Kochbuch für die Doppel-Kopfesser

Es ist längst klar: der Kopf spielt beim Essen immer eine ganz wichtige Rolle. Allein schon bis wir uns etwas Essbares in den Mund stecken, realisieren wir – meist unbewusst – schon eine ganze Reihe von Prüfungen. Riecht es irgendwie „schräg“? Ist es zu schlabberig? Weicht die Form zu sehr von Bekanntem ab? Erst wenn diese individuelle „Zensur“, dieser Abgleich mit unseren Vorlieben oder „No-Gos“ erledigt ist, greifen wir zu. Bei Leuten, die vegetarisch oder vegan essen, kommt noch eine wichtige weitere Kopf-Aktion hinzu. Sie müssen überprüfen, ob das Essen auch wirklich zu ihrer kulinarischen Philosophie passt, oder ob sich am Ende irgendwo noch Tücken verbergen. Besonders Veganer werden da im normalen Warenangebot so ihre Schwierigkeiten bekommen.

Und als ob das nicht schon schwierig genug wäre, scheinen viele Vegetarier und Veganer noch ein anderes Problem zu haben: sie werden die Kindheitserinnerungen, die kulinarische Prägung nicht los und suchen anscheinend nach dem Geschmack ihrer kulinarischen Sozialisation, nach einem Essen, das einen assoziativen Kontext hat, der sie beim Essen genau so glücklich macht, wie alle anderen, die oft genug ausschließlich so essen, wie es schon immer gewohnt sind. So gesehen brauchen die Vegetarier und Veganer besonders viel Kopf rund ums Essen.

Timo Franke, der Autor des Buches, das ich heute hier rezensiere, drückt das so aus:

„Ich will mit meiner Art des Kochens Altbewährtes würdigen, gleichzeitig aber auch klassische Elemente mit ausgefallenen und radikalen Stilelementen verbinden, ohne dabei die Wurzeln der Gerichte zu drastisch zu verändern. …. Mit den klassischen Varianten möchte ich beweisen, dass die nicht-veganen Gerichte aus Omas Küche mühelos zu veganisieren sind. Sie sollen die gleichen Emotionen und Kindheitserinnerungen wecken, die wir wohl alle mit dem Gericht verbinden.“

Nun, da werden sich die vielen Firmen, die mit allen möglichen Tricks versuchen, jedes Fleischgericht und jede Wurst vegan zu machen, aber freuen – ist man versucht zu sagen. Hier erst einmal die Daten:

Timo Franke: Rustikal Radikal. Meine Vegane Küche. Ventil Verlag, Mainz 2021. 184 S., geb., Hardcover, 26,50 Euro

Das Buch
Obwohl die Rezepte bisweilen durchaus etwas kochtechnische Kenntnisse erfordern, scheint Timo Franke genau zu wissen, dass seine vegane Kundschaft noch etwas Nachhilfe und Grundlagen braucht. Nach Vorworten und Lebenslauf des „für einen Veganer“ auffällig korpulenten Kochs geht es zuerst an „Basics: Saucen“ und dann an „Basics: Grundrezepte“. Schon bei den Saucen fällt auf, dass es hier oft um Fleischersatz geht. Es gibt zum Beispiel die „Vegane Bratensoße“, eine „‘Speck‘ – Soße“, oder auch eine „Sauerbratensoße“. Die Grundrezepte haben dann weniger mit Fleisch zu tun, dafür aber sehr viel mit veganen Versionen klassischer Rezepturen. Hier gibt es z.B. „Vegane Spätzle“, Pizzateig, Kartoffelpüree, Selleriecreme, „vegane Vanillesoße“ oder die „Besten Fritten der Welt“. Grundzubereitungen, die vegane Gerichte als echte Alternativen mit einer eigenen geschmacklichen Ästhetik zeigen, wird man hier vergeblich suchen.

Der eigentliche Rezeptteil beginnt auf Seite 68 mit einem „Elsässer Flammkuchen“ in der Abteilung „Classics“. Es folgen die Abteilungen „Soupolaire“, „Geschmort und Gebraten“ und „Süsskram“. Zu den Grundprinzipien des Buches gehört, dass Franke den klassischen, veganisierten Versionen eine moderne, interpretierte gegenüberstellt.
Das sieht dann bei den Königsberger Klopsen so aus: Das Material der Klopse ist Sonnenblumen-Hack, die Aromatisierung erfolgt klassisch. Das gilt auch für die Soße, wobei man den Eindruck hat, dass hier mit relativ viel Würze, zusätzlich Intensität erzeugt wird. Das optische Ergebnis ist quasi identisch zu fleischlichen Varianten, der Geschmack wird angesichts der relativen Neutralität eines gemischten Fleisch-Hacks in den üblichen Versionen ganz ähnlich sein. Ein Veganer, der dieses Gericht isst, wird das Gefühl haben, ein klassisches Gericht zu essen.
Die moderne Version hat den Titel „Königsberger Klopse 2.0 in sämiger Zitronenverbene-Kapern-Sauce an im Salzteig gegarter Roter Rübe mit Petersilien-Kartoffelpüree gefüllt und im Ofen geschmorter Höri-Bülle-Zwiebel an Glacage von frittierten Kapern, Knoblauch und Zitrone“. Geschwollener könnte man es wirklich nicht ausdrücken. Wie dem auch sei: das Ergebnis ist eine Variante von in den klassischen Klopsen vorkommenden Elementen in Richtung einer deutlichen Rustikalität (siehe auch der Buchtitel). Wo man also ansonsten die Veganer eher im verdünnten, nicht unbedingt geschmacksintensiven Bereich wähnen könnte (solange nicht ostmediterrane Klischees im Spiel sind), gibt es hier eine kraftstrotzende Küche, die den Titel des Buches ohne weiteres rechtfertigt. Auch andere Kombinationen haben diesen Stil, zum Beispiel die „Auberginen-Matjes“, die man in einer veganen Version natürlich so marinieren muss, dass nicht weiter auffällt, dass es sich nicht um Matjesfilets, sondern um ein Stück Aubergine handelt. Die 2.0 – Versionen hat den Titel „Algen-Baba-Ganoush mit gebratener Aubergine auf Gurken-Granny-Smith-Creme und eingelegten roten Zwiebeln mit Homemade Fries“.

Die Fleisch-Ersatzrezepte in der Abteilung „Geschmort und Gebraten“ sind der eigentliche Grund für meine Bemerkungen in der Einleitung. Hier gibt es Paarungen wie den klassischen „Schwäbischen Zwiebelrostbraten mit grünen Bohnen und Bratkartoffeln“ (auf der Basis von Soja-Steaks) und das „Zwiebelsteak auf Kartoffel-Lauch-Stampf mit Bohnen-Cassoulette an Zwiebeljus“ (auch hier mit Soja-Steaks). Es gibt einen „Sellerie-Krustenbraten“ und „Geschmorte Sellerie mit Kräuter-Mandel-Kruste an Blaukraut-Tramezzini-Roulette mit Salted-Caramel-Biersoße“. Gulasch, Zürcher Geschnetzeltes und Sauerbraten (auf Seitan-Basis) folgen.

Fazit
Es wird viele Nicht-Veganer geben, die dieses Buch nicht als ernsthaften Versuch sehen, mit einer – sagen wir: spezifischen psychologisch-kulinarischen Ausgangssituation zurechtzukommen. Sie werden es als ein Buch sehen, mit dessen Hilfe die Nicht-Fleischesser trotzdem Fleisch essen können. Es ist ein wenig wie mit der Freiheit des Geistes und der Kirche: besteht die Sünde schon im Gedanken, oder ist erst die Tat entscheidend? Oder – ganz radikal formuliert – handelt es sich noch um Veganer, wenn sie Gerichte essen, die alles haben, was Fleischgerichte haben, nur eben kein Fleisch?

Der nächste Aspekt hat etwas damit zu tun, dass sich rund um Vegetarismus und Veganer selten eine kulinarische Konsequenz entfaltet, die bewusst auch auf den assoziativen Kontext verzichtet, sondern eine eigene geschmackliche Ästhetik sucht. Timo Franke versucht das mit bei aller Rustikalität durchaus modern wirkenden 2.0-Versionen, die aber immer noch von Inkonsequenz bestimmt sind: es wird die Befreiung von den Veganisierungen gesucht, aber eben immer noch innerhalb des nicht-veganen Spektrums.

Das Buch ist also am Ende des Tages nicht schlecht, insofern können viele Leute mit diesen Rezepten sicher auch etwas anfangen. Aber – es ist noch ein Buch in einer Phase, die wir hoffentlich irgendwann einmal als eine Zwischenphase, als eine Phase der Loslösung der Vegetarier und Veganer von den alten Geschmacksklischees bezeichnen werden.
Die Rustikalität vieler Gerichte von Timo Franke dagegen könnte man sich auch in einem von allen Klischees befreiten Umfeld vorstellen.

Das Buch bekommt 1 grünes B

Fotos © Ventil Verlag

2 Gedanken zu „Kochbuch für die Doppel-Kopfesser“

  1. Danke Jürgen Dollase für die treffliche Beschreibung der angestrengten Versuche, ein klassisches Fleischgericht mit aller Macht in ein veganes Gericht zu verwandeln.
    Bei allem Respekt vor allen Veganern verstehe ich bis heute nicht, warum ein Mensch, der für sich entschieden hat, kein Fleisch, niemals mehr Fleisch und niemals mehr ein Lebensmittel von tierischem Ursprung zu essen, unbedingt ein klassisches Fleischgericht in ein veganes Gericht umgewandelt haben möchte und dabei bereit ist, sich der industriellen Hexenküche mit alle ihren Tricks und Chemikalien auszusetzen. Für mich isst ein Veganer Gemüse, Obst, Hülsenfrüchte, Ceralien und pflanzliche Fette …. fertig! Und eben keine (vegane) Currywurst, Leberwurst und was sonst noch.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar