Eneko Atxa: Azurmendi. Montagud Editores, Barcelona 2021. 444 S., geb., Hardcover, ca. 87 Euro (parall: spanisch-englisch)
Erst einmal müssen man zugeben, dass wir aus deutscher Sicht nur immer wieder staunen können, in welchen Dimensionen in Spanien Spitzenküche betrieben wird. Wenn der in Bilbao arbeitende Drei-Sterne-Koch Eneko Atxa ein Buch wie dieses herausbringt, wird auch für Leser, die noch nicht in Bilbao waren (korrekter: das Restaurant liegt ein Stück außerhalb der Stadt) deutlich, dass es hier nicht um ein Hotelrestaurant geht, dass irgendwo seine Ecke abbekommen hat, sondern um einen großen, sehr ansehnlichen Betrieb, in dem Alles, aber auch wirklich Alles getan wird, um das Beste aus dem Ansatz und den Fähigkeiten des Kochs zu machen. Die Küche ist riesig, man hat Platz, die Amuse Bouche-Reihe in gesonderten Räumen zu zelebrieren, der Empfangsraum ist riesig und von ganzen Bäumen durchwachsen, alles ist sehr modern, und obenauf gibt es auch noch eine Art didaktische Ausstellung zu Pflanzen und Ökologie der Gegend. Und wie das in Spanien eben so ist, ist die Triebkraft des Ganzen nicht Anpassung, sondern Distinktion, Individualität, die Arbeit daran, eine kulinarische Macht zu sein, die auf einer Höhe mit den anderen Mächten im Land steht. Es gibt eben nicht nur Adria und Co., sondern längst eine ganze Reihe von Köchen, die über solche beeindruckenden Imperien verfügen. Haben sie mehr „Dampf“ oder ist „nur“ die Akzeptanz größer und der Erfolg dann automatisch in anderen Dimensionen? Es ist wohl Beides. Bei uns kann man immer den Verdacht von Mängelverwaltung haben. Man schlägt sich durch so gut es geht, was natürlich zum Beispiel für das Selbstbewußtsein als Kreativer nicht wirklich optimal ist. Ist das hier eine andere Liga?
Meine Eindrücke im „Azurmendi“ sind sehr klar gewesen. Das ganze Ding wirkt sehr überzeugend und in seiner äußeren wie inneren Dimension wie ein prächtiger Rahmen für herausragende Arbeit. Die Küche ist sagenhaft professionell organisiert, das Essen ist sehr interessant, sehr spanisch-rustikal-avantgardistisch, kann aber natürlich durchaus in der ein oder anderen Richtung kritisch diskutiert werden – wie jede Position, die man wirklich ernst nehmen kann.
Das Buch
„Azurmendi“ ist eines dieser internationalen Großwerke, die man schon deshalb lieben muss, weil es sie so selten gibt. Hier findet sich genau das an Information, was Kenner (egal ob solche hinter oder vor dem Pass) durchs Leben trägt, was ihnen Adrenalin verschafft, was sie nicht nur gut und schön, sondern auch faszinierend finden können. Die Stilistik der spanischen Nach-El Bulli-Küche erweist sich immer wieder als eine ideale Mischung aus Tradition und Avantgarde und das in einer Konsequenz, wie wir sie in dieser Form eben fast nur in Spanien finden. Vor allem die konsequente Arbeit mit allen möglichen Techniken wie ästhetischen Vorstellungen, die die Avantgarde in den letzten Jahren entwickelt hat, ist bemerkenswert. Andererseits fällt aber auch auf, dass stark auf die Präsentation des Ganzen, auf die Inszenierung eines „Grande Maison“ der neuen Art, Wert gelegt wird. Das zieht sich bis ins Buch hinein – nicht wegen der Fotos von Restaurant und Co., sondern auch wegen der Bilder der Gerichte. Die Zweisprachigkeit ist natürlich ein Vorteil für die internationale Kommunikation, benötigt aber auch allerlei Platz. Vielleicht ist dieser Zweisprachigkeit aber auch geschuldet, dass es zusätzlich (und ungewöhnlich für eine solche Art von Büchern) auch viele Step-by-Step-Fotos gibt.
Das Inhaltsverzeichnis zu Beginn hat eine interessante Unterteilung, die man sich sehr gut auch in anderen Büchern vorstellen könnte – speziell bei Köchen, die mit recht vielfältigen Details arbeiten. Es gibt also eine Liste der rund 75 Rezepte, aber auch eine sehr viel größere Liste der „Zubereitungen“. Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, dass diese Einzelzubereitungen oft der nützlichste Teil sind, weil diese Details auch sehr gut von Nicht-Profis genutzt werden können. Im Buch sind ca. 300 solcher Einzelzubereitungen gelistet. Und – es finden sich noch andere Überraschungen, wie etwa Gedichte von Eneko Atxa, zum Beispiel mit dem Titel „The Tree“. Oder: ein einige Seiten füllendes „Emotionales Wörterbuch“ („Emotional Dictionary“), in dem Atxa einige Begriffe – sagen wir: literarisch erläutert. Es klingt tatsächlich wie Literatur oder auch moderne Lyrik, wenn es zum Beispiel um „Exzellenz“, Familie, Freiheit, Zufriedenheit, Jugend oder Technik geht. Ich habe so etwas noch nie in einem Kochbuch gefunden. Es spricht für eine sehr tiefe Durchdringung seiner Arbeit und der Beziehung dieser Arbeit zu seiner engen und weiteren Umgebung.
Die weitere Aufteilung folgt eher üblichen Kategorien, also Basisrezepte, Snacks, usw. usf. Für die Rezepte gibt es jeweils eine Seite mit dem Titel, dann eine Seite mit dem Rezeptfoto, gefolgt von dem Rezept und manchmal mehreren Seiten mit Einzelzubereitungen und den dazugehörigen Step-by-Step-Fotos. Die Rezepttitel sind knapp gefasst und sagen so gut wie nie etwas über die eigentliche Zubereitung aus. Hier ein Beispiel. Ein sehr abstrakt aussehendes Gericht namens „Braune Shrimps und Tomate“ etwa hat als Zubereitungen die Shrimps (die 7 Sekunden gegart werden). Dann marinierte Shrimps, ein Shrimp-Öl, eine Shrimp-Emulsion, Tomatenwasser, eine Tomatenwasser-Mischung (mit einer Gewürzmischung angereichert), ein Tomatengranité, gepickelte Sellerie und mit Cidre marinierter Apfel. Man kann sich darauf verlassen, dass hier nichts klassisch-französisch gekocht wird, sondern sich in quasi jedem Rezept eine typisch-regionale spanische Prägung und modernste Zubereitungen finden. Dass gilt auch zum Beispiel für so etwas wie ein scheinbar simples Lammrack, das zuerst mit Knoblauch, Olivenöl und Salz noch „normal“ vakuumiert wird. Dann kommt eine Lammsauce auf der Basis von Lammnacken und Lammfüßen, Wurzelgemüse, Resource und Eiweiß dazu. Die Regenerierung des Racks geschieht sodann mehrstufig, wobei eine Tsuyu-Marinade entscheidend am endgültigen Geschmack beteiligt ist. Auch die grundsätzliche Kombinatorik der Elemente weicht oft von üblichen Vorbildern ab – etwa bei den Ochsenschwanz-Ravioli, die erstens anders aussehen als die italienischen und dann von gedämpftem Weizen und Sauerrahm begleitet werden. Kurz: man bekommt eine deutlich individuell geprägte Küche mit einer Vielzahl von für unsere Begriffe abweichenden Zubereitungen und Akkorden. Standards, die man an anderer Stelle immer wieder findet und erwarten kann, spielen hier kaum eine Rolle. Eneko Atxa hat sich eben über einen mittlerweile durchaus schon längeren Zeitraum entwickelt und diese Entwicklung nie gestoppt.
Fazit
Ich hatte eingangs angemerkt, dass man in solchen Büchern kulinarisches Adrenalin vorfindet: man ist elektrisiert von der Andersartigkeit auf hohem Niveau und muss nicht mühsam nach originellen Aspekten suchen. Das macht dieses Buch hervorragend – ganz abgesehen davon, dass es auch als Buch ein sehr schönes Stück ist. Und weil Eneko Atxa immer einen guten Geschmack sucht (nicht zuletzt darin liegt die Bodenständigkeit vieler seiner Rezepte) ist man hier auf einer sehr guten Seite. Die Inspirationen für Gleiches in deutschen Landen sind möglich. Auch wir könnten – ich sage das immer wieder – mit unseren regionalen Ressourcen solche Dinge machen. Wir müssten dazu nur noch etwas freier im Kopf werden, mehr Risiken eingehen und wirklich Lösungen suchen.
Das Buch bekommt – natürlich – 3 grüne BBB
Fotos © Montagud Editores, abfotografiert von Jürgen Dollase
Sun Cellular