In der letzten Zeit trifft man hier und da auch im kulinarischen Bereich auf den Begriff der „kulturellen Aneignung“. Ohne jetzt hier gleich in grundlegende theoretische Analysen zu gehen, kann man vielleicht an kurzen Beispielen andeuten, was üblicherweise damit gemeint ist. Es geht also um die Übernahme von – sagen wir: kulinarischen Konzepten aus anderen Kullturen, die dann ohne Rücksicht auf das Original und oft in völliger Verdrehung der Grundidee für eigene Zwecke und im eigenen kulinarischen Umfeld eingesetzt werden. „Sashimi von der bayerischen Färse“ etwa wäre eine solche Aktion, „Taboulé von rheinischem Herbstgemüse“, „Veganes Ceviche“ oder auch – ein Leser hatte das kürzlich angemerkt – „Krokette von Falafel“.
Die Vermutung, so etwas hätte ebenfalls mit kultureller Aneignung zu tun, also dem Ausnutzen traditionell entstandener, identitätsstiftender kultureller Merkmale eines anderen kulturellen Bereichs zu banalen, aus dem Zusammenhang gelösten und oberflächlichen eigenen Zwecken, hat im kulinarischen Bereich scheinbar Tradition. Salopp gesprochen: Jeder klaut von Jedem und verdreht und verbiegt die an anderer Stelle entstandenen Ideen ganz nach Belieben.
Deutschland ist ein besonders gutes Pflaster für – sagen wir: Übernahmen anderer kulinarischer Ideen
Es fällt schon lange auf, dass die bessere Küche in Deutschland weitgehend auf andere Länder schaut und sich nach Belieben bedient. Diese Inspirationen (die man ruhig „Ideenklau“ nennen könnte) sind so intensiv, dass auf vielen Speisekarten von den Produkten über die Zubereitungen bis zum Geschmack so gut wie keine Spuren der deutschen Küche/der Regionalküchen (im weitesten Sinne) zu erkennen sind. Es wimmelte erst von Französischem, dann Mediterranem, dann Asiatischem und Vorderasiatischem, dann Südamerikanischem usw. Das muss man ganz objektiv so festhalten. Diese Lage fällt ganz besonders dann auf, wenn man den Gegentest macht: die Übernahme deutscher Gerichte hält sich in den von uns „gemolkenen“ Ländern und/oder kulinarischen Kulturen sehr in Grenzen. Deutsche Restaurants spielen in Frankreich, Italien, Spanien, Japan, Südamerika usw. nur eine Rolle als Kuriosität oder bedienen die Bedürfnisse einer deutschen Kolonie, während dort – auch in der avancierten Küche – die eigenen Produkte und Traditionen eine klare Dominanz haben.
Nun kommt häufig (oder fast immer) das Argument, die deutsche Küche gäbe so etwas ohnehin nicht her, sie hätte keinerlei Perspektiven zu einer Optimierung, die den Möglichkeiten anderer Inspirationen entspräche. Mittlerweile sollte klar sein, dass eine solche Behauptung purer Unsinn ist. Die deutschen Traditionen haben alles Potential der Welt, es fehlen aber nach wie vor vor allem die Beispiele. Dass es mit den Produkten noch nicht so weit her ist, hängt in diesem Zusammenhang wohl eher mit der mangelnden Nachfrage zusammen. Dass die Gerichte bisher nur ansatzweise vorhanden sind, liegt an Blockaden bei Köchen wie Publikum, die natürlich weit von sich weisen, für exakt diesen Zustand weitgehend selber verantwortlich zu sein. In Deutschland gilt eben nach wie vor ein trivialisierter Internationalismus als schick, während es in maßgeblichen kulinarischen Nationen (unter kreativen Aspekten gesehen) genau umgekehrt ist. Hyperregionalität, also das Arbeiten mit Produkten der engsten Umgebung (also die Nova Regio – Küche), ist nun schon seit Jahren der Maßstab von international anerkannter Kreativität schlechthin.
Die klammheimliche Freude an einem speziellen Phänomen
Zurück im mittelschichtigen Normalkonsum, der die entsprechenden Magazine in allen Medien füllt, gibt es ein Phänomen, das ich mit einer gewissen klammheimlichen Freude verfolge. Es geht um Folgendes. Die Schicht (also viele Journalisten, Intellektuelle usw.), die sich über kulturelle Aneignungen in anderen Bereichen als dem kulinarischen sehr erregt und für radikale Veränderungen eintritt, benimmt sich kulinarisch oft ganz besonders – sagen wir: aneignend. Ihr Speiseplan ist gesättigt von einer Art Weltküche, die sich mit unterschiedlichen Schwerpunkten schon seit vielen Jahren hält. Wenn solche Leute ihre Feste feiern, wimmelt es von Dingen zum Beispiel aus der Türkei, Israel, Marokko und den Anden. Das Auftauchen deutscher Traditionsgerichte ist da sehr, sehr unwahrscheinlich. Man könnte auch sagen: das immer noch weit verbreitete, verklemmte, unreflektierte Verhalten gegenüber den eigenen Traditionen scheint ein Grunddefekt dieser Schicht zu sein.
Und wenn nun die Diskussion um kulturelle Aneignung auch in den kulinarischen Bereich übergreifen sollte, steht man vor dem Dilemma, dass es sozusagen an das eigene Lieblingsessen geht. Da lassen sich dann durchaus einige Aufregungen erkennen, die aber für den kulinarischen Bereich noch nicht wirklich ausformuliert wurden. „Bratwurst statt Ottolenghi“ klingt für Viele als Alternative wirklich bizarr. Dass es bei der Bratwurst jede Form von Qualität geben kann und sie sich vorzüglich für Unmengen von ganz unterschiedlichen Verwendungen eignet, wird natürlich mangels Blockade nicht gesehen. Und deshalb sehe ich den sicher kommenden Diskussionen mit viel Freude entgegen: da kann man eine Menge diskutieren.
Handelt es sich im kulinarischen Bereich wirklich um kulturelle Aneignung?
Es kann allerdings auch sein, dass man zu der Ansicht kommt, diese „drohende“ Diskussion sei ohnehin Unsinn, weil es sich bei den Übernahmen kulinarischer Quellen keineswegs um kulturelle Aneignungen im engeren Sinne handelt (wobei man allerdings anmerken könnte, dass Ähnliches in anderen Ländern vielleicht keine kulturelle Aneignung ist, bei uns aber schon viel eher…). Wenn man die Sache aus der Sicht der Kochkunst im engeren Sinne betrachtet, geht es eigentlich nicht um großartige kulturelle Aneignungen (und wieder muss man anmerken, dass die oben beschriebene Schicht das „angeeignete“ Material oft durchaus in der Nähe einer kulturellen Aneignung instrumentalisiert). Aus Sicht der Kochkunst handelt es sich oft um bestimmte Kochtechniken, um Akkorderfindungen, um bestimmte Verwendungen bestimmter Produkte. Solche Erweiterungen des zur Verfügung stehenden Spektrums sind immer wieder aufgetaucht, mal in der näheren Umgebung als kreative Leistungen, mal in anderen Ländern als dort traditionelles Element. Es gibt keine Absicht, andere Kulturen in irgendeiner Weise auszunutzen oder zu schädigen. Man bedient sich neuer Ausdrucksmittel, um neuartige Geschmacksbilder zu erzeugen. Viel mehr ist da nicht, und außerdem tut man dies oft in einer sehr wertschätzenden Art.
Die kulturellen Aneigner finden sich im kulinarischen Bereich eben eher dort, wo kulturelle Aneignung als solche kritisiert oder bekämpft wird. Ich bin gespannt, wie man sich gegebenenfalls aus dieser paradoxen Situation befreien wird. Wird man sich die Kochkunst-Argumente zu eigen machen, auch wenn man ansonsten auch zur entwickelten Kochkunst ein traditionell schlechtes Verhältnis hat? Dann wäre man sozusagen fein raus und könnte sich auch weiterhin in den eigenen Klischees suhlen.
Es ist okay, sich voneinander inspirieren zu lassen und die kulinarischen Genüsse zu teilen, keine Frage. Aber sobald die eigentlichen Ursprünge eines Gerichts ausradiert und es anders benannt wird, sieht es anders aus. Es gibt dementsprechend kein israelisches Hummus / Babaganoush / Falafel oder ähnliches. Diese Gerichte stammen aus der levantinischen Küche und sie nun einfach als israelisch zu betiteln zeugt von großer Ignoranz.
Dann haben Sie das hiermit richtiggestellt. Ich fürchte nur, dass der Massenmarkt an Rezepten und Büchern aus dieser Region da man und gar unpräzise denkt und nur in ganz groben Zügen irgendetwas verkaufen will, das aus der Region stammt und deshalb gerade populär ist.
Gruß JD
Siehe Der Feinschmecker 9/2022
Essay:“ Und wo bleibt der Gast?“
von W.Bonz
Soviel zum Thema dass am Gast vorbei gekocht wird.
ich gehe mit den meisten der Kommentare überein, „kulturelle Aneignung“ besonders im Bereich der Küche zeugt von Neugier, kreativer Weiterentwicklung und dient außer neuem Geschmack auf der Zunge der Völkerverständigung.. Nicht jeder ist in der Lage die verschiedenen Küchen weltweit zu genießen und hat so zu der von Jürgen Dollase gepriesenen Bratwurst Alternativen.
Ob der zitierte elsässische Koch wirklich pleite geht wenn er vom „germanischen“ Sternekoch kopiert wird wage ich zu bezweifeln,
allein der Preisunterschied wird ihn am Leben erhalten.
Noch zu der von Jürgen Dollase aufgeführten „Schicht (also viele Journalisten, Intellektuelle usw.“ ,das geht in die falsche Richtung.
und ist unterschwellig sehr negativ besetzt.
Lieber Herr Dollase,
vielen Dank für diesen nachdenklichen Beitrag zu diesem Thema, das in der Debatte der letzten Tage zu zunehmend skurrilen Figuren eskaliert ist. Ihr Text hat Gedanken bei mir in Gang gesetzt und ich habe den Eindruck, dass das Thema Essen und Kochen hervorragend geeignet ist, um sich mit dem Aneignungsthema auseinanderzusetzen.
Zunächst weil natürlich offensichtlich ist, dass selbst der meistgerühmte Koch der Zeit das Kochen nicht erfunden hat, sondern auf Erfahrungen und Ideen der Vergangenheit und seiner Umwelt basiert. Sich Techniken, Methoden, Rezepte anzueignen ist kein kritikalber Vorgang, sondern einfaches Lernen. Sich inspirieren zu lassen aus der Geschichte oder den Kochkünsten der Welt hat zweifellos auch nichts zu tun mit der problematisierten Aneignung. Dass das Kochen im deutschsprachigen Raum ohne die vielfältigsten Einflüsse und Inspirationsquellen gar nicht denkbar ist – versteht sich.
Um zum Problem vorzudringen vielleicht ein fiktiver Fall:
Ein hochgelobter Sternekoch speist im Restaurant eines Kollegen, ist von einem Gericht begeistert, kocht es in seinem Restaurant exakt identisch nach, setzt es auf die Karte und erklärt es zu seinem eigenen Signature-Dish. Wenn es rauskommt, wäre die Kritik heftig. SIe wäre berechtigt, der aneignende Koch würde sich vermutlich in Grund und Boden schämen. Passiert so natürlich nicht.
Leicht veränderter Fall
Der besagte Koch speist in seinem Urlaub in einer kleinen, völlig unbekannten Gaststätte im tiefsten Elsass, das nur ein einziges Gericht zubereitet. Er genießt dieses atemberaubende Gericht, kocht es nach, setzt es auf seine Karte, erklärt es zum Signature Dish. Niemand weiß von dem kleinen Restaurant. Das vielleicht pleite geht, weil sich rumspricht, dass das Gericht bei de Sternekoch auf der Karte steht, weswegen niemand mehr in das kleine Restaurant geht. Wenn nun der Koch des kleinen Restaurants sich über die Aneignung beschwert wird ihm vorgehalten, er wolle ja wohl nicht behaupten, sich mit einem Sternekoch messen zu können. Das kleine Restaurant geht pleite. In Kenntnis der gesamten Umstände würde man sich über die Aneignung empören.
Was ist die Moral der Geschichte? Weltweite Einflüsse, Inspirationen, Anregungen sind die Grundlage einer sich entwickelnden Kochkunst. Wer in Pinneberg beim Griechen Gyros, im Adria Grill ein Cevapcici, wer ein Döner, einen Crêpe oder eine Pizza verspeist weiß um die Einflüsse, ebenso wer zu Tim Raue oder Christian Bau geht. Letzteres zumal, da die Köche ihre Inspirationen offenlegen. Was auch eine Frage des Respekts gegenüber denjenige ist, die diese Einflüsse genommen haben.
Kritikabel wird es dort, wo Übernommenes in der Form angeeignet wird, dass das Faktum des Einflusses nicht mehr vorhanden ist oder derjenige, von dem der Einfluss stammt, sogar damit geschädigt wird wie der WIrt des kleinen Restaurants. Natürlich könnte der Sternekoch dieses Gericht auf seine Karte nehmen – aber das kleine Restaurant benennen als Erfinder. Oder gar finanziell kompeniseren.
Schwierig also wir es dort, wo Ursprünglichkeit und „geistig-kreatives Eigentum“ behauptet wird. Um Ihre Ausführungen noch einmal aufzugreifen: Ist die „deutsche Bratwurst“ tatsächlich eine ursprünglicher Beitrag der Kochkunst im deutschen Sprachraum? Oder vielleicht auch schon eine Übernahme? Sprich: Da wo behauptet wird: Ich habs erfunden, keiner hats vor mir gemacht und ich darf allein davon (ideell und materiell) profitieren, da lohnt sich die kritische Frage nach der Aneignung.
Wie gesagt, nur der Versuch eines Weiterdenkens Ihrer Ausführungen.
„Es gibt keine Absicht, andere Kulturen in irgendeiner Weise auszunutzen oder zu schädigen. Man bedient sich neuer Ausdrucksmittel, um neuartige Geschmacksbilder zu erzeugen. Viel mehr ist da nicht, und außerdem tut man dies oft in einer sehr wertschätzenden Art“.
Das mag sein, und genau das würde sicher auch der blonde deutsche Reggaemusiker sagen, aber es spielt letztlich keine Rolle. Die harmlose Absicht kann trotzdem ein negatives Resultat zeitigen. Bei der kulturellen Aneignung geht es ja vor allem um Machtstrukturen und Dominanz. Ich stimme dem Text in vielen Punkten zu, aber der Themenkomplex ist insgesamt schon nochmal vielschichtiger.
Warum soll der blonde deutsche Reggaemusiker das nicht sagen sollen? Um Machtstrukturen und Dominanz geht es den Woken, einer absoluten Minderheit, die die Mehrheit mit ihren abseitigen Ansichten terrorisiert.
Ich stimme Herrn Stulle in allem zu. Und dass sich unsere Woken vor allem der nichtdeutschen Küche bedienen, ist ein schöner Aspekt, um diesen Unsinn der kulturellen Aneignung ad absurdum zu führen.
Ich halte das bolschewoke Konzept der „kulturellen Aneignung“ generell für völligen Blödsinn, denn wen man es zu Ende denkt, bedeutete es, auch das andere Völker kein Auto benutzen dürften, kein Smartphone, Japaner kein Beethoven singen/spielen dürften, niemand anderes als Engländer Fußball spielen, nur Leute aus Neapel Pizza backen usw. Von vorn bis hinten Unsinn und im Bereich der Kulinarik stimme ich Ihnen komplett zu.