Folge 4: Regio – Tapas. Der geniale Schlüssel
Vorbemerkung: Sehr viele deutsche Gäste in Restaurants mit bürgerlicher / traditioneller / regionaler Küche haben eine seltsame Angewohnheit. Sie bestellen meist nur ein Hauptgericht und zögern oft schon mit dem Bestellen einer Vorspeise. Das Hauptgericht sollte dann schnell serviert werden und eine große Portion sein. Man isst es ganz, auch wenn es viel zu viel ist, und bleibt danach bei einem Bier unter Umständen noch stundenlang sitzen. Dieses „deutsche Menü“ unterscheidet sich erheblich von den deutlich umfangreicheren und vielfältigeren Essgewohnheiten in anderen Ländern. Viele Gastronomen stöhnen angesichts dieser Verhaltensweisen, vor allem, weil es ihnen nicht gelingt, den Gästen auf diese Weise einmal andere, zusätzliche Gerichte vorzustellen. „Wir würden ja gerne etwas probieren, aber das wird uns dann zu viel“, heißt es oft dazu.
Vorgeschichte: Im Rahmen meiner mit hervorragenden Köchen zusammengestellten Spezialmenüs in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (wie z.B. die FAZ-Gourmetvision) habe ich vor einiger Zeit eine Reihe mit dem Titel „FAZ-Regio-Tapas“ realisiert. Die erste Folge entstand in enger Zusammenarbeit mit Christian Bareiss und Koch Sebastian Mülders von den „Bareiss Dorfstuben“ in Düsseldorf-Oberkassel. Der Erfolg war überragend. Die Gäste stürzten sich geradezu auf die regionalen Tapas, und bis heute haben die „Dorfstuben“ mit ihren Tapas in den Sommermonaten einen großen Erfolg. Auch die weiteren Folgen in anderen Restaurants (von Jörg Müller auf Sylt bis zu Reinauer / Retzbach in der „Jagstmühle“ in Mulfingen) waren große Erfolge. Es gab jeweils 7–8 Gänge für einen Preis meist unterhalb von 40 Euro.
Die Idee: Das Publikum deutscher Regionalküche ist durchaus nicht nur an seinen Lieblingsgerichten interessiert, sondern hat das Potential zu einer im gastronomischen Sinne positiven Veränderung der Essgewohnheiten. Zu diesem Zweck müssen alte Strukturen aufgebrochen werden, und das in einer vom kulinarischen Angebot wie von den Preisen her sofort überzeugenden Form. Die auf Tapas-Format verkleinerten Gerichte, und zwar in Menüs, die preislich höchst attraktiv sind, können das leisten – von einem reizvollen, wesentlich ins Degustative veränderten Ablauf des Essens einmal ganz abgesehen. Kulinarisch erzeugt die Konzentration auf wenige, aber effektive Elemente und Aromen in den einzelnen Tapas eine abwechslungsreiche Struktur, die unter guten Voraussetzungen genau das erreichen kann, was der Gast unter „einfach, aber genial“ versteht. Die Notwendigkeit der Konzentration auf das Wesentliche schafft nachvollziehbare, klare Akkorde (z.B. geräucherte Fisch mit Meerrettichsahne, Mini-Rouladen pur und ohne Beilagen, Himmel und Erde in Miniaturformat, Kalbskopfpraline), und das Gesamt-Menü erreicht auf diese Weise eine große Bandbreite verschiedener Aromen und Texturen. Wie heißt es bei Friedrich Schiller: „Der Mensch ist da ganz Mensch, wo er spielt.“ Ein Tapas-Menü hat etwas von diesem spielerischen Probieren und sehr viel von jener Leichtigkeit des Seins, die man im Zusammenhang mit Essen bei uns noch stark verbessern kann.
Geniale Beispiele für einzelne Tapas: „Weiderind-Roulade und gefüllte Kalbsbrust“ (Dorfstube, Düsseldorf), „Blätterteigstrudel vom Schwäbisch-Hällischen Schwein mit Senfsaatsauce“ und ein genialer „auf Rebholz geräucherter Bachsaibling mit seinem Kaviar, Selleriepüree und Nussbutter“ (Jagstmühle, Mulfingen), „Mit Tomaten und Kräutern gratinierte Sylter Blaumuscheln“ und „Mit Steinbuttbäckchen gefüllte Teigtaschen“ (Jörg Müller, Sylt), „Fricassè de Braconier (Wilderer)“ mit Kutteln, Schnecken, Bries, Wildschweinbratwurst und Spätzle (Spielweg, Munstertal), „bebackene Blutwurst und gebratene Entenleber mit Balsamicolinsen“ und „Geschmorte Böfflamott mit Wurzelgemüse und gebratener Semmelknödelscheibe“ (Jennerwein, Gmund am Tegernsee).
Es ist das Verdienst von Jürgen Dollase, nicht nur an der theoretischen Fundierung, strukturellen und sensorischen Weiterentwicklung der Gourmetküche ein gutes Wörtchen mitzureden, sondern mit den von ihm angestoßenen Regio-Tapas-Menüs auch den Fokus auf die leider vielfach ein Schattendasein fristende neue, elaborierte Regionalküche zu legen. In der Rückbesinnung auf regionale kulinarische Traditionen und ihre sensible Weiterentwicklung liegt ein großes Potenzial für Köche und Gäste. Aber auch für die Erhaltung und Fortentwicklung einer Küchenkultur, die hierzulande in Vergessenheit zu geraten droht, wenn man sich ihrer nicht annimmt. In Ländern wie Frankreich und Italien ist es selbstverständlich, das kulinarische Erbe zu pflegen und hochzuhalten. Bei uns leider weniger. Noch. Denn es tut sich einiges. Zum Beispiel mit diesen von Dollase initiierten Regio-Tapas-Menüs, die dem Gast die Chance geben, kulinarisch etwas mehr zu wagen und die Bandbreite dessen zu erschmecken, was ein Restaurant in Sachen Regionalküche auf der Pfanne hat. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist der Landgasthof Jagastmühle in der Genießerregion Hohenlohe, wo Hubert Retzbach und Markus Reinauer mit Herzblut und klassischem Handwerk eine ebenso bodenständige, ausgefeilte und behutsam kreative Regionalküche pflegen. Wer wissen will, wie das vorletzte Regio-Tapas-Menü ausgesehen hat, findet eine ausführliche Beschreibung im überaus lesenswerten Blog der Jagstmühle.
Nachzulesen hier: http://blog.jagstmuehle.de/details/id/125/
Das aktuelle Regio-Tapas-Menü: http://www.jagstmuehle.de/essen-trinken/regio-tapas-menue/
Wer mal in der Nähe weilt, dem sei ein Besuch in der Jagstmühle herdheiß empfohlen
Aus der Genießerregion Hohenlohe grüßt
Juergen Koch, Öhringen
Wir stimmen zu 100% zu. Seit wir vor etwa 2 Jahren die Speisekarte umgestellt haben, servieren wir fast ausschließlich 3 bis 5 „kleine“ regionale Gänge zu einem attraktiven Preis von 33 Euro für 3 Gänge, jeder weitere Gang 8 Euro. Die Gäste sind begeistert, sie entdecken immer wieder neues, Essen auch Dinge die Sie sonst vielleicht nicht bestellt hätten!
Auch unsere interne Kalkulation ist besser, da wir alles von unseren eigenen gezüchteten Wollschweinen und Kälbern verarbeiten können…
Liebe Grüße aus Unterammergau vom Dorfwirt Thomas & Brigitte Zwink