Es gibt einen wichtigen Unterschied der deutschen Spitzenküche zu denen anderer kulinarisch entwickelter Länder: Die deutsche Spitzenküche hat oft ein gebrochenes Verhältnis zur eigenen Tradition. Man kann es ganz einfach auf den Punkt bringen: Wo gibt es Schweinshaxe oder Maultaschen und Co. auf Drei-Sterne-Niveau? In Frankreich, Spanien oder Italien finden sich ganz selbstverständlich in den besten Restaurants der Regionen auch die besten Fassungen regionaler Spezialitäten – in gewisser Weise wie das kulinarische Erbe und Gedächtnis einer Region. Wer wissen will, wie gut traditionelle Gerichte sein können, braucht nach Beispielen nicht lange zu suchen. Bei uns dagegen gilt vielfach noch immer das, was ein ehemaliger Drei Sterne-Koch einmal gesagt hat: „Kalbskopf gehört nicht in die Spitzenküche“, hieß es da, tief aus einem Bewusstsein heraus, das immer mehr an Frankreich etc. orientiert war und ist.
Was nicht gemeint ist: Regionales als technisches „Spielmaterial“
Natürlich gibt es immer wieder Köche, die auf regionale Spezialitäten eingehen. In Deutschland bedeutete und bedeutet das aber fast immer, daß regionalen Gerichten mit probaten Techniken und den Geschmacksvorstellungen der Spitzenküche sozusagen der Charakter ausgetrieben wird. Das war schon bei „Essen wie Gott in Deutschland“ so, und das ist nicht grundsätzlich anders, wenn Drei Sterne-Köche das Schweinekinn zu höchster Delikatesse bringen. So bewundernswert das dann rein geschmacklich sein mag, so wenig hat es mit den Traditionen und den im Bewusstsein weiter Bevölkerungsschichten verankerten Assoziationen zu tun. Im Gegenteil. Solche Bearbeitungen schaffen eher eine noch größere Distanz zu den Traditionen, die dann nur noch als vergröbert und schlecht gemacht wirken.
Was gemeint ist: Regionales mit Authentizität
Gemeint ist mit „Super German“ (die englische Bezeichnung soll durchaus provokativ gegen die „Sauerkraut“ – Klischees im angelsächsischen Ausland gehen) eine Art der Küche, die vor allem optimiert. Ausgangspunkt muss ein Geschmacksbild bleiben, das traditionell gewachsen ist – auch wenn es mit der Zeit in Brauhäusern oder anderen massenkompatiblen Küchen zu organisatorisch bedingten qualitativen Abschwächungen gekommen ist. Der Esser, der auf eine maximal optimierte Schweinshaxe trifft, muss ein solches Essen sofort identifizieren können, muss über alle Assoziationen verfügen können, die er normalerweise bei seinen traditionellen Lieblingsessen hat. Er muss im Prinzip sagen: „Wahnsinn. Ich hätte nicht geglaubt, dass eine Schweinshaxe so gut schmecken kann.“
An diesem Punkt hört man oft von Köchen, was man denn da eigentlich machen solle. Schweinshaxe sei eben Schweinshaxe. Punkt. Solche Einwände sind typisch für den Zustand der deutschen Spitzenküche in diesem Bereich. Man weiß überhaupt nicht, wie man das anfangen kann, weil sich noch nie eine ausreichende Anzahl hervorragender Köche intensiv genug damit beschäftigt hat. Man kennt Dutzende Zubereitungen von Foie gras, hat aber eben keine Idee, wie man durch echte Optimierungen traditioneller deutscher Gerichte den Zusammenhang von Küche, Publikum und Qualität wirklich wiederherstellen könnte. Ja, ein kulinarischer „Super German“ Stil würde noch viel Arbeit machen, aber er könnte echte kulinarische Erlebnisse mit Breitenwirkung bieten.
Beispiele
Zwei Beispiele, eines aus Italien, eines aus der Berliner Kreativszene.
Beispiel eins gehört zu den Klassikern der italienischen Drei-Sterne-Köchin Nadia Santini gehören die traditionellen Tortellini di Zucca, die Kürbis-Tortellini, die mit vielen kleinen Details zu einer sagenhaften Finesse gebracht werden.
Es besteht keinerlei Grund, nicht auch mit klassischen schwäbischen Maultaschen eine solche Finesse zu erreichen.
Beispiel zwei stammt von Andreas Rieger vom Avantgarde-Restaurant „einsunternull“ in Berlin. Es ist sein Broiler (hier: ausgelöstes Keulenfleisch vom Huhn) mit gebeiztem Eigelb und Bärlauchnage mit Lebercreme. Der Geschmack des Hühnerfleisches und der Lebercreme sind sensationell.
Gab es diesen Versuch dort mal?
im „Aalschokker“ ???
( http://www.berlinerliteraturkritik.de/detailseite/artikel/deutsche-kueche-mal-anders.html)
kulinarische Grüße
Benedikt Acht
Lieber Herr Acht,
danke für den Hinweis und die Erinnerung. Jean-Claude Bourgueil hat tatsächlich schon eine Menge für das Ausloten der Qualitäten deutscher Klassiker getan. Und – man muß sagen: anders und unverkrampfter als viele seiner deutschen Kollegen, vielleicht weil er sich nur mit dem kulinarischen Potential befaßt hat und nicht so sehr in den üblichen Vorurteilen und grundsätzlichen Abneigungen gegen die Beschäftigung mit deutschen Rezepten verstrickt war. Seinen Charakter als ein wirklich umfassend denkender Koch hat er ja bis heute behalten. Er macht im „Schiffchen“ regelmäßig Themenmenüs – z.B. beeinflußt durch Reisen nach Südamerika oder Japan, und nutzt sein aktuelles Zweitrestaurant, das „Enzo“, für eine ebenfalls völlig unverkrampfte Mischung aus italienischer und französischer Küche. Für ihn war und ist das Potential deutscher Klassiker ganz selbstverständlich genau so vorhanden wie in seiner Heimat.
Ich habe den Eindruck, dass insbesondere in der deutschen Kochkultur etwas fehlt, was in den japanischen Küchen selbstverständlich ist: kodawari 拘り, was man etwa mit „Besessenheit“ übersetzen könnte. Gemeint ist, die absolute Obsession, ein Gericht, auch wenn es einer einfachen, traditionellen Küche entstammt, bis zur absoluten Perfektion zu entwickeln. Notfalls ein ganzes Leben lang. Das scheckt dann immer noch „klassisch“, aber eben wie das unverrückbare „Urbild“. Dafür genügt den japanischen Topköchen auch ein „einfaches“ Produkt wie z.B. ein Schweinebauch. Aber er wird mit dem größtmöglichen Respekt und der maximalen Wertschätzung behandelt. Warum sollte das nicht auch mit einer Schweishaxe möglich sein?
Lieber Herr Seeber,eine exzellente Sehweise eines Teils der Probleme der deutschen Spitzenküche. Ja, es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, regionale und/oder traditionelle Gerichte in einen optimalen Zustand zu bekommen – weit vor dem Bestreben, den jeweils tagesaktuellen internationalen Anrichteweisen von Gerichten nachzueifern. Ich persönlich finde es immer eine wirklich fordernde Aufgabe, an bestimmten Klassikern zu arbeiten. Ich habe mittlerweile eine ganze Reihe von solchen optimierten Rezepturen, bei denen ich ganz einfach sage: so, das ist das, was mir im Moment möglich erscheint. Wer eine Idee hat, das besser zu machen, ist absolut willkommen. Ich glaube einfach an das Potential traditioneller Gerichte, an einen Kern, der so gut ist, daß er uns zu allen möglichen Höhen führen kann. Ja, ich glaube auch daran, daß es bei den richtig guten Köchen eine Art von Besessenheit geben muß. Wenn man einmal schlechter schläft, weil man partout den Kern eines traditionellen Gerichtes nicht findet, ist das keine schlechte Schlaflosigkeit….
Lieber Herr Heine,
vielen Dank für die Information in Sachen Bocuse/KadeWe. Es ist sehr bedauerlich, weil diese „Institution“ – wie Sie das so klar beschreiben – ein Geschmacksbild produziert hat, wie man es in Deutschland (aber auch in Frankreich) nur noch selten findet. Als ich dort war – mittags – war es dort übrigens durchaus gut gefüllt. Wer mich beobachtet hätte, hätte merkwürdige Verhaltensweisen feststellen können – wie z.B. deutliches Schmunzeln nach dem ersten Löffel/der ersten Gabel, weil man auf einen Geschmack trifft, der es jahrzehntelang durch die Zeiten geschafft hat – wider alle Moden. So etwas ist immer eine Bereicherung und hat im übrigen für viele jüngere Gäste wohl auch schon wieder Neuigkeitswert. Dieser Geschmack sollte nicht verloren gehen.
Wunderbar geschrieben, dankeschön
In diesem Zusammenhang eine kurze Information für Sie: Voraussichtlich an diesem Wochenende (22.Juli 2017) wird die Gourmetbar Paul Bocuse im Kaufhaus des Westens in Berlin das letzte Mal für ihre Gäste da sein. Das Management des KadeWe hat die Schließung dieser seit Jahrzehnten erfolgreichen Bar ()neben einigen weiteren Ständen die etwas später schließen werden) beschlossen und wird die frei gewordenen Flächen an externe Unternehmen vermieten. Ein Anfang wurde bereits damit gemacht, dass man in der Delikatessen- und Feinschmeckerabteilung des größten Kaufhauses auf dem europäischen Kontinent, nun Pulled-Pork in Brötchen und gegrillte Spare-ribs bekommen kann (vom Interieur erinnert dieser Verzehrstand eher an eine Bretterbude in Neukölln als einen Stand im KadeWe).
Den Stammgästen wurde keinerlei Gehör geschenkt, Proteste blieben bis jetzt ohne Reaktion, die an dieser Bar bisher beschäftigten Mitarbeiter (die auch alle wechselnden saisonalen Karten selbst entwickelten) werden jetzt an andere Verzehrstände verteilt und ein erfolgreiches Team auseinanderrissen. Sehr, sehr bedauerlich…