Schäden ergeben, die irreversibel sind. Hier sind eben nicht nur „normale“ Betriebe bedroht, sondern oft auch solche, die für die kulinarische Tradition der ganzen Region von Bedeutung sind.
Wir haben in Deutschland viel von dieser Region profitiert und tun das oft auch heute noch. Von hier stammen viele Vorbilder, hier ist eines der Zentren einer Lebensform, die dem Genuss einen sehr, sehr breiten und sehr, sehr menschlichen Rahmen einräumt.
Ich kann das Zögern nur allzu gut verstehen. Mir vergeht der Appetit, wenn ich mit Maske bedient und dadurch pausenlos daran erinnert werde, dass ich mich infizieren könnte. Verdrängen geht dann gar nicht. Genießen ist eben was Sinnliches.
Und reisen? Wozu? Ich erlebe meine Scholle völlig neu und als angenehmen Rückzugsort. Dieses ewige Herumdüsen, was wir früher immer gemacht haben, muss nicht sein. Natürlich ist mir klar, dass diverse Industriezweige durch so ein Verhalten leiden. Das kann ich nicht ändern. Meine Erfindung ist dieses Virus nicht. So zu tun, als sei alles in Ordnung, und nun mal wieder los wie früher, das ist doch eine Illusion!
Wohne auch in der Nähe und kann alles bestätigen. Aus eigener Erfahrung sowie von Geschäftspartnern und Freunden aus dem Elsass. Wer weiß was in den Orten normalerweise los ist kann nur entsetzt den Kopf schütteln
Das Elsass hat es ja leider auch Extrem erwischt, war ja der französische Hotspot, daher kann ich theoretisch die Vorsicht der Touristen nachvollziehen, praktisch aber kann ich Sie nur unterstützen, wir müssen uns wieder trauen die eigene Scholle zu verlassen. Ich habe für mich das gleiche mit Südtirol exerziert, auch dort ist es noch ruhig aber doch schon wieder sehr angenehm, die Gastronomen spüren dort das es wieder anfängt. Woran wir uns mittelfristig in ganz Europa gewöhnen müssen, der asiatische und amerikanische Tourist wird sehr lange brauchen um wieder zurückzukommen. In Schritt 1 sehr nett, Venedig ist aktuell ein Traum, aber überleben können die dortigen Gastronomen auch auf Dauer nur, wenn auch die schlechte Seite des Tourismus zurückkehrt. Daher lasst uns die Chance nutzen, viele Orte in diesem Sommer entspannt besuchen zu können.
Ich kann da nur vehement den Kopf schûtteln. Ich wohne direkt nebenan, und meine Beurteilung ist eine völlig andere.
Alexander, soll dies etwa ein konstruktiver Beitrag sein?
– Nur Kopfschütteln, anstatt artikulieren, was tatsächlich bewegt?
– Welche Argumentationen entstehen und lassen Wünsche wach werden, in dem vermeintlichen direkt NEBENAN-Domizil?
– Leider kann ich im Moment noch keine Beurteilung erkennen, weil eben nicht vorhanden! (Dürfen wir um Ihre Aufklärung bitten?)
Liebe Manred Kolbenschlag,
Klaus-Peter Hammer und ich haben es hier begründet:
https://www.eat-drink-think.de/weniger-waere-mehr-ein-typisches-regionalkuechen-problem-im-au-raisin-dor-in-zimmerbach-elsass/#comment-71295
Großartig Beschrieben mit Herz & Kulinarischer Seele ! Ja es ist erschreckend und es wird eine Kulturelle Kulinarische Gastronomische Zeitrechnung vor dem Virus und eine danach geben,nicht nur im Elsässischen ! Mit Herzlichen Grüßen aus der Hauptstadt die auch gewaltig leidet.