Es war schon immer so, dass sich manche Gäste vor allem der Gourmetküche in ihrem Genuss gestört fühlten, wenn die Tiere, deren Teile sie essen, allzu konkret zu erkennen sind. Das passt zu einem Trend, den mir einmal ein großer deutscher Versender von Gourmetfleisch erklärt hat, als ich ihn fragte, warum er denn die diversen Rücken nur als völlig versäuberte Stränge ohne auch nur einen Hauch von Fett anbietet. Die Leute wollten das so, war seine Antwort. Viele Köche wissen, dass zum Beispiel Lammrücken aus dem vorderen Bereich mit voller Fettdecke kaum zu verkaufen sind, und eine Taube mit Füßen zu servieren fast schon eine Garantie dafür, dass man das Gericht in dieser Form nicht lange auf der Karte halten kann. Als besonders problematisch gilt die klassisch zubereitete und servierte Schnepfe, die ja zum Beispiel nicht nur in allen Teilen auf dem Teller auftaucht, sondern in der Regel auch noch mit halbiertem Kopf, neben dem gerne ein kleines Löffelchen liegt, um das Hirn aus dem Kopf zu nehmen, das als große Delikatesse gilt und tatsächlich auch sehr gut schmeckt. Mit in diesen Problemkomplex gehören natürlich auch diverse Innereien, zum Beispiel Hirn, selbst wenn man es – wie traditionell gerne gemacht – auch noch mit Rührei vermischt und dann definitiv nicht mehr schmecken kann, dass es sich um Hirn handelt. Grenzwertig werden auch Innereien etwa vom Pferd, die ich einmal in kompletter Breite in Purbach bei Max Stiegl bekommen habe, darunter auch ein Carpaccio vom Pferdehirn usw. usf.
Dass das Problem der Esser „zwischen den Ohren“ liegt und nicht primär geschmacklich motiviert ist, ist weitgehend klar. Immer wieder erzählen Köche, dass man besser keinen Kalbskopf o.ä. auf die Karte setzen sollte, dass aber gleichzeitig etwa eine ausgebackene „Kalbskopfpraline“, von der die Gäste nicht wissen, was es ist, sehr gerne und problemlos gegessen wird. Fest steht aber, dass rund um das Essen die Verdrängung der Tatsache, dass da Tiere getötet werden weit verbreitet ist. Wer mit dem Töten von Tieren zwecks Verwendung als Nahrungsmittel aufgewachsen ist, hat meist keinerlei Probleme. Und bei Allen, die teilweise aggressiv gegen das Töten von Tieren vorgehen, fehlt oft ein entscheidender Reflex, nämlich das Nachdenken darüber, wieso sie überhaupt auf die Idee kommen, dass an dieser Sache, die die Menschheit seit Anbeginn begleitet, etwas grundsätzlich falsch sein könnte. Wer der Lebensmittelproduktion völlig entfremdet ist, kann schnell eine große Distanz bekommen.
Foto: Ilya Kagan
Wie dem auch sei: das Bild von dieser gefüllten Taube (im Original: „Pigeon farci à la saucisse de Morteau et aux champignons Portobello“) hat auch mich als wirklich Alles essenden Spezialisten berührt, und das so, dass ich der Meinung bin, dass dort Grenzen überschritten werden. Das Rezept stammt aus einem gar nicht so schlechten Kochbuch eines Kochs aus dem französischen Jura:
Matthias Marc: IN SITU. Recettes signature d’un cuisinier du massif Jurassien. Éditions du chêne/Hachette Livre, Paris 2023. 191 S., geb. Hardcover. Fotos: Ilya Kagan
Wir sehen eine Taube, die – wie oben schon angesprochen – mit Beinen und Kopf gegart (was nicht ungewöhnlich ist) und serviert wird (was deutlich ungewöhnlicher ist). Für diesen Teil gelten die oben angeführten Dinge. Das ist aber nicht alles. Das Bild zeigt die Taube in einer gewissen aggressiven Art – sie sieht „sehr tot“ aus, fast schon mumifiziert mit den geschrumpften Muskeln. Man kann davon ausgehen, dass das Foto wiedergibt, was auch serviert wird. Laut Rezept wird die Karkasse (kulinarisch: eine Ballotine) jedenfalls am Tisch aufgeschnitten. Wie auch immer: wegen der Einlagerung eines Eies im Körper wird sich kaum jemand sofort mit den geschmacklichen Aspekten befassen, sondern seinen visuellen Eindruck verarbeiten. Es wird also in den Bereich des assoziativen Kontextes gehen, der – wie ich seit der Einführung dieses Begriffes immer wieder betone – eben nicht nur für positive Emotionen rund ums Essen steht, sondern für Alles, was sich da abspielen kann. Das Bild vermittelt durch die Tatsache, dass man in einen Bauchraum mit einem angeschnittenen Ei blickt, einen sehr aggressiven Eindruck. Das Aufschneiden allein ist es nicht, weil das Aufschneiden von Zubereitungen völlig normal ist. Hier geht es aber um das Aufschneiden eines kompletten Körpers, der durch das Ei einen enormen „Realitätsgewinn“ erzielt: es wirkt ein wenig so, als habe man einen lebenden Körper aufgeschnitten und – zur großen Überraschung – ein Ei vorgefunden. Dass das Ei natürlich gegart ist und ein in einem Körper vorhandenes Ei normalerweise durch einen Anschnitt zerstört würde und keineswegs so aussieht, wie das gegarte, spielt kaum eine Rolle. Unsere Assoziationen verknüpfen hier das Aufschneiden eines Körpers und das Vorfinden eines Symbols für neues Leben. Extrem gesprochen: hier wurde eine Schwangere aufgeschnitten. Wohlgemerkt: ich verfolge nur den assoziativen Kontext und gebe Eindrücke her, die Leute geschildert haben, denen ich das Bild gezeigt habe. Wir müssen davon ausgehen, dass die Wirkung unterschwellig viel von diesem assoziativen Automatismus hat.
Das Rezept als solches wird gut schmecken. Die Füllung einer Taubenbrust mit einem Brät einer mild-würzigen Wurst etc. ist ein kulinarisch normales Verfahren, und die Beigabe eines Eies geschmacklich ebenfalls völlig unproblematisch. Das Servieren – siehe oben und in meinem beiliegenden FAZ-Text – eines erkennbaren Tieres ist die eine Sache und sie hat je nach Sehweise durchaus positive Aspekte, weil sie den Esser nicht zur Verdrängung auffordert, sondern ihn die Realität erkennen lässt. In traditionellen Formen der Küche hat diese Präsentationsform sogar eine ganz normale Funktion und durchaus keine demonstrative. Auch heute noch sind entsprechende Gerichte meist ohne jede assoziative Aufladung gedacht. Es ist die Frage, ob der Koch hier zu weit geht und einen Mechanismus zerstört, der den Menschen rund ums Essen normalerweise wohlig genießen lässt. Ist er zu nahe an der Realität? Obwohl es realiter dieses Bild kaum geben könnte? Ich persönlich möchte mich da nicht festlegen – auch weil ich als Profi das Gericht in jedem Falle essen würde. Aber es kann sein, dass Kochkunst aus verschiedenen Gründen auch einmal so über das Ziel hinausschießt, dass es kontraproduktiv ist. Zum Zeitpunkt des Abfassens dieses Textes kenne ich die Reaktionen der Leser auf das Bild ja noch nicht. Ich rechne mit sehr kontroversen Statements.
Für Leute, die auch etwas dichtere Texte lesen, füge ich einen meiner Texte aus meiner FAZ-Feuilleton-Geschmackssache bei. Ich bin dort keinem Thema aus dem Weg gegangen und habe das Problem mit dem „Tod auf dem Teller“ direkt und ohne Umschweife thematisiert.
Der Tod auf dem Teller. Veröffentlicht in meiner Kolumne „Geschmackssache“ im Feuilleton der FAZ in der Karwoche 2004
Weil vor allem die Psyche mitisst, installieren wir beim Essen mehr und mehr halb-tabuisierte Grauzonen – mit erheblichen Auswirkungen auf unserVerhalten und die kulinarische Landschaft. Wie wäre die Wirkung folgender Szenen? In einem modernen Restaurant mit Projektionen an den Wänden naht als Hauptgang eine Lammvariation. Die Bilder zeigen eine Wiese mit Schafen, Blumen und Lämmern. Die Gäste beginnen zu essen und plötzlich erscheinenSzenen vom Zerlegen eines geschlachteten Tieres. Wäre das erträglich? Oder : als Ort für ein festliches Essen wird – wie eine Variante des beliebten „Chefs table“,bei dem man den Koch bei der Zubereitung des Essens beobachten kann – die Eingangshalle eines Schlachthofes gewählt, voll in Betrieb, mit Rindern, die nach einem finalen Stromstoß noch zucken. Würde das nicht einen Skandal geben und würde nicht das Wort „pervers“ fallen, obwohl hier nichts anderes passiert, als die Zusammenführung dessen, was der Kopf immer trennt?
Der an Fleisch in optisch neutralisierter Form gewöhnte Mensch hat sich an eine amorphe, wohlschmeckende Masse gewöhnt, die meist keinerlei Rückschluss über ihre Herkunft zulässt. Jeder Koch weiß, dass die Schwierigkeiten mit den Gästen meist dann beginnen, wenn der Zusammenhang mit der Natur zu deutlich wird und das Tier konkret erkennbar ist (ganze Tiere, komplette Innereien, die lebende Auster, der Kalbskopf oder die Schnepfe, wie üblich mit Kopf und Schnabel serviert). Jeder Koch weiß auch, dass der Mensch wesentlich toleranter ist, wenn es nur um den Geschmack geht, das eigentliche Objekt also optisch verschleiert wird (eine Frikadelle von Kalbshirn und Kalbsbries). Die moderne Arbeitsteiligkeit des kulinarischen Produktionsprozesses lässt Zusammenhänge mittlerweile so weit im Dunkeln, dass ein Großteil der „zivilisierten“ Welt wohl nie das Schlachten eines Tieres mitbekommen, geschweige denn selber Hand angelegt hat. Diese Entfremdung vom Produktionsprozess provoziert natürlich eine ästhetische Umbewertung des gesamten Komplexes und fördert nachhaltig alle weltanschaulichen Modelle, die die reaktive Abneigung in ein aktives, widerspruchsfreies Weltbild umwandeln. Unabhängig davon, ob weltanschauliche Fragen ideologisch oder als Teil eines eher liberal-rückgekoppelten (kantschen) Verständnisses gesehen werden, scheint es angeraten, das Problem etwas tiefer zu hängen und stärker die Auswirkungen der individuellen Sozialisation zu beachten.
Der Hinweis auf Kleinkinder, die weder Ess-Tabus noch Ess-Ekel kennen oder auf die vielen Naturvölker mag unter dem Aspekt des „Noch-nicht-Zivilisierten“ leicht von der Hand gewiesen werden. Aufschlussreicher sind da schon die Beispiele aus der Mitte unserer Gesellschaft. Alle die, die selbstverständlich mit dem Töten von Tieren zu tun haben, also vor allem Produzenten und Verarbeiter, haben in der Regel kaum Probleme damit. Dort jedoch, wo der im System der Arbeitsteiligkeit entfremdet gewordene Blick den Tieren anthropomorphe Eigenschaften zugeschrieben hat, wird die Suche nach einem Weg aus dem Konflikt mit deren Doppelfunktion als „Nutztier“ und „Haustier“ scheinbar unausweichlich. Aber weder die Ideologisierung des Fleischverzichtes noch die Verdrängung realer Zusammenhänge haben wirklich die Aura der Zivilisiertheit. Deren Hauptcharakteristik ist die Erkenntnis des Widerspruchs und das bestmögliche Leben damit. Die verhängnisvolle Sucht nach Widerspruchsfreiheit ist auch in diesem Falle nicht geeignet, die Realität zum allgemeinen wie individuellen Nutzen zu sortieren. Die Psychologie weiß, dass die übersensibilisierte Unfähigkeit, die Fülle von oft widersprüchlichen Informationen zu verarbeiten, in pathologische Zustände führen kann.
In unserem Falle eröffnet sich ein wirres Feld von Widersprüchlichkeiten. Die Trennung zwischen „Tieren mit Gesicht“ (die Paul McCartney nicht essen kann) und solchen ohne läuft fatal auf eine Unterteilung von wertem und unwertem Tierleben hinaus. Da mag jemand ein Kaninchen nicht essen, weil es ihn an seine Katze erinnert, während er fröhlich in der Bretagne dem Fisch zuspricht – zumindest solange er nicht mit seinen Kindern in entsprechenden (anthropomorph angelegten) Zeichentrickfilmen war. Und wie ist das mit der Ameisenmutter, die auf dem ersten Frühlingsspaziergang mit ihrer Tochter unter die Gesundheitsschuhe des Sprosses einer Tierschützerin gerät ? Oder mit den hospitalisierten Geschöpfen im Tierpark, die jeden Hunde- und Katzenliebhaber in Depressionen fallen lassen – und das in einer Gesellschaft am Rande der Entwicklung zum die Rente finanzierenden „Nutzkind“?
Man kommt fast zwangsläufig über das Bild des Menschen vom Tier zum Menschen selber. Es wäre gut, wenn einmal die Lebenskonzepte allgemein weniger auf Fraktionierung und Profilierung konzentriert wären und statt dessen deren Komplettierung betrieben würde. Die allerdings ist zu einem wesentlichen Teil Ausgleich der Sozialisationsdefizite – und zwar ganz und gar nicht schichtspezifisch (das alte Klischee), sondern individuell verstanden und damit sofort in allen Schichten der Gesellschaft lokalisierbar. Eine reflektierte Sozialisation könnte in der Gourmandise zu einer erheblichen Befreiuung des Individuums von den wie selbstverständlich hingenommenen (und in der Regel sozial problemlos akzeptierten) Sozialisationsdefiziten bedeuten und damit wahrscheinlich eher zu Konsens führen, als jede Ideologisierung.
Auf diesem Wege muß der kirchliche Begriff der „Mitgeschöpflichkeit“ eine Rolle spielen, aber auch Details wie die aus der Nicht-Verdrängung eigentlich zwangsläufig resultierende Verbesserung der Zuchtbedingungen, das selbstverständliche Nutzen kompletter Tiere (und nicht nur der „abstrakten“ Filets) mit allen Teilen und Innereien, die Einräumung eines gewissen zeitlichen Lebensraumes durch Verzicht auf in seinem kulinarischen Nutzen durchaus umstrittenen Fleisches von sehr jungen Tieren (Milchlamm, Milchkalb etc.), die Entbürokratisierung des Schlachtens durch die Rücknahme von Verordnungen, die aus übertriebenem Hygieneverständnis qualvolle Tiertransporte erzwingen und viele andere tierschützerische Aspekte mehr. Dem bewussten – nicht „befreiten“ ! – Gaumen winkt eine Palette der Geschmackserlebnisse, die die mittlerweile engen Grenzen gerade der besseren Gastronomie weit überschreitet, und die verstärkte Hinwendung zu natürlichen Zusammenhängen sollte ein selbstverständlicher Gegenpol zur Kultur der kulinarischen Camouflage vom Hamburger bis zur Fischfrikadelle werden. Im Grunde reden wir von einer Wiedererlangung der subjektiven, kulinarischen Souveränität.
„Und bei Allen, die teilweise aggressiv gegen das Töten von Tieren vorgehen, fehlt oft ein entscheidender Reflex, nämlich das Nachdenken darüber, wieso sie überhaupt auf die Idee kommen, dass an dieser Sache, die die Menschheit seit Anbeginn begleitet, etwas grundsätzlich falsch sein könnte.“
Diesen Satz verstehe ich nicht ganz. Es gibt eine ganze Menge an menschlichen Phänomenen, welche die die Menschheit seit Anbeginn begleiten. Krieg, Mord und Vergewaltigung sind so alt wie die Menschheit selbst, dennoch fragen wir uns nicht wie wir auf die Idee kommen das abzulehnen.
Dem kann ich mich nur anschliessen.
Die Vermenschlichungstendenz von Tieren kulminiert in der Installation von Hunden (und Katzen) als Bezugsperson und vor allem als Kindersatz. Die daraus resultierende emotionale Tiefe trägt auch zur Entstehung des massiven Ablehnungsreflexes bei, besonders wenn es sich um Jungtiere handelt. Interessant ist es auch zu sehen, wie sich die eigene persönliche Befindlichkeit zu diesem Thema über die Jahre unter dem Einfluss des Zeitgeistes wandelt. Ob es wirklich die Art des Tötens ist? Ich habe als Kind noch Hausschlachtungen erlebt; heute würde man es als „traumatisches“ Erlebnis bezeichnen, und ich habe doch weiter Fleisch gegessen. Was den assoziativen Kontext am meisten beeinflusst: It‘s the Zeitgeist, stupid.
In anderen Kulturkreisen, in denen ich mich immer wieder bewegen darf, stellt sich die Problematik kaum. Dort wäre wohl auch die Bezeichnung „Schwangere Taube“, von Herrn Dollase auf Facebook zur Diskussion gestellt, völlig unproblematisch, würde als humorvoll gewertet (und das war eigentlich auch meine persönliche Reaktion). Die Vermenschlichung, teilweise sogar Vergötzung (Tiere stehen moralisch über Jägern) ausgedehnter Teile der Tierwelt, vor allem in Deutschland und im angelsächsischen Kulturraum, findet kaum eine Entsprechung im Rest der Welt (abgesehen von Kulten). Der Zeitgeist als Symptom der „Umwertung aller Werte“ im potentiellen Endstadium.
..nach Indien haben sie es aber ganz offensichtlich noch nie geschafft.
Spoiler für unterkomplexe möchtegern Philosophen wie sie: Da gab und gibt gibt es auch keine „Grünen“, die ganz hinterrücks die Umwertung aller Werte betrieben haben.
Und was waren das eigentlich für Werte, die von dieser schrecklichen Umwertung betroffen sind: 50 Millionen Kriegstote, 7 Millionen umgebrachte Juden, Vergewaltigung in der Ehe scheiss drauf, Euthanasie für kranke?
Ein ganz mieser Beitrag ihrerseits. Und ihnen scheint auch entgangen zu sein: keiner hat sich offensichtlich über diese Taube aufgeregt…auch wenn sich Dollase das vermutlich von ganzem Herzen gewünscht hätte.
Sie sollten vielleicht den journalistischen Ansatz meiner Texte besser verstehen. Ich äußere keinerlei persönliche Meinung, sondern greife ein Thema auf.
„Und bei Allen, die teilweise aggressiv gegen das Töten von Tieren vorgehen, fehlt oft ein entscheidender Reflex, nämlich das Nachdenken darüber, wieso sie überhaupt auf die Idee kommen, dass an dieser Sache, die die Menschheit seit Anbeginn begleitet, etwas grundsätzlich falsch sein könnte.“
Darauf lässt diese Textstelle leider nicht schliessen. Und wie weiter oben bereits jemand richtig geschrieben hat, ist dieser Satz alles andere als durchdacht. Etwas als unumstösslich richtig zu evaluieren, nur weil es Gewohnheit oder Usus ist, finde ich jedenfalls eher komplett unsinnig. Vermutlich ganz reflexhaft einfach zu wenig nachgedacht?
Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass eine Gesellschaft die wie wir – die trotz aller vermeintlicher Aufgeklärtheit und angeblicher „wokness“ – in größten Teilen immer noch überhaupt kein Problem damit hat, dass Tiere zum eigenen Vorteil gequält und misshandelt werden (und nichts Anderes tut die industrielle Fleischerzeugung), richtig kanalisiert irgendwann auch wieder keine Probleme damit haben wird, entsprechen mit „anderen“ Menschen so umzugehen.
Das Eis ist sehr dünn, wie man in den letzten Monaten leider feststellen kann.
Lieber Herr Dollase, ich möchte auf diesen Aspekt von Ihnen eingehen: „Und bei Allen, die teilweise aggressiv gegen das Töten von Tieren vorgehen, fehlt oft ein entscheidender Reflex, nämlich das Nachdenken darüber, wieso sie überhaupt auf die Idee kommen, dass an dieser Sache, die die Menschheit seit Anbeginn begleitet, etwas grundsätzlich falsch sein könnte.“
Meine Reflektion, kein Fleisch mehr zu essen, war eine andere: Angst ist Angst, Leid ist Leid, Schmerz ist Schmerz. Egal, bei welchem Lebewesen.
Und wir sind heute in der glücklichen Lage, auch ohne das Töten von anderen Lebewesen zufrieden und kulinarisch wertvoll satt zu werden. Wer einmal das vegetarische Menü bei Amador genießen durfte, wird mir beipflichten können. Aber die Entscheidung liegt in jedem selbst. Aggressiv darauf zu dringen, erzeugt wiederum Leid, Angst und Schmerz.
Bizarr-voyeuristisch gruselig-mahnende Leichenöffnung nach Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen … krank degenerierte Nicht-Ästhetik!
Tiere auf dem Teller sind nun einmal gegarte Leichen(teile). Das macht der Teller drastisch klar und zieht jenen Vorhang zur Seite, der den Kalbskopf von der Kalbspraline trennt. Ich empfehle allen Fleischfressern, zu denen ich mich auch zähle, mal einen Schlachthof zu besuchen. Mir gewährte man bei Tönnies mal einen insofern privilegierten Einblick, als ich mir den Workflow von Anlieferung bis unter Schutzgas verpacktem Hackepeter nicht zehn Minuten von der verglasten Galerie sondern zwei Stunden aus nächster Nähe anschauen durfte. Es ist ein Dilemma. Dass das nun jenen vor Augen geführt wird, die dieses „Treblinka für Tiere“ nicht besuchen, sondern die von diesem Prozess entfremdete Produkte als Leichenteile drapiert serviert bekommen, halte ich für einen erfreulich-erkenntnisstiftenden (weil: mehr Fragen als Antworten) Wirklichkeitskontakt. Reflexiv, im übrigen. Denn die Ablehnung des Arrangements spiegelt ja nichts anderes als die Ablehnung des so verdeutlichen Prozesses.
Tiere auf dem Teller sind nun einmal gegarte Leichen(teile). Das macht das Arrangement erkenntnisstiftend drastisch deutlich. Das womöglich Unschöne daran ist allerdings jener Prozess, der genau diese Erkenntnis bislang hinter brav-entfremdender Gestaltung vor uns verdeckte. Das führt zu intuitiver Abwehr, statt zu konstruktiver Auseinandersetzung. Nicht zuletzt deshalb, weil man mit der Nase darauf gestoßen wird, dass dieses nur als Beispiel für Vieles steht – auch außerhalb des Tellers
Danke für Ihre Beiträge. Gruß JD
Das Gericht und die Wirkung desselben auf Sie sind typisch für das Groteske. Lektüretipp hierzu: Fuß, Peter. Das Groteske: Ein Medium des kulturellen Wandels. Köln: Böhlau, 2001.
Es fallen beim Taubenbild zwei Dinge in eins: Essen und Skulptur, bzw. ein Foto von ihr. Ein Teller à la Joel-Peter Witkin. Isst man das im Dunkeln, wird das eben nur Geschmack, Textur, Temperatur … sein. Eine Kombination, die man ähnlich auch bei nicht-anthropomorphen Gestaltung („aggressiv“ ist mir zu wenig analytisch, weil zu vieldeutig) hinbekommen kann. Also steht hier die Gestalt im Vordergrund, die einerseits allerhand aus der Kunstgeschichte ver-körpert (bis zum Angelus novus, oder, noch am deutlichsten, Kreuzigung), andererseits als gelungene Provokation einen Schock auslöst, den ich beim Anblick und auslöffeln des Schnepfenhirns aus deren gespaltenem Kopf – nur echt mit Schnabel! – bei Fergus Henderson in nur gedämpfter Form empfand.
Es sind ja nicht die eher konventionellen Zutaten, die provozieren, sondern ihr Arrangement. Insofern sehe ich hier nur auf den ersten Blick ekliges Foodporn auf dem Teller, wobei die Assoziationen bis zur Anthropophagie reichen. Auf den zweiten Blick aber beginnt doch ein anregendes Gedankenspiel. Etwa darüber, wieviel Gewalt im Gewöhnlichen steckt. Über die Grenze von Hinguck-Lust und Scham zugleich darüber. Über die Möglichkeiten dessen, was wir uns in jeder Hinsicht einverleiben, was wir vertilgen und dadurch besitzen können.
Ein wirklich komplettes Spanferkel (mit Augen und Apfel in der Schnauze, gesehen beim Schützenfest in Waddeweitz) am Drehspieß oder ein mit heißen Steinen in der Milchkanne gegartes, abgezogenes Murmeltier geht optisch auch in die Richtung, trifft aber nicht so tief, da hier dem natürlich-notwendigen kein Überbau hinzugefügt wurde.
Apropos: Der Valentinstag wird uns ja wieder mit Nachbildungen aus Gynäk- und Urologie auf dem Teller versorgen. (In Shanghai bestellte mir wer mal Schweinepenis als Überraschung, hätte ich nun nicht direkt den Jieper drauf gehabt.)
Da finde ich das Taubenopfer – im Vergleich zu diesen Valentins-Vermösungen – schon eher zur Hochkultur gehörig. Und wie bei dieser: nachdenkenswert, muss aber nicht jeden Tag sein. Und verlebt als Masche sich zügig.
Danke, lieber Jürgen Dollase, dass Sie dieses nicht einfache Denkbild vorstellten!
Mahlzeit: Nils
Das war eine Zeit, als so etwas von der FAZ noch angefordert, akzeptiert und gedruckt wurde. Heute gibt es in der FA*S* kulinarische Schonkost ohne Anspruch noch Strenge (eindampfbar auf ein ‚“war lecker“), und in der FA*Z* selbstverliebt-verschmocketes Gestrobele aus der Sierra, mit abgespreiztem kleinem Finger und auf der Glatze gedrehten Locken (was der S. y S. halt für „Feuilleton“ hält), aber ohne den Anspruch und den Tiefgang von Dollase. Verfall einer Zeitung?
Es wäre schön (ist aber vermutlich zuviel verlangt), wenn wenigstens die kulinarische Berichterstattung dieses Blattes sich noch um Kultur bemühen würde.
Wenden Się sich bitte an das FAZ-Feuilleton z.H. Herrn Kaube