In diesem zweiten Teil des Textes zur kulinarischen Kreativität geht es darum, was Kreativität auszeichnet und in welchen ganz unterschiedlichen Formen sie auftreten kann.
Kreativ – innovativ: eine wichtige Unterscheidung
Im kulinarischen Bereich wird bei den im ersten Teil meines Textes als äußerst wichtig erwähnten Vergleichen schnell klar, dass der Begriff „kreativ“ alleine nicht wirklich ausreichend ist. Wenn zum Beispiel ein Koch einige schon bekannte Elemente ungewöhnlich kombiniert, kann man diese Leistung durchaus „kreativ“ nennen. Seine Küche hat dann vielleicht eine klassische Basis und wird durch in diesem Zusammenhang ungewöhnliche Elemente angereichert. Einen solchen Koch muss man aber deutlich von denjenigen Köchen unterscheiden, die neue Elemente erfinden oder erstmals einsetzen und dann insgesamt eine Küche machen, die weitgehend aus neuartigen Elementen besteht. Solche Köche sollte man „innovativ“ nennen. Sie sind Erfinder, nicht Kombinierer.
Natürlich gibt es – wie überall – Grenzbereiche, zum Beispiel dann, wenn ein Koch eine Vielzahl von neuartigen Elementen einsetzt und sich seine Küche in Folge dieser Praktik deutlich von anderen Küchen unterscheidet. Ähnliches gilt für den innovativen Charakter, der natürlich ebenfalls unterschiedlich intensiv ausfallen kann. Dazu nun weitere Vertiefungen und Erläuterungen.
Kreativität als Weiterentwicklung
Eine Kreativität, die sich auf einer festen, eher traditionell orientierten Grundlage entfaltet, habe ich immer als „fortgeschriebene“ Kreativität beschrieben. Sie ist typisch für die französische Spitzenküche, in der oft sehr scharf zwischen dem, was noch geht, und dem, was schon zu viel ist unterschieden wird. Ein typischer Fall war das, was Olivier Roellinger in den 90er Jahren durchmachen mußte. Mit seinen Gewürzen und Gewürzmischungen und mit Saucen, die stark von diesen Mischungen geprägt waren (Stichwort: „Retour des Indes“), geriet er in seiner Heimat mächtig in die Kritik. Erst später wurde klar, dass Roellinger nie zu viel machte, sondern äußerst sensibel mit seinen neuen Elementen arbeitete.
Die fortgeschriebene Kreativität hat vor allem große Vorteile bei der Akzeptanz. Weil die allgemein verständliche geschmackliche Basis nicht wirklich verlassen wird, werden die neuen Elemente oft wohlwollend akzeptiert und oft auch als Bereicherung erlebt. Der typische „Innovationsschock“, der entsteht, wenn man auf eine Küche trifft, die man nicht einordnen kann, bleibt also aus.
Kreativität als freies Spiel der Ideen
Der Grenzbereich zwischen Kreativität und Innovation wird dann beschritten, wenn ein Koch seine Küche aus einer größeren Anzahl von vergleichsweise neuen Ideen zusammensetzt, die er aber nicht selber entwickelt hat. Seine Entwicklung ist – wenn man so will – die Zusammensetzung, nicht die Erfindung der Details. Diese Form der Kreativität findet sich heute vor allem bei jenen Köchen, die sich auch der vielen neuen Kochtechniken bedienen, die im Zusammenhang mit der Neuen Skandinavischen Küche oder auch im Zusammenhang mit der spanischen Avantgarde entwickelt wurden. Dieser Katalog von neuen Saucen, Emulsionen, Variationen der Aggregatzustände, Gartechniken etc. ist mittlerweile sehr groß und unterscheidet sich erheblich von den Techniken der französisch fundierten Spitzenküche. Und weil viele dieser Techniken auch in Küchen eingegangen sind, die nicht unbedingt revolutionär wirken, finden wir Kreativität als mehr oder weniger freies Spiel der Ideen in vielen modernen Restaurants rund um den Globus. Weil viele Köche in diesem Bereich aber geschmackliche Vorstellungen haben, die aus ihrer traditionellen Vergangenheit herrühren, entwickelt sich hier oft auch das, was man „Mainstream-Moderne“ nennen könnte.
Innovation
Der wirklich innovativ oder weitgehend innovativ arbeitende Koch geht ein großes Risiko ein. Einerseits zeigen die internationalen Reaktionen auf innovative Leistungen (Adria, Redzepi und Co.), dass man damit berühmt bis weltberühmt werden kann. Andererseits muss man mit erheblichem Gegenwind der „Gegenseite“ rechnen. Wird ein Koch „riesig“, kann eine solche Abwehr-Kritik unter Umständen sogar seinen Ruhm mehren. Hat ein innovativer Koch aber nur regionales Aufsehen erregt, kann sich Kritik und mangelnde Akzeptanz schnell negativ auswirken. Man kann dabei durchaus länderspezifische Unterschiede beobachten: ein innovativer Koch in Spanien darf mit einer deutlich anderen Unterstützung rechnen, als sein Kollege in Deutschland.
Typisch für innovative Leistungen ist eine weitgehende Neuerfindung unter Inkaufnahme größerer Differenzen zu bestehenden Ansätzen. Es versteht sich von selber, dass es von diesen innovativen Köchen eher wenige bis sehr wenige gibt. Natürlich arbeiten auch die Innovatoren nicht in einem luftleeren Raum und haben ihre Bezüge zu dieser oder jener schon vorhandenen Idee. In der Summe aber weichen sie beträchtlich ab, und das nicht nur in der Optik, sondern vor allem auch im Geschmack.
Ganz verschiedene Küchen sind kreativ
Es wird schnell deutlich, dass ganz verschiedene Küchen als kreativ bezeichnet werden können. Heute zum Beispiel vor allem die Nova Regio – Köche in Berlin kreativ zu nennen, aber zum Beispiel Torsten Michel nicht, spricht für eine mangelnde Reflektion des Begriffs. Kreativität findet sich in allen Küchen – von klar klassisch ausgerichteten bis zu innovativen. Es kann sogar sein, dass bei genauer Betrachtung manchmal sogar eher klassisch orientierte Köche kreativer sind, als andere, die schon auf den ersten Blick „kreativ“ wirken. Insofern sollte man – vor allem in der Kritik – sehr vorsichtig mit den Zuschreibungen umgehen. Es ist zum Beispiel durchaus möglich, dass ein offensichtlich im kreativen Fach arbeitender Koch sehr nahe an bestimmten Vorbildern arbeitet und insofern eigentlich nicht besonders kreativ ist, und ein anderer Koch scheinbar wenig mit einer offensichtlichen, modischen Kreativität zu tun hat, tatsächlich aber deutliche neue Akzente setzt.
Maßstäbe für Kreativität sind nicht immer vorhanden
Für die Einordnung von Küchenleistungen als „kreativ“ gibt es ein besonderes Problem. Während man bei der fortgeschriebenen Kreativität in der regel recht klare Verhältnisse und gute Vergleichsmöglichkeiten hat, fehlt bei der Einschätzung und Beurteilung innovativer Leistungen vielen Leuten oft jeder Maßstab. Das ist einerseits ganz normal, kann aber andererseits ein großes Problem werden, wenn sich eine harsche Ablehnung der innovativen Leistungen mit entsprechenden wirtschaftlichen Folgen und/oder entsprechenden negativen Beurteilungen in Restaurantführern ergibt. Die minimalistischen Gänge in den Menüs vieler Nova Regio – Konzepte treffen selbst bei Spezialisten und Kochkollegen auf viele Missverständnisse oder glattes Unverständnis. Die Ursache ist klar: wer die Kochkunst als abgeschlossenes System betrachtet, in dem man einfach weiß, was gut und was schlecht ist, muss in dieser Art reagieren. Regeln für ein „offenes“ System habe ich übrigens schon vor längerer Zeit vorgeschlagen. Es geht dabei um den Bezug auf universelle kulinarische Werte, mit denen sich buchstäblich jede existierende wie noch nicht existierende Küche beschreiben und einordnen lässt.
Einschätzungen: Wer ist kreativ, wer innovativ
Vor diesem Hintergrund zeigt sich ein Bild von Kreativität und Innovation unter den deutschen Köchen, das etwas anders ausfällt, als man das vielleicht im ersten Moment meint. Ich kann hier nicht umfangreiche Begründungen schreiben, sondern möchte nur ein wenig – sagen wir: mit den Gedanken spielen, ganz ohne Anspruch auf Vollständigkeit und nur zur Illustration.
Ein hoher Grad an Innovation ist in Deutschland nach wie vor extrem selten und findet – wie die Erfahrungen gezeigt haben – leider oft nur einen begrenzten Zuspruch. Innovativ waren zum Beispiel Michael Hoffmann vom „Margaux“, Matthias Schmidt von der „Villa Merton“ und – besonders ausgeprägt – Andreas Rieger vom „Einsunternull“ und Patissier Christian Hümbs. Alle vier sind im Moment nicht mehr in einem eigenen Restaurant aktiv. Auch Sebastian Frank vom „Horváth“ gehört weitgehend in diese Abteilung, ebenso wie Felix Schneider vom „Sosein“.
Bei den Köchen vom „Ernst“, Nobelhart & Schmutzig“ etc. gibt es in der Außenwirkung sicherlich viel Innovatives, weil es nach wie vor wenige Restaurants gibt, die so konsequent in dieser Richtung arbeiten. Allerdings ist hier die Nähe zu Vorbildern/Anregungen vor allem in den skandinavischen Ländern recht hoch, so dass man eher von kreativer als von innovativer Küche reden sollte. Bei Andree Köthe und Yves Ollech vom „Essigbrätlein“ dagegen kann man – auch wenn sie manchmal nicht so spektakulär erscheinen wie manch Berliner Kollege – durchaus von einem hohen innovativen Potential sprechen. Für Marco Müller vom „Rutz“ gilt Ähnliches: es gibt die Nähe zu skandinavischen Vorbildern, dann aber auch immer wieder beträchtlich innovative Gerichte.
Ein sehr hohes Maß an Kreativität findet man vor allem rund um die „Elverfeld – Schule“, also vor allem bei Sven Elverfeld und Jan Hartwig. Gerade Jan Hartwig sprudelt nur so von Ideen, die sogar bei scheinbar eher klassische Rezepturen einen enormen Qualitätsgewinn bringen. Sven Elverfeld selber hat wie kein anderer moderne Spitzenküche und Regionalküche so vereint, dass völlig neue Qualitäten entstanden sind.
Bei Christian Bau gab es sicherlich zu Beginn eine Phase, die zwischen Innovation und Kreativität lag. Die Frage ist dann natürlich, ob das nach etlichen Jahren heute noch so gilt. Mit seinen enorm wirksamen Anregungen hat er allerdings bei seinen vielen Nachahmern auch oft für allerlei Oberflächlichkeiten gesorgt (was man ihm selbstverständlich nicht ankreiden kann).
Auch Torsten Michel zeigt eine beträchtliche Kreativität, obwohl er sich scheinbar im ganz klassischen Fach aufhält. Aber – wer seine klassischen Gerichte einmal mit den Klassikern anderer klassischer Größen vergleicht, wird schnell feststellen, dass Michel nicht nur optimiert, sondern klare kreative Erweiterungen schafft – übrigens bis hin zu seiner Version der berühmten Trüffelsuppe VGE von Paul Bocuse.
Ein hochinteressanter Artikel. Musste man sich doch gelegentlich die Augen reiben angesichts mancher Restaurant-Spitzenbewertungen an dieser Stelle im Bereich Kreativität. Wenn man nun die Unterscheidung kreativ versus innovativ vornimmt, wirkt dies auf den ersten Blick plausibel. Auf den zweiten Blick ist sie dann aber doch nicht ganz unproblematisch. Erlaubt sie nun nämlich in der Tat die gleich hohe Einstufung eines weltbekannten Ultrakreativen (der in die Schublade Innovation gesteckt wird) mit – etwas überspitzt formuliert- all den Optimierern von Schweinekinn, Ochsenbäckchen und co, die nun in der Sparte Kreativität eingereiht werden. Dass diese Unterscheidung im übrigen manchmal hinkt, sieht man beispielsweise bei Hümbs, der völlig zu Recht zu den ganz großen Innovatoren gezählt wird. Seine Innovationskraft speist sich aber gerade aus seiner unglaublichen Kreativität. Ähnliches galt sicher auch für Adria. So gesehen ist Innovativität im Bereich der Kochkunst nicht nur ein Teilbereich von Kreativität sondern vielmehr als deren höchster Ausdruck zu sehen und sollte dementsprechend auch höher eingestuft werden. Dementsprechend sollte der Begriff Innovation natürlich in erster Linie nur für die ganz Großen verwendet werden und nicht für jeden Koch, der im Stile der Avantgarde arbeitet. Wie subjektiv und flüchtig der hier verwendete Kreativitätsbegriff werden kann, wenn man ihn unabhängig von der Innovativität betrachtet, sieht man an einem anderen Beispiel. Galt der „Meister aller Klassen“ aus Bensberg vor ein paar Jahren noch geradezu als Inbegriff von Kreativität, ist er heute schon keine Erwähnung mehr wert.